Arno Abendschön
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Es war der Morgen der Abreise, ich packte die letzten Sachen ein. Dabei fiel mein Blick aus dem Fenster. Im Nachbargarten stand ein kleiner Junge, den ich bis dahin noch nicht gesehen hatte. Seine Gesichtszüge fremdartig, die Haut etwas dunkler als bei den meisten hierzulande. Er kann vom Mittelmeer kommen, dachte ich.
Das Kind sah in den wolkenverhangenen Himmel und hob beide Hände. Es streckte sie den waldbedeckten Hügeln entgegen. "Es wird Winter", rief der Junge, freudig bewegt, wie es schien. Tatsächlich war es Mitte Mai. Seine Gebärde, die Art, wie er den vermeintlichen Winter begrüßte, das kam mir gleichfalls fremdartig vor.
Nachher fuhr meine Wirtin mich zum Bahnhof. Unterwegs überholten wir zwei Fußgänger, einen noch jungen Mann und einen kleinen Jungen - es war das Kind von vorhin.
"Das ist mein Sohn", sagte meine Wirtin, "mit seinem Adoptivkind." Ich ließ mir das Nähere erzählen. Der Kleine war aus Nepal. Jemand hatte ihn bald nach der Geburt in Kathmandu vor einem Waisenhaus abgelegt.
"Er ist jetzt vier ... Er war eineinhalb, als er zu uns kam ... Bisher ist alles gut gegangen. Er nennt seine neuen Eltern Papa Horst und Mama Gerlinde. Und er weiß, dass es da irgendwo noch eine Mama gibt. In seinem Zimmer hat er an der Wand eine Karte von Nepal hängen. Später wird er sich wohl mit den anderen vergleichen und Erklärungen haben wollen ... Nein (sagte sie auf meine Nachfrage), keine Geschwister hier. Mein Sohn und die Schwiegertochter haben sich zuerst in Russland nach einem Kind umgesehen. Doch dann haben sie erfahren, dass russische Waisen oft die Kinder von Alkoholikern sind ... Für einen Nepalesen hat er eine auffallend helle Haut. In Kathmandu hat man ihn daher für ein Kind aus dem Hochland gehalten."
Erst jetzt passte für mich alles zusammen: sein Blick, wie zu fernen, immer schneebedeckten Riesenbergen, die Sehnsucht nach dem Winter, die verzückte Gebärde und die Heimat Himalaya. Er war so früh verpflanzt worden und doch zum Teil Asiate geblieben. Tragen wir Bilder im Kopf, in unserer Seele, die wir nicht eigener Anschauung verdanken, Bilder, die älter sind als wir selbst?
Das Kind sah in den wolkenverhangenen Himmel und hob beide Hände. Es streckte sie den waldbedeckten Hügeln entgegen. "Es wird Winter", rief der Junge, freudig bewegt, wie es schien. Tatsächlich war es Mitte Mai. Seine Gebärde, die Art, wie er den vermeintlichen Winter begrüßte, das kam mir gleichfalls fremdartig vor.
Nachher fuhr meine Wirtin mich zum Bahnhof. Unterwegs überholten wir zwei Fußgänger, einen noch jungen Mann und einen kleinen Jungen - es war das Kind von vorhin.
"Das ist mein Sohn", sagte meine Wirtin, "mit seinem Adoptivkind." Ich ließ mir das Nähere erzählen. Der Kleine war aus Nepal. Jemand hatte ihn bald nach der Geburt in Kathmandu vor einem Waisenhaus abgelegt.
"Er ist jetzt vier ... Er war eineinhalb, als er zu uns kam ... Bisher ist alles gut gegangen. Er nennt seine neuen Eltern Papa Horst und Mama Gerlinde. Und er weiß, dass es da irgendwo noch eine Mama gibt. In seinem Zimmer hat er an der Wand eine Karte von Nepal hängen. Später wird er sich wohl mit den anderen vergleichen und Erklärungen haben wollen ... Nein (sagte sie auf meine Nachfrage), keine Geschwister hier. Mein Sohn und die Schwiegertochter haben sich zuerst in Russland nach einem Kind umgesehen. Doch dann haben sie erfahren, dass russische Waisen oft die Kinder von Alkoholikern sind ... Für einen Nepalesen hat er eine auffallend helle Haut. In Kathmandu hat man ihn daher für ein Kind aus dem Hochland gehalten."
Erst jetzt passte für mich alles zusammen: sein Blick, wie zu fernen, immer schneebedeckten Riesenbergen, die Sehnsucht nach dem Winter, die verzückte Gebärde und die Heimat Himalaya. Er war so früh verpflanzt worden und doch zum Teil Asiate geblieben. Tragen wir Bilder im Kopf, in unserer Seele, die wir nicht eigener Anschauung verdanken, Bilder, die älter sind als wir selbst?