ansichten eines fisches
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Flieger
April, es muss im April 1919 gewesen sein, als Carl die Nachricht erhielt. Der Krieg war vorbei, das Frühjahr breitete sich aus, doch das Land war ein anderes. Die alte Ordnung zerstört, eine Republik gegründet, die Menschen ohne Vorstellung davon – dazwischen, die Fundamente ihres Denkens und Fühlens aus den Angeln gehoben. Ein Engländer, wollte ihn sehen, in einem der besten Hotels der Stadt. Ungewöhnlich, ein Brite, ein Feind? Schon aus Neugier machte er sich auf den Weg und war doch überrascht, einen jungen Mann in seinem Alter zu treffen. Feine Gesichtszüge, ein feiner Anzug, gutes Auftreten, gutes Deutsch. Er stellte sich vor und erklärte, trotz der Zeiten geschäftlich in Deutschland zu tun zu haben. Fragte ihn, ob er jener Carl „von“ … war, der in den letzten beiden Jahren als Flieger in Belgien stationiert war, unweit vom Standort seines Geschwaders, den weiteren Namen kenne er nicht. Und er begann zu erzählen, wie er diese Jahre verbracht habe, die Einsätze jeden Tag, die ständigen Beobachtungsflüge, ja, und die Luftkämpfe. Die Lust am Fliegen – und die Trauer, die Trauer um so viele seiner Kameraden, seiner Freunde, die Angst, der Alkohol. Und er berichtete von einem der Gegner, vor dem sie alle Respekt hatten, der einen nach dem anderen von ihnen vom Himmel holte. Carl war berührt, er kannte diese Erlebnisse und Erzählungen nur zu gut, ja, er hatte viele Gegner vom Himmel geholt, wahrscheinlich diese Kameraden. Und wie viele Freunde musste er selbst betrauern? Carl fragte, ob er dieses Gerücht kannte, dass auf französischer Seite eine Pilotin geflogen sei, die ihrerseits so viele deutsche Flieger abschoss. Der Brite erwiderte, dass er diese Fliegerin gekannt hätte, ihre Einheit wäre nicht weit von seiner stationiert gewesen und fragte ob Carl an mehr Informationen interessiert wäre. Doch Carl schwieg, sagte nichts. Nicht nur die Niederlage lag auf seiner Seele, die es ihm verbot etwa selbst nach Frankreich zu fahren, nun auch noch die gefühlte Schande von einer Frau mitbesiegt worden zu sein.
Und so saßen sie lange da, der Sieger und der Besiegte, dessen Welt, dessen Werte in Trümmern lag. Beide Gewinner, denn sie waren am Leben, beide Verlierer, denn ihnen hatte der Krieg zu viel genommen, zu viel von ihrer Kraft gekostet. Beide mit Narben in ihrer Seele und Steinen auf ihrer Brust und beide mit einem erstaunten Lachen als sie sich gegenseitig in ihrem Erlebten wiederfanden. Als sie sich verabschiedeten, der Feind kaum mehr ein Feind war, da sprach der Brite ihn auf nochmal die Pilotin an. Er meinte, als Offizier mit guten Verbindungen auf britisch-französischer Seite, wäre es kein Problem Papiere zu besorgen um Carl nach Frankreich reisen zu lassen – und schließlich spräche dieser ja ein ausgezeichnetes Französisch und Englisch.
