LILLY
Liebe Lupianer! Erstmal ein großes Dankeschön für eure Nachsicht mit meinen technischen Schwierigkeiten!
Jetzt ist die "Lilly" tatsächlich da, wo sie hingehört!
Elli
Ich weiß wirklich nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle. Ehrlich, ich habe keinen blassen Schimmer. Das liegt wahrscheinlich am Rotwein. Der macht den Körper schwer und die Zunge leicht. Ist nicht der beste Tropfen, den sie in dieser Spelunke ausschenken, aber man kann sich daran gewöhnen. Und nach drei, vier Gläsern schmeckt er immer besser. Ist wirklich wahr! Wollen Sie auch mal? Nein? So schlecht ist er wirklich nicht, probieren Sie ruhig! Wie? Hier, nehmen Sie mal nen Schluck. Na - mußt ja nicht, wenn du nicht willst! Schon gut, schon gut, regen Sie sich nicht auf! Bier und Wein, das lass sein, ja, ich weiß. Nein, keine Sorge, bester Freund, ich bin zwar nicht mehr ganz nüchtern, aber meine Sinne habe ich noch beisammen! Also gut, wo war ich stehengeblieben?
Achja, die alte Lilly. Ihre besten Zeiten, sagte sie, lagen schon lange hinter ihr. Ja, sie war wirklich für die Bühne geboren. Trotz der schlechten Zeiten damals, direkt nach dem Krieg, ließ sie sich nicht davon abbringen. Sie wollte zum Theater, koste es, was es wolle! Ihre Eltern haben erst geschimpft, dann getobt, schließlich geweint. Aber sie hat nicht nachgegeben. Naja, es sollte wohl so sein. Denn Talent hatte das Mädel ganz unbestritten!
Den Schauspielunterricht hat sie sich hart erarbeitet. Hat in einer Konservenfabrik geschuftet, sechs Stunden am Tag. Und vier bis fünf Stunden hat sie in der Schauspielschule verbracht. Teilzeitarbeit war damals noch unüblich und der Verdienst entsprechend mager. Es reichte gerade für das möblierte Zimmer und zwei Mahlzeiten am Tag. Nun, in der Fabrik konnte sie immerhin auch die eine oder andere Dose für sich selbst abzweigen. Das war wichtiger als Bargeld in dieser Zeit der Lebensmittelmarken. Nachts hat sie dann noch Nylonstrümpfe repariert. Sie hatte so ein kleines Maschinchen, mit dem sie die Laufmaschen wieder hochzog. Ssssst. Ssssst. Ssssst. Einen halben Groschen pro Laufmasche. Die Nylons waren ja DER Luxusartikel für die Frauen in dieser Zeit, müssen Sie wissen. Sündhaft schön und sündhaft teuer. Die gab’s noch nicht im Zehnerpack zu Neunmarkfünfundneunzig, nee, nee. Wenn so ein feines Gewebe eine Laufmasche bekam, wanderte es nicht einfach in die Mülltonne, das wäre die pure Verschwendung gewesen. Dafür gab es dann Frauen wie Lilly, die, sozusagen als selbständige Geschäftsfrauen, den feinen Damen die Strümpfe wieder flickten, bis zur nächsten Laufmasche... Lilly selbst konnte sich erst zwei Jahre später, bei ihrem ersten Engagement, echte Nylons leisten. Zuvor behalf sie sich mit einer mit einem Augenbrauenstift auf die Beinrückseite gemalten „Strumpfnaht“ und färbte die Beine mit Zwiebelwasser. Solange kein Mann ihr zu nahe kam, konnte das durchaus überzeugend aussehen.
Na, mögen Sie nicht doch ein Glas? Nein? Aber wenigstens noch ein Bier? Na also, Sie sind doch gar nicht so! Herr Wirt, ein Bier für meinen Freund hier, und für mich noch ein Glas von dem Roten! Schreiben Sie’s an, wie üblich! Ja ja, nach dem nächsten Ersten bezahl ich’s. Versprochen! Sie konnten sich doch bis jetzt immer auf mich verlassen, Herr Wirt, oder? Na also, dann zieren Sie sich nicht, unseren Kehlen werden trocken!
Bisher habe ich noch nie jemanden von dieser Geschichte erzählt, mein Freund. Uns Dichtern wird ja oft eine rege, manchmal zu rege Phantasie unterstellt. Aber ich versichere Ihnen: Alles hat sich tatsächlich so zugetragen, wie ich es Ihnen erzähle!
So hat sie sich also durchgeschlagen, die Lilly, in den ersten, den mageren und harten Jahren. Immer getrieben von der Sehnsucht, auf der Bühne zu stehen und das Publikum im Innersten zu berühren. Freude, Tragik, Dramatik, Liebe – ihr Spiel wirkte nie künstlich oder eingeübt. Sie konnte wirklich überzeugen!
So ließ denn auch der verdiente Erfolg nicht lange auf sich warten. Nach ersten Engagements an kleinen Provinzbühnen bekam sie Angebote aus größeren Städten. Die Entscheidung fiel ihr nicht ganz leicht. Doch spürte sie eine Sehnsucht nach Freiheit in sich. Es drängte sie ans Meer. Und so stand sie eines Tages in der Stadt an der Küste, die von den Spuren des Krieges noch schwer gezeichnet war. Trümmergrundstücke allerorten. Nur zögernd schlossen sich die klaffenden Lücken im Stadtbild, verschwanden Ruinen und entstanden neue Gebäude, die in ihrer Funktionalität und Klarheit den Geist der neuen Zeit symbolisieren sollten. Erst viel später würde man den Architekten Einfallslosigkeit vorwerfen, da sie mit ihren immer gleichen kubischen Bauten die Stadt gesichtslos und auswechselbar gemacht hatten – hier wie andernorts.
Auch das große Stadttheater im Schatten des mächtigen Rathausturms hatte arg gelitten. Doch viele fleißige Hände hatten dafür gesorgt, daß der Spielbetrieb schon kurz nach dem Kriegsende wieder aufgenommen und der geplagten Bevölkerung ein wenig Abwechslung und geistige Nahrung geboten werden konnte. Nach der Währungsreform jedoch waren die Besucherzahlen stark zurückgegangen: Das Geld war wieder etwas wert, die Regale in den Geschäften voll. Für Unterhaltung und Kultur blieb wenig übrig. In dieser Zeit kam Lilly in die Stadt.
Sie fand ein Zimmer in eine Kellerwohnung. Das ehemals vierstöckige Haus darüber verfügte jetzt nur noch über zwei bewohnbare Etagen. Eigentlich war es ein schäbiges Loch. Aber Lilly hatte schon immer genauso viel Improvisationstalent wie Optimismus besessen. Und so hatte sie sich innerhalb weniger Wochen aus so gut wie nichts eine doch recht behagliche Bleibe geschaffen.
Die Zeit des elementaren Überlebenskampfs war zum Glück vorbei, aber das Wirtschaftswunder steckte noch in seinen Kinderschuhen. Die zweihunderfünfzig Mark Gage reichten gerade so für das Nötigste. Da Lilly nach den Aufführungen sowieso zu aufgekratzt war, um gleich schlafen zu gehen, hielt sie den Nebenerwerb mit der Strumpfflickerei aufrecht. Ein alter Volksempfänger leistete ihr dabei Gesellschaft.
Eines Tages fand sie nach einer Aufführung, sie hatte die Hilde in Ibsens „Baumeister Solness“ gespielt, einen prächtigen Blumenstrauß in der Garderobe. Ein Karte steckte darin: „Ich muß mich Ihnen endlich offenbaren! Schon lange bewundere ich Sie! Sie sind nicht nur der Stern dieses Theaters, Sie sind der Stern meines Lebens! Ich kann nicht mehr ohne Sie leben! Lange dauert es nicht mehr, dann sind wir vereint! Wir sind für einander geschaffen. Sie machen mich zum glücklichsten Menschen auf der Welt! Ihr ergebener M.“.
Tja, mein bester Freund, Lilly stand zwar noch am Anfang ihrer Karriere und gab auf der Bühne oft die junge Braut, aber naiv war sie längst nicht mehr. Im ersten Moment hatte sie schallend gelacht über diese schwülstigen Worte, doch ein beklommenes Gefühl beschlich sie bald. Wer war dieser Mensch? Was wollte er von ihr? Verehrer hatte sie einige, aber die hielten sich – meistens! – an die Regeln des Anstands. Mit denen konnte sie umgehen. Doch dies hier klang anders. Irgendwie bedrohlich. Da hatte jemand bereits über ihren weiteren Lebensweg entschieden.
An den nächsten Abenden ging sie mit einen ungutem Gefühl in der Magengrube ins Theater. Versuchte, während der Aufführungen das Publikum zu beobachten. Gab es da jemanden, der regelmäßig im Zuschauerraum saß? Geblendet von den starken Scheinwerfern war es jedoch so gut wie unmöglich, einzelne Gesichter zu erkennen. Jetzt fand sie nach den Aufführungen regelmäßig Blumensträuße oder Pralinenschachteln, versehen mit heißen Liebesschwüren, in ihrer Garderobe. Die Kollegen frotzelten über den hartnäckigen Verehrer, aber Lilly war das Lachen vergangen. Sie fühlte sich verfolgt.
Sie befragte den Pförtner und die Garderobiere, wer die Geschenke brachte. Aber deren Beschreibungen blieben vage. Manchmal waren es wohl auch Boten aus Blumen- und Konfektgeschäften, die die Präsente im Theater abgaben.
Nach zwei Wochen fand sie diese Karte in einem üppigen Rosenstrauß: „Geliebte Lilly! Alles ist vorbereitet, das Warten hat ein Ende! Morgen Abend ist es soweit: Ich werde kommen und dich heim holen! M.“.
- Fortsetzung folgt (vielleicht
) -
Soweit mein erster eigener Versuch in den heiligen Hallen der Leselupe
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Die Idee der „Fingerübungen“ finde ich sehr gut! Nur: Ich kann nicht unter Zeitdruck schreiben. Zufrieden bin ich mit diesem Text noch gar nicht. Doch die Woche geht zu Ende, ich habe keine Zeit mehr, noch länger daran zu arbeiten, will es aber auch nicht bloß für den Papierkorb geschrieben haben.
Ich werde versuche, mich hin und wieder an den Fingerübungen zu beteiligen. Vielleicht werde ich dann mit der Zeit auch ein wenig schneller.
Liebe Grüße,
Elli
P. S. Ich finde es erstaunlich, wie viele vom Handlungsaufbau/Erzählperspektive relativ ähnliche Geschichten hier entstanden sind!