Fliegen - Der letzte Wunsch eines Mädchens

I became beauty from pain. Ihre Mutter schrie durch ihre abgeschlossene Zimmertür. Durch die lautstarke Musik, in der man momentan die Stimme der Sängerin aus der Band Superchick hören konnte, konnte sie ihre Mutter nicht verstehen. Wahrscheinlich beschwerte sie sich über die Lautstärke der Musik, doch sie brauchte diese laute Musik, da sonst die Stille sie umbringen würde.
Sie lag auf ihrem Bett und starrte schon die ganze Zeit an die Decke. Sie musste sich einfach irgendwie ablenken. Das Lied war zu Ende und der Cd - Player spielte das nächste Lied ab.
Ein Schnitt mit der Klinge sagt viel mehr als tausend Tränen.
Klinge hallte es durch ihren Kopf. Klein, scharf und gefährlich. Früher war die Klinge etwas, was für sie nichts besonderes war. Doch nun war dies der einzige Weg, den sie machen konnte, um nachzusehen, ob sie noch am Leben war. Manchmal machte sie es auch, um sich selbst zu bestrafen. Sie stand vom Bett auf, ging hinüber zum Spiegel, der so groß war, dass sie ihren ganzen Körper sehen konnte. Langsam zog sie sich aus. Zuerst den Pullover, weil sie wusste, dass dann der Spiegel zuerst nur die Arme zeigen konnte. Die Arme wurden von viele Narben gezirrt. Senkrechte Narben, aber auch waagerechte Narben. Mal längere, mal nicht so lange. Einige mussten auch mal genäht werden, weil sie zu tief geschnitten hatte. Und es war immer ein so großer Aufwand gewesen,einen Arzt zu finden, der dies nicht meldete, weil es ihre Mutter nicht mitbekommen sollte. Sie hatte öfters den Arzt wechseln müssen, weil diese sie nach einer Zeit zum Therapeuten schicken wollten. Einmal sprach einer auch schon von einer Psychatrie, als die Narbe einige Zentimeter aufklaffte. Ihre Hände glitten vorsichtig an ihren Armen hinab und sie spürte die Narben. Wieso hatte sie nur damit angefangen? Es war eine regelrechte Sucht geworden. Sie musste so oft überprüfen, ob sie noch am leben war. Eigentlich hatte es doch alles ganz harmlos angefangen. Naja, nicht ganz so harmlos. Früher war sie regelrecht fett gewesen und wurde deswegen auch gehänselt und gemobbt. Ihre Klassenkameraden beleidigten sie oft und nannten sie beispielsweise Die Fette. Und jedes Mal zeigte sie keine Reaktion, verhielt sich ganz normal, so, als ob sie nichts von alldem gehört hatte. Doch innerlich weinte sie. Immer und immer wieder.
Ihr Blick glitt von den Armen weg hinüber in den Spiegel. Würde sie wirklich den Rest des Körpers sehen wollen? Diesen ekelhaften, schwabbeligen und zu gleich fetten Körper? Nein, sie wollte es nicht, doch sie musste. Langsam zog sie das T-Shirt aus, was ihren schwabbeligen Bauch noch vor paar Sekunden versteckt hatte, und ihre Hose. Sie stand nur noch in Unterwäsche und BH in ihrem Zimmer. Der Blick in den Spiegel entsetzte sie. Wie konnte sie nur so fett sein? Wie konnten die Beine nur die Kraft aufwinden, diesen schweren Körper aufrecht zu halten? Und dann noch diese Beine, die das unmögliche schafften. Sie waren so fett und schwabbelten, wenn sie einen Schritt ging. Wie konnte die Waage nur vierundvierzig Kilogramm anzeigen, obwohl sie doch so fett war?
Tränen kamen auf und sie wandte den Blick von dem Spiegel ab. Baby don't cut spielte nun der Cd - Player ab. She's even tried to overdose and take her life away.
Sie hatte schon öfters Selbstmordgedanken. Es gab viele Wege, wie man sich umbringen konnte. Eine Überdosis von Tabletten, beispielsweise Schlafmittel. Wie oft sie sich doch schon gewünscht hatte, einzuschlafen und nie wieder aufwachen zu müssen. Sie könnte auch ganz schnell an Schlafmitteln kommen, da sie nicht mehr so gut schlafen konnte. Zwei bis drei Stunden mussten vergehen bis sie mal eingeschlafen war und dann quälten sie Albträume und sie wachte wieder auf. Träume, in denen sie starb, empfand sie als etwas, was nicht schlimm war. Sie könnte auch von einer Brücke hinab springen oder auf den Gleisen sitzen und auf den nächst besten Zug warten. Oder ein Messer oder ihre Rasierklinge nehmen und sich die Pulsadern aufschlitzen. Ja, es gab viele Wege sich umzubringen und sie hatte schon öfters daran gedacht, doch sie ließ diese Gedanken dann wieder fallen. Nicht, weil sie noch leben wollte, sondern weil sie einen Grund suchte, für den es sich noch lohnen würde zu leben. Doch bis jetzt hatte sie noch keinen gefunden. Vielleicht gab es ja Gründe, um weiterhin zu leben, aber vielleicht waren diese Gründe ihr nicht wichtig genug. Sie würde ihre Familie und ihre Freunde zurücklassen und sie würden vielleicht für einen Moment traurig sein. Aber Trauer verging und sie war ihnen wahrscheinlich eh nicht wichtig genug, dass sie lange trauern würden. Viele waren der Meinung, dass das Leben etwas schönes war, ein Geschenk. Doch für sie war das Leben eine reine Hölle. Durch das Mobbing hatte sie beschlossen abzunehmen und zwar so viel wie möglich in einer relativ kurzen Zeit. Und das hatte sie dann auch geschafft, aber wie konnte sie sich daran erfreuen, wenn sie sich selber immer noch als fett ansah und als etwas nutzloses. Ja, das Mobbing hatte aufgehört, doch sie hatte sich seelisch zerstört. Sie konnte niemanden lieben und wenn sie niemand lieben konnte, dann könnte sie sich selbst erst recht nicht lieben. Ganz im Gegenteil. Sie hasste sich abgrundtief.
Sie griff nach ihren Klamotten und zog sich wieder an. Noch ein letzter Blick in den Spiegel und sie schloss die Tür wieder auf und ging hinunter zu ihrer Mutter. Sie lief förmlich und umarmte ihre Mutter. Ihre Mutter war etwas überrascht wegen der heftigen Umarmung, doch sie umarmte sie zurück, küsste sie auf die Stirn und fragte, ob alles okay wäre. Sie nickte und meinte, sie würde sie lieben, zog sich ihre Schuhe und Mantel an und verließ das Haus. Das letzte Mal, dass sie in den Spiegel gesehen hatte. Das letzte Mal, dass sie ihre Mutter gesehen hatte. Das letzte Mal, wo sie laufen würde und der Wind ihre Haare fliegen ließ. Ihr ganzer Körper zitterte, als sie an den Gleisen ankam. So würde sie also enden. Wollte sie denn so enden? Ihr größter Wunsch war es eigentlich gewesen, fliegen zu können. Doch ihr schwerer Körper hatte dies nie zugelassen. Aber vielleicht ließ er es dieses Mal zu. Sie drehte sich von den Gleisen weg und fing wieder an zu laufen. Zwei Kinder, an denen sie vorbei lief, spielten und lachten. Die Kinder schienen glücklich zu sein, doch sie selber wusste, dass Glück nur eine Illusion war. Sie kam an einer Brücke an, die mehrere hundert Meter über einem Fluss lag. Sie würde ihren Wunsch in Erfüllung gehen lassen. Zwar würde sie nicht nach oben fliegen in den Himmel, so wie es die Vögel taten. Sie würde nach unten fliegen. Einen kurzen Moment würde sie fliegen. Sie kletterte über das Geländer, atmete noch einmal die frische Luft ein, die noch nach dem Regen von vorhin duftete und sprang.
 



 
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