Fliegengift

GerRey

Mitglied
Auf der Couch liegend erwachte ich am frühen Nachmittag, ohne ob der bereits leise heran sausenden Dramatik gefasst zu sein. Im Raum war es sonnenhell, gedämpft durch das herabgelassene Rollo, das zwar von außen nach innen uneinsehbar war, aber trotzdem genug Tageslicht einließ. Ich warf die Decke von mir und setzte mich auf. Es war auch bedeutend wärmer als zu dem Zeitpunkt, an dem ich mich hingelegt hatte. Zwischendurch war ich einmal munter geworden, fiel mir ein, während ich mir die Augen rieb, hatte das Schlagen einer Autotür auf der Straße vor dem geschlossenen Fenster gehört - was in dieser stillen Gegend, mit dem angrenzendem Gelände eines Schwimmteiches, schon auffällig war - und sofort gedacht, dass es der Postzusteller sei, der nun wieder an der Hausglocke läuten würde, um mich - wegen irgendwas (!) - zum Aufstehen zu zwingen … Aber es hatte sich nichts weiter getan, als dass bald darauf wieder die Autotür schlug und das Auto, mit dem leise surrenden Geräusch eines Elektromotors, davonfuhr - worauf ich wieder eingeschlafen war. Also trieb mich jetzt, nachdem ich ausgeschlafen hatte, die Neugier auf, um nachzusehen, ob er auch in meinen Postkasten eingeworfen hätte.

Ich ging zur Haustür, öffnete, um herauszutreten - und sah sie sofort. Sie saß drüben auf ihrer Seite des Zauns. Ich nahm nur den Kopf wahr, das graue Haar, im Nacken kurz geschoren, dafür mit schalkhaft ausladendem Seitenscheitel, als ich aus meinem, um vier Stufen erhöhten Eingang trat und im schrägen Winkel über die Krone des Drahtzauns, der an dieser Stelle blickdicht mit zweifarbigen Kunststoffbahnen verflochten war, leise Blicke hinüber haschte (weiter hinten, wo bei ihnen die Fensterfront eines veranda-ähnlichen Zubaus lag, den sie winters oder an trüben Tagen als Aufenthaltsraum nutzten und um den Tisch, der mit seiner Längsseite innen an die Fensterfront schloss, zu drei Seiten saßen und tagsüber, wo der metallene Rollladen vor der Fensterfront geöffnet war, Ein- und Ausblicke - vor allem auf meinem Garten - zuließen, auch wenn ich beim Rasenmähen war und sie allein am Tisch, scheinbar mit etwas beschäftigt, mich beobachtete, wie ich im Gras hinter dem Rasenmäher her Bahnen zog).

Sie blickte auf ihre offene, von einem geschlossenem Fliegennetz geschützte Eingangstür, bemerkte mich nicht (oder wollte mich nicht bemerken), weil ich im Schatten ihres rechten Blickfelds auftauchte, während sie zwischen den wie zum Kuss gespitzten Lippen den Filter einer Zigarette hielt - erotisch wirkend, mit einem gewissen Widerwillen in der Anstrengung -,und mit der Rechten ein Feuerzeug an die produktionell geschnittene Tabak-Öffnung heran führte, während ich, ohne mit einem Gruß störend auf diese ihre Szene einwirken zu wollen, an ihre gestern ansprechend dekorierte Kleidung dachte, die Stufen hinunter und durch die offene Einfahrt zum Gartentürl lief, in dessen Zaunpfeiler der Postkasten eingelassen ist, wobei mir plötzlich - fast schon wie eine Vorsehung - einfiel, dass ich mir vergangene Nacht ebenso einen Fliegenvorhang montieren hätte wollen, den ich am Tag davor zu diesem Zweck gekauft hatte, aber ob des verstimmten Wetters keine Dringlichkeit dafür fand.

Ich war noch kaum beim Postkasten, da hörte ich hinter mir die Stimme ihres Mannes, der im Haus zu sein schien, rufend und fragend:

“Soll ich die drei Knödel aus dem Gefrierschrank nehmen?”

Als Antwort kam ihr langgezogenes, in verschiedenen Tonlagen auf- und abschwellendes, nahezu rauzendes “Mhmm”, das in seinem Reiz durchaus Knöpfe sprengen konnte, wie ich dachte, während ich den Postkasten öffnete und einen blauen Brief darin fand.

Früher bedeuteten blaue Briefe oft Unangenehmes - dieser war es nicht. Sein blauer Umschlag war viel, viel heller als das Enzianblau, mit dem ich die Türstöcke meiner Küche kürzlich gestrichen hatte, und kam von einer Freundin, wie ich an der Schrift und den blumigen Aufklebern sofort erkannte.

Aber der Teufel schlief nicht! Eingelullt in Momentum und der Vorfreude auf den Brief sah ich in Brusthöhe vor mir, als ich die Haustür öffnete, um einzutreten, in eleganten Schwüngen wie ein Slalom-Schirennläufer eine Fliege, die mich wohl beim Eintreten überholt hatte, in die Tiefe meines Hauses eindringen. Sofort stieg Ärger in mir hoch! Meine Fenster waren das ganze Jahr mit Fliegennetzen bewährt, weil ich es hasste, während ich schlief oder aß, schwirrende Insekten im Haus zu haben - nur die Eingangstür war immer ein Problem gewesen, weil sich da kein sinnvoller Schutz finden hatte lassen, und sich in diesem Bereich sommers sowieso die Nachbarn lärmend beim Familiengrill aufhielten - verzichtete ich dort auf den Schutz und hielt rigoros die Tür geschlossen, womit ich auch so manche Beziehung aufs Spiel gesetzt hatte!

Und jetzt! Jetzt war dieses Mistvieh eingedrungen, obwohl ich mich in diesem Jahr zu einem Türnetz mit Magnetverschluss entschlossen hatte, und nur zu faul gewesen war, es einzubauen!

Ich musste etwas essen, um mich zu beruhigen. Im Kühlschrank hatte ich eine bosnische Hartwurst. Ich schnitt ein Stück ab, wog es, um es in Kalorien umrechnen zu können und machte es ebenso mit einem Kanten Krustenbrot, das ich am Morgen frisch geliefert bekommen hatte, und packte beides, mit einem scharfem Messer, auf einen Teller, und ging damit ins Wohnzimmer, um mir auf den Computer einen Film anzuschauen, was ich gerne beim Essen tue. Den Brief, den ich mit vom Essen fettigen Fingern nicht angreifen wollte und auf den mir vorerst sowieso die Stimmung vergangen war, hatte ich auf den Kühlschrank gelegt.

Während ich mir ein Rädchen Wurst abschnitt, es enthäutete und in den Mund steckte, hörte ich die Fliege am Küchenfenster summen. Jetzt reichte es! Schlagartig fiel mir das Insektenspray ein, das ich für solche Fälle seit langer Zeit in dem Schrank unter der Abwasch aufbewahrte. Es war schon sehr alt und fast vergessen. Ich holte es hervor und ging damit auf die Jagd. Aber das Vieh war schlau. Ich musste es einige Male einsprühen - auch im Flug! Aber das tat meinem erwachten Eifer keinen Abbruch. Im Raum begann das Gift bereits zu riechen. Die Fliege surrte noch immer, saß auf dem Rollo und genoss kriechend die Wärme der Nachmittagssonne auf ihrem Bauch.

Ich stieg vorsichtig auf einen Stuhl, um auf gleiche Höhe zu kommen. Das Tier bewegte sich nicht. Ich führte die Spray-Öffnung der Dose langsam ganz nahe heran - und dann: Feuer frei!

Aus dem Sprühnebel stieg die Fliege hoch bis unter die Decke, sodass ich mit meinen Blicken kaum folgen konnte. Und nachdem ich vom Stuhl herunter gestiegen war, konnte ich sie auch nach einem genauen Rundgang nirgends mehr sehen.

Die Spraydose sicherheitshalber mit mir nehmend, kehrte ich zum meinem Essen und dem Film zurück. Ich liebte diese mit Knoblauch besetzte bosnische Hartwurst - und ausser einem Stück Brot, das ich eigentlich fast zu allem aß, brauchte ich nichts dazu. Rädchen für Rädchen ließ ich meinen Gaumen erfreuen, und rundete mit einem kleinen Bissen Brot ab, als die Reue einsetzte.

Hatte ich über-reagiert? Was vermochte ein so kleines Tier schon auszurichten? Früher war das ganz normal gewesen. Überall hingen diese Klebefallen, vor denen man sich in Acht nehmen musste, um sich nicht selbst damit zu fangen …

Was war das? Mir wurde plötzlich übel! Die Wurst konnte das nicht sein - oder? Schweiß trat auf meine Stirn, ich kämpfte mit dem Erbrechen. Als ich aufstehen wollte, um auf die Toilette zu laufen, wurde mir plötzlich schwarz vor Augen. Ich fiel in eine dunkle Leere, in der nur noch fern ein leises Summen zu vernehmen war, bis das Nichts eintrat und mich endgültig überwältigt hatte.
 



 
Oben Unten