Ferne Nähe

Tsibi

Mitglied
Verzweifelt schlage ich wieder und wieder gegen die Scheibe. Schon lange ist die Haut an meinen Fäusten aufgeplatzt und das Blut tropft auf den glatten Boden und bildet dort eine Pfütze. An der Scheibe hinterlässt meine Raserei rote Gemälde. Vereinzelt wurden Bahnen gezogen, welche die Flüssigkeit folgt, um sich mit ihresgleichen auf dem Boden wieder zu vereinen. Als würde es meinen Körper verlassen, nur um dann ein Eigenleben zu entwickeln und einen eigenen Organismus zu bilden. Doch so oft ich auch zuschlage, die Wand vor mir wankt nicht. Sie erzittert nicht einmal unter meiner Kraft. Stattdessen verspottet sie still und standhaft mein Tun und lässt nicht zu, dass sich die Vergeblichkeit meiner Handlungen vergessen kann.

Irgendwann schleicht sich die Erschöpfung in meine Glieder, meine Bewegungen werden immer langsamer und schließlich kann ich meinen Körper nicht mehr aufrecht halten. Ich versuche noch, mich am Glas zu stützen, doch ich rutsche nur minimal langsamer zu Boden. Dort angekommen krümme ich mich zusammen und meine Tränen lassen sich nicht mehr zurückhalten. Für den Schmerz an meiner Hand bin ich unempfindlich, er ist nicht mehr als ein Tropfen im großen Ozean meines Leids. Ein Staubkorn im Universum. Außerdem wird es nicht allzu lange dauern, bis meine Hand wieder in ihren vorherigen Zustand zurückkehren wird. Warum nur? Warum muss ich so leiden? Was habe ich getan, um das zu verdienen? Bitte, lass es doch endlich ein Ende haben. Ich werde alles tun! Alles! Nur bitte lasst mich zu ihr. Zu meiner großen Liebe. Sie, die auf der anderen Seite der Scheibe lebt. Es zerreißt mein Herz, wenn ich sehen muss, wie meine Abwesenheit sie niederringt und verzweifeln lässt. Wir gehören zusammen. Wir sind eins. Und doch sind wir getrennt. Ich kann nicht zu ihr, um sie zu trösten. Ich kann sie nicht wissen lassen, dass ich hier bin. Wenn ich wenigstens das tun könnte. Damit sie nicht vom Kummer ertränkt wird. Doch es bleibt mir verwehrt. Sie weiß nichts, auch wenn sie immer noch an mich zu glauben scheint, denn sie kann nicht loslassen. Sie hat keine Gewissheit und doch ist sie sich sicher. Wie recht sie doch hat. Aber ich kann sie nicht erreichen. Diese verdammte, elendige Wand trennt uns. Eine Scheibe, ein Glas, das es nur mir ermöglicht, sie sehen zu können, ohne ihr eine Nachricht zukommen zu lassen. Eine absolute Trennlinie zwischen uns, die aber doch nicht endgültig ist. Warum? Warum können wir nicht zusammen sein? Wir sind uns doch so nah! So verdammt nah! Aber wir könnten uns nicht ferner sein. Ich vermisse sie so sehr! Und meine Liebe vermisst mich. Sie hat die Qual der Ungewissheit und ich habe die Qual der Unerreichbarkeit. Ich kann nicht sagen, wie lange wir diese Tortur bereits ertragen haben und wer weiß, wie lange sie noch fortdauern wird. Vielleicht bis an das Ende aller Tage. Nein! Nein, das werde ich nicht zulassen! Ich werde einen Weg finden, solange es auch dauern mag, was auch immer der Preis sein wird. Wir werden ganz sicher wieder vereint sein!

Aber es gäbe nichts, was ich mir mehr wünschen würde, als dass dieser Augenblick bereits jetzt sei. Doch diese Gnade wird uns nicht zuteil. Stattdessen sehnen wir uns nach einander. Wie eine sich aufbauende Welle eines Tsunami droht auch unser Sehnen uns mit sich zu reißen. Meine grausigen Gemälde sind Zeugen davon. Ich wische die verbliebenen Tränen aus meinen Augen und bereits jetzt ist meine Hand wieder verheilt. Es spielt keine Bedeutung, was ich tue, ich kann nicht sterben, ich kann mir keine bleibenden Schäden zufügen. Alles kehrt wieder in seinen Ursprungszustand zurück. Ich weiß es. Ich habe bereits viele Dinge versucht. In meiner Verzweiflung auch den einfachsten Ausweg. Mehrfach, wenn mich das Gefühl, dass es einfacher ist, aus dem Tod heraus wieder mit meiner Liebe vereint zu sein, als dass ich diesem Gefängnis auf anderer Weise entkommen kann. Aber egal, was ich getan habe, es brachte nichts. Nur Schmerz, Verzweiflung und die Gewissheit, dass ich für eine weitere Weile nicht in der Lage sein würde, mit meiner Liebe vereint zu sein.

Dieses Gefühl, das sich auch jetzt in mir breit gemacht hat, ist das schlimmste von allen. Manchmal gelingt es mir, es zu unterdrücken, aber meistens hält es nicht für lange. Dafür wird schon gesorgt, da ich hier nichts anderes tun kann, als meine Liebe zu betrachten, während sie leidet. Es fühlt sich an, als hätte man ein Teil aus mir gerissen und dieses Teil würde alles enthalten, was mir wichtig ist. Mein Sinn und Zweck, den ich bereits gefunden hatte, wurde mir genommen und gerade außerhalb meiner Reichweite platziert. Ich bin unvollständig, aber ich weiß, wie wundervoll es sich anfühlt, vollständig zu sein. Es tut so sehr weh, da ich wahre Glückseligkeit kenne. Trotzdem würde ich niemals meine Erfahrungen und meine Gefühle für die stille Segnung des Vergessens hergeben. Selbst meine versuchten Selbstmorde waren nur ein Weg, um diesem Kerker zu entkommen und zu meiner Liebe zurückzukehren. Ich fürchte den Tod und was danach kommt weniger als dieses Gefängnis. Wenigstens hätte ich dann das Gefühl, etwas verändern zu können.

Bitte, lass uns doch endlich wieder vereint sein. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalten kann, von meiner Liebe getrennt zu sein. Ich weiß nicht, wie lange sie es noch aushalten kann. Oder wie lange es noch dauert, bis wir dem Wahnsinn anheimfallen. Vielleicht wäre das auch ein Ausweg auf seine ganz eigene Weise?

Doch schnell wird dieser Gedanke zerstreut. Meine Liebe hat sich der Scheibe, welche für sie eine einfache Wand ist, genährt und legt ihre Hand auf diese. Sie weiß nicht, dass ich direkt vor ihr stehe, trotzdem zieht es sie hierher. Ich tue es ihr gleich und auch unsere Stirnen würden sich auf andächtige Weise berühren, wenn uns nicht diese Wand trennen würde. Es tut so weh. Aber wir werden wieder vereint sein. Ganz sicher.
 



 
Oben Unten