Einige Wochen darauf erhielt Carl tatsächlich einen Brief mit entsprechenden Papieren. Nun war er Engländer, ein Offizier in Zivil, für den sich nun viele Türen öffneten. Carl überlegte lange, was er tun sollte. Der Krieg hatte alles fast alles in seinem Leben verändert. Das Stolze „von“ in seinem Namen war obsolet geworden, stand für eine Zeit, für eine Gesellschaft, die es nicht mehr gab. Seine Familie hatte noch einen gewissen Besitz, das enthob ihn zumindest der materiellen Sorgen und dennoch fühlte er sich nicht wirklich wohl dabei. Wie sollte er dieses Privileg noch rechtfertigen, vor den Millionen, die gekämpft hatten, die ins Elend sanken? Vor den Familien derer, die nicht zurückkamen? Und da war sein Leben, das er, seit er Erwachsen war, nur beim Militär verbrachte – erst noch im Frieden, dann vier Jahre Krieg. Erst in einer stolzen Kavallerieeinheit, nach deren Auflösung bei den Fliegern. Kavallerie – gab es ein treffendes Bild für die Überkommenheit seiner Welt als das einen aufgeputzten Reiteroffiziers? Militärisch nutzlos geworden, aufgeblasen voll Pomp, ein Hohn für die Soldaten, die Maschinengewehrfeuer und tagelangen Artilleriebeschuss und Gas in dreckigen Gräben zwischen Stacheldraht und Schlamm ausgehalten haben. Denen die Läuse in den Nächten das Blut aus den Adern saugten. Dann die Flieger – die diesem Grauen scheinbar enthoben waren. Da war dieses Neue – eine andere Welt, eine neue Waffe, so voll von Faszination, so voll von Möglichkeiten. Sicher, seine Einheit hatte höhere Verluste als die Infanterie zu gewärtigen, aber – jeden Tag, der Himmel, die Sonne, die Momente der Flucht und der Enthobenheit, des Rausches und – keine Nächte im Dreck zwischen Ratten. Vorbei, die Luftwaffe gab es nicht mehr, ihre Reste wurden abgewickelt, Deutschland sollte keine Flieger mehr haben. Und er – keinen Platz, keine Perspektive in diesem Deutschland. Um was sollte er kämpfen, was wollte er erreichen? Ein Land zwischen der Desillusionierung der Niederlage und der Trauer über den Verlust seiner einstigen Größe. Zerrissen zwischen dem Hass derjenigen, die diese Niederlage nicht akzeptieren wollten und die dem altem System verhaftet blieben und denjenigen, die eine Revolution anstrebten. Die das alte ungerechte System, welches versagt hatte und die Welt in diese Katastrophe geführt hatte nun vollkommen auslöschen wollten und die ein Land, ja eine Welt mit einer völlig veränderten Gesellschaft schaffen wollten in dem alle Menschen den gleichen Wert hätten. Nun, in Russland hatte man die Gewalt gesehen die eine solche Revolution hervorbrachte und dass die alte herrschende Klasse nur durch eine Neue ersetzt wurde.
Warum sollte er also dieses Angebot nicht annehmen? Noch einmal rauskommen? Noch einmal etwas anderes im Leben sehen? Eine Ablenkung von der Trostlosigkeit?
Die Reise war umständlich, denn die Verbindungen waren immer wieder unterbrochen, aber er hatte Geld, und so fand sich immer wieder ein Automobil, welches ihn mitnahm. Die Formalia waren kompliziert aber es gab keine ernsthaften Probleme. Kein Franzose, kein Belgier war in der Lage ihn als Deutschen zu identifizieren. Ja, er fand Gefallen daran, ein Brite zu sein und sein Französisch um einem schweren britischen Akzent zu bereichern – oder dem, was er dafür hielt.
Und so querte er jene Gräben und Äcker, um die sie vier Jahre erfolglos gerungen hatten, er sah noch einmal die Ruinen der belgischen Dörfer und Städte, die das Pech hatten in der Schusslinie zu stehen. Er sah auch die endlosen Reihen der Gräber in den Friedhöfen. Dachte an die Freunde, die wohl darin lagen, dachte an diejenigen, denen ihr einziges Leben für einen sinnlosen Kampf entrissen wurde. Er kannte ihre Witwen, ihre Väter, Mütter und Kinder nur zu gut, kannte ihre Not, kannte ihre Verbitterung. Wieder war es der Wein, der ihm die ärgsten Schlingen um sein Herz lockerte, war es die Weichheit des Alkohols der sich wie eine Nebelwolke auf seine eigene harte Verbitterung legte. Schließlich war es Sommer, ein schöner Sommer und ein frisches Grün, welches sich über die kaum vernarbten Wunden des Landes legte.
Als er auf dem beschriebenen britischen Stützpunkt ankam, wurde er von seinem englischen Freund begrüßt. Der Stützpunkt selbst war weitgehend abgebaut, nur noch wenige Maschinen standen neben dem ungepflegten Rollfeld und in den Hallen. Es war nur noch wenig militärisches Wach- und Wartungspersonal vor Ort, die Szenerie wirkte seltsam friedlich, beinahe idyllisch. Er wurde den anderen Briten vorgestellt und es folgte ein ausgiebiges Mittagessen. Viel Wein floss – auch die Sieger hatten Schatten auf ihren Seelen, Schmerzen, denen die Schärfe genommen werden musste – und viele Zigaretten, sehr viele Zigaretten. Carl wunderte sich denn von Seiten der Briten spürte er keinen Hass, die Atmosphäre war geprägt von Respekt und Wehmut, die Gespräche drehten sich um das Glück des Fliegens, der Illusion, der Schwere der Vergangenheit und der Gegenwart für einen Augