Fleisch (gelöscht)

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Val Sidal

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Ofterdingen,

die Geschichte gefällt mir: kalt, wie die Eisfläche eines zugefrorenen Tümpels -- uneben, schneeverweht, unrund aber nicht quadratisch-praktisch. Wem das Lesen eher das Pirouetten-drehen bedeutet, hallengeschützt auf dem gepflegt glänzenden Eis, mit Musik aus der Box und Glühwein, der wird -- denke ich -- bei deiner Geschichte ausrutschen und vielleicht auf die Fresse fliegen.

Der Text gaukelt nicht vor, die richtigen Wörter für gewichtige Botschaften geladen zu haben und bruchsicher (transportversichert) dem Lesergemüt liefern zu wollen. Er ist auch keine modische Maskerade, um Mitglieder der Peer Group zu locken und sie an den Seeleninnerein des Autor Teil haben zu lassen ("Ja! Das kenne ich! Das ist mir auch widerfahren... usw.)

Wer aber bereit ist anzuhalten, ihn auf sich wirken zu lassen, Begriffe und Bilder, Figuren und Szenen zu beobachten, der wird unter der knirschenden Oberfläche seltsames und doch vertrautes Leben entdecken. Und hier beginnt -- meiner Meinung nach -- Literatur: Kunst.

Erzählmodus und -Technik ließen sich noch optimieren. Um nur ein Beispiel zu nennen: die konsequentere und überlegtere Kombination der auktorial/personalen Perspektive mit der indirketen Rede würde dem Text mehr Würze und Tempo verleihen. Statt
Sie wollte Fleisch, unbedingt Fleisch, und sie sagte Thomas, er solle zum Schlachter gehen und etwas mitbringen, und sie wusste, sie würde das Fleisch notfalls roh mit den Zähnen zerreißen.
vielleicht:
[blue]Fleisch -- sie wolle unbedingt Fleisch und es notfalls roh mit den Zähnen zerreißen. Thomas solle zum Schlachter gehen und etwas mitbringen, verlangte sie.[/blue]
Ist freilich eine Frage des Geschmacks und der atmospärischen Intention. Daher würde ich weitere Hinweise/Meinungen nur auf den ausdrücklichen Wunsch des Autors äußern.
 

Art.Z.

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Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob das eine Novelle oder Kurzgeschichte ist. Jedenfalls gibt es Dinge, die mir hier gefallen und Dinge, die mir weniger gefallen.
Erstmal zu dem, was mir gefällt: Die Charaktere sind gut gezeichnet. Nadine und Thomas kommen sicherlich so nicht nur einmal im echten Leben vor. Die Handlung ist etwas schlicht aber nicht uninteressant aufgebaut. Dass du die Geschichte aus Nadiens Sicht erzählst macht alles etwas subjektiv und einseitig. Dann aber streust du gelegentlich auch innere Einsichten von Thomas ein, z.B., dass er nie zu viel für das Essen für seine Frau ausgeben würde. So könnte man auch von einer Nullfokalisierung sprechen, aber möglicherweise ist es einfach die Meinung von Nadine, die das billige Essen am Ende bekommt.
Mir kommt es auch sehr fragwürdig vor, dass Nadine so schnell nicht mehr aus dem Haus gehen will. Wenn ich das richtig verstehe, zieht sich die Handlung über knapp 9 Monate, wenn man den Schluss nach der Geburt weglässt. Ich glaube nicht, dass jemand sich so schnell so "schwer" verändern kann. Und die Reaktion von Thomas, dem seine Frau bereits seit 16 Jahren Wurst zu sein scheint (kleines fleischiges Wortspiel^^) ist auch etwas unrealistisch. Wieso sollte er sich aufeinmal so um sie kümmern, für sie kochen und einkaufen? Ja, weil sie schwanger ist. Aber so eine Verhaltensänderung nach 16 Jahren ist schon etwas zu fiktional.
Die Pointe am Ende ist gut gelungen. Aber es ist wieder sehr unwahrscheinlich, dass Thomas seinen Freund nicht anrufen würde und fragen würde, was los sei. Ich könnte mir auch vorstellen, dass der Freund die Eier-abschneide-Pointe für einen Witz hält und nicht wegrennt. Das sind aber alles zu rationale Überlegungen. Bei Literatur kann man damit nur schlecht argumentieren.

Am Ende kann ich sagen, dass die Geschichte gut geschrieben ist. Die zwischenmenschliche Kälte hast du gut in den kalten Mahlzeiten symbolisiert. Das titelgebende Fleisch zieht sich wie ein roter Faden durch die Story und Eis mit Fleischstückchen ist eine sehr nette Idee (ich weiß nicht, ob es das echt gibt). Leider sind ein paar unrealistische Momente vorhanden, wie z.B. das Verhalten des Freundes am Ende. Aber insgesamt sehr lesenswert. Hat mir gefallen.
 
Persönlich möchte ich es so sehen: Der Text sollte von seinem Ende her verstanden werden, nämlich der Parallele zwischen dem alten Märchen der Grimms und der spontanen Nutzanwendung, die eine offenbar nicht mehr ganz junge Frau von heute aus ihm zieht. Mir scheint, alles Vorangegangene ist nur Vorspiel, ist daraufhin konstruiert. So gesehen dienen gewisse Details der allmählichen, kaum merklichen Annäherung an die Märchenebene: das sonderbare Eis, die ungenannt bleibende Krankheit, die für heutige Verhältnisse sehr ungewöhnliche Geduld der Frau mit ihrem Mann usw. usf. Was der naive Leser zunächst als realistische Geschichte von heute aufzufassen geneigt ist, sollte also besser als Märchen-Travestie verstanden werden.

Ein solches Spiel, falls es denn eines war, gefällt mir durchaus und ich finde es hier auch im Detail gelungen. Nur eines bleibt aus meiner Sicht etwas problematisch: der sehr direkte Bezug im Text auf das alte Märchen. Schwer zu sagen, wie man es anders machen könnte. Vielleicht die Frau Gretel nennen und aus dem Gast einen Herrn Grimm?

Freundlichen Morgengruß
Arno Abendschön
 

Ofterdingen

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Hallo Arno,

"Der Text sollte von seinem Ende her verstanden werden, nämlich der Parallele zwischen dem alten Märchen der Grimms und der spontanen Nutzanwendung, die eine offenbar nicht mehr ganz junge Frau von heute aus ihm zieht. Mir scheint, alles Vorangegangene ist nur Vorspiel"

Tja, da hast du mich kalt erwischt: Bevor ich das schrieb, habe ich mal wieder Märchen der Gebrüder Grimm gelesen und hatte dann irgendwie so eine Idee, dass ich aus "Das kluge Gretel" etwas machen wollte. Das war der Ausgangspunkt.

Dann traf ich mich mit einigen Freunden zu einer Art Schreibwerkstatt und einer gab das Stichwort "Parallelen" aus und man sollte eine Geschichte dazu erfinden. Ich stellte mir ein Paar vor und zwei Leben, die parallel nebeneinander her laufen, die sich also nicht oder nur ausnahmsweise berühren.

Außerdem gab es den Freund, der mir sagte, meine letzte Geschichte sei "latent frauenfeindlich" gewesen. Also gut, sagte ich mir. Diesmal wird es entschieden anders und es soll eindeutig die Frau sein, die am Ende gewinnt.

Danke jedenfalls für deinen klugen Kommentar. Val Sidal und Art Z.: Danke auch euch, nicht traurig sein, ich werde noch ausführlicher antworten, nur muss ich jetzt weg.

Ofterdingen
 
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