Fieber

arroyoverde

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F i e b e r

Nun hat das Fieber endlich eingesetzt, das Fieber, auf das ich so lange gewartet hatte. Nicht, daß ich es mir gewünscht hätte, ich wußte lediglich, daß es kommen würde. Es war unausweichlich, und nun, da es da ist, ist es wie eine Erlösung. Es befreit mich von der Last des endlosen Bangens, nicht zu wissen, was einmal sein wird.

Ich könnte sie um Hilfe bitten - das Telefon ist gleich neben dem Bett, ein Griff genügt. Ich werde es nicht tun, ihr nicht die Gelegenheit bieten, mich zu behandeln, wie sie mich immer behandelt hat: herablassend und überlegen, und doch unwissend und inkompetent. Ich werde ihr nicht die Freude machen, ein weiteres mal über mein Leben zu bestimmen, diktatorisch die Richtung vorzugeben, nur aus Machtgier: Das ist nun endgültig vorbei. Wohl mag es mich das Leben kosten: diesmal treffe ich die Entscheidung und sie hat keinen Einfluß darauf; das werde ich auskosten bis zur letzten Sekunde.
Zu lange schon hat sie jeden Schritt vorgegeben, keine meiner Entscheidungen akzeptiert. Sie war der Führer meines Lebens, a dictator of her own right. Sie hatte die Mittel, mir fehlte die Durchsetzungskraft. Stets saß sie am längeren Hebgel und hat davon skrupellos Gebrauch gemacht. Was hätte ich nicht alles schaffen können: Kunstwerke von nie dagewesener Schönheit, Symphonien voll Pathos, strotzend von der Kraft nie gehörter Harmonien. Doch es blieb mir versagt, mein Talent auszubilden und einzusetzen. Mit einer Handbewegung zerstörte sie die Entstehung eines Genies, eines Neuerers, eines Schöpfers mit mehr Phantasie, als die Welt je gesehen hat. Sie sprach mir jedes kreative Talent ab - aus reiner Lust an ihrer eigenen Willkür. So, wie in einer einzigen kleinen Zelle das Wissen und die Fähigkeit stecken, ein Lebewesen von unermeßlicher Größe, Kraft und Schönheit entstehen zu lassen, so steckte auch in mir der Funke des Göttlichen. Hätte ich die Chance gehabt, hätte ich sie verwirklicht. Doch das konnte sie nicht ertragen, deshalb hat sie es mit aller Kraft verhindert. Sie wäre für immer in meinem Schatten gestanden, doch sie beanspruchte immer alles für sich allein; und mit der Überlegenheit ihrer Dominanz erdrückte sie das zarte Pflänzchen meiner Kreativität.

Draußen pulsiert das Leben: Ein nicht endenwollender Strom von Fahrzeugen aller Art, jedes mit unerträglichem Geräusch verbunden, schiebt sich unter meinem Fenster vorbei. Mitten durch ein Wohngebiet, dank der Geisteskraft unserer Lokalpolitiker, denen ein fahrzeugfreies Geschäftszentrum wichtiger ist als die wohlverdiente Ruhe der Bürger, denen sie das Geld aus der Tasche ziehen wie einst Drakula das Blut seiner Opfer.
Hätte ich die moralische Unterstützung erfahren, die diesen Cretins offensichtlich zuteil wurde, hätte ich sie hinweggefegt mit der Brillanz meiner Argumente, ich hätte die Wählerschaft mit der Aufrichtigkeit und absoluten Notwendigkeit meiner Ziele überwältigt, sie in Massen auf meine Seite gezogen.
Aber ganz auf mich allein gestellt, verschwand auch diese Möglichkeit wie schwacher Nebel unter der Mittagssonne. Einer Sonne, deren wärmende Strahlen mich nie erreichen konnten, da ich von einem ungnädigen Schicksal dazu verdammt war, auf ewig im Schatten dieses Monstrums zu leben.

Mit einem Ruck wird die Tür aufgerissen.

"Nun liegt er immer noch im Bett. Und komm' mir bloß nicht wieder mit deinen Krankheitsgeschichten. Hast du wieder das Thermometer manipuliert? Ich glaube dir kein Wort. Und nun steh' endlich auf, aber plötzlich. Wird's bald!"

"Ja, Mama."


©kw 10/2001
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
wow!

zuerst einmal herzlich willkommen auf der lupe. du hast eine geradezu umwerfende geschichte gepostet. den schluß habe ich auf keinen fall erwartet. und jetzt denke ich: was is das für ne rabenmutter? oder lügt der bengel täglich? jedenfalls 10 punkte für dein werk. ganz lieb grüßt
 



 
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