Ruf des Blutes
Vom Hunger getrieben hatte sich der Steinbock ein wenig von seiner Herde entfernt. Er war den Steilhang hinab geklettert auf ein kleines Plateau, um sich am Leimkraut gütlich zu tun, das sich hier an den nackten Fels krallte und so rosafarbene Tupfen darauf zauberte. Arglos knabberte er an den kurzen Trieben und schabte dazu noch Flechten von den Steinen. Hin und wieder hob der Steinbock kauend den Kopf und lauschte mit seinen großen Ohren nach möglichen Gefahren. Ein paar Dohlen riefen und balzten mit ihrem Gesang um die Gunst ihrer Weibchen. Unbekümmert setzte der Steinbock sein Mahl fort und wanderte langsam wenige Schritte weiter. Er bemerkte nicht, dass er bereits beobachtet wurde. Hinter einem Felsen verborgen lauerte der Jäger auf einem erhöhten Vorsprung und blickte aus purpurnen Augen auf seine Beute herab. Der Steinbock blickte auf und witterte, eher er wieder den Kopf senkte. Zu spät bemerkte er den Tod, der mit einer Feuergarbe auf ihn herabstieß und ihn gegen den Fels schmetterte. Dolchscharfe Zähne zerrissen den Hals des Bockes und sein Blick brach. Stolz breitete der Jäger seine riesigen Schwingen über seiner Beute aus und brüllte markerschütternd. Es war ein Drache mit bronzefarbenen Schuppenkleid. Von den klauenbewehrten Pranken bis zur Schulter maß er sieben Fuß. Auf dem langen, schlanken Hals ruhte ein eleganter Keilkopf, dessen Stirn zwei armlange, verdrillte Hörner zierten. Die Erscheinung des Drachen war ein prachtvolles Bild von Kraft und tödlicher Eleganz. Endlich trat er von dem erlegten Steinbock herunter und riss mit den Zähnen die angesengte Haut seiner Beute auf, um sich an dem warmen Fleisch zu laben. Doch kaum hatte er einen Brocken verschlungen, hörte der Drache das Rauschen lederner Schwingen. Misstrauisch blickte er auf und entdeckte einen Artgenossen, der nicht weit entfernt gelandet war. Das Weibchen war größer als er und seine Schuppen schimmerten in blutigem Rot. Stolz richtete sie sich mit leicht gespreizten Schwingen auf und drohte ihm fauchend. Sicher hatte sie sein Brüllen gehört und hoffte nun auf leichte Beute. Schon oft waren beide einander begegnet und hatten um Beute, Wasser oder einen Schlafplatz gerungen. Meist hatte er das Feld räumen müssen. Heute wollte er sich aber nicht kampflos geschlagen geben und trat ihr mit gefährlich gesenktem Kopf entgegen. Zischend peitschte sein langer Schwanz durch die Luft und schmetterte Steinbrocken aus einem nahen Felsen. Er war stärker geworden und das sollte seine Konkurrentin sehen. Unwillig schnaubte sie und spie ihm eine heiße Flamme entgegen. Heiß leckte sie über seine Schuppen ohne Schaden anzurichten. Feuer konnte Drachenhaut nichts anhaben. Nur seine empfindlichen Augen musste er schließen. Diesen Moment nutzte die Rote und stürzte in geduckter Haltung vor. Seine spitzen Hörner mied sie, während sie versuchte dem bronzenen Drachen in die weiche Halsunterseite zu beißen. Im letzten Moment wich er den scharfen Zähnen aus, drehte sich etwas und peitschte seinen Schwanz gegen ihre Rippen, ehe er wieder versuchte seine Hörner zum Einsatz zu bringen. Das war sein größter Vorteil gegenüber der Roten. Denn weibliche Drachen besaßen kein Gehörn, sondern behaupteten sich allein durch ihre Größe. Fauchend nahm das Weibchen den Hieb in seine Seite hin. Dafür krallte sie mit den Vorderpranken nach dem bronzefarbenen Kopf, wo sie eine blutige Spur hinterließ. Sie wichen auseinander. Wütend knurrten die Drachen einander an, während sie sich mit fauchenden Drohgebärden umkreisten. Blut tropfte von den bronzefarbenen Schuppen zu Boden. Aber der Drache bemerkte die Wunde kaum, sondern stürzte sich erneut auf seine Gegnerin. Er verbiss sich in den blutroten Flügel und spürte selbst wie sich die Zähne der Roten in seine Schulter gruben. Gegenseitig hieben sie mit den Krallen nacheinander, bis sie schließlich noch ineinander verbissen über eine steile Felskante in die Tiefe stürzten. Keiner gab den anderen frei, auch nicht als sie nach vierzig Fuß auf den schroffen Fels aufschlugen. Dem Männchen trieb der Aufprall die Luft aus den Lungen, vor allem da die Rote ihren Sturz durch ihn abgefangen hatte, und wilde Sterne tanzten vor den purpurnen Augen. Sengender Schmerz breitete sich über seinen Körper aus, als die Zähne der Roten sich tiefer in sein Fleisch gruben. Das warme Blut rann über seine bronzefarbenen Schuppen und der Geruch ließ die Rote rasend werden. Er musste sich befreien, koste es, was es wolle. Deshalb gab er ihren Flügel frei und senkte seinen Kopf, auch wenn dies neuen Schmerz bedeutete. Dann rammte er seiner Gegnerin die Hörner in die Seite und riss dabei eine tiefe Wunde. Das Weibchen brüllte schmerzerfüllt auf und gab ihn frei. Schnaufend zogen sie sich von einander zurück, ohne sich aus dem Augen zu lassen. Drohend spie er ihr seinen Odem entgegen, damit sie auf Abstand blieb. Er spürte, dass er ihr unterliegen würde. In ihren Augen lag blanker Zorn. Diesmal würde sie ihn nicht davon kommen lassen, sondern in Stücke reißen. In geduckter Haltung und mit drohend gespreizten Flügeln, wappnete er sich für den letzten Angriff. Doch dieser blieb aus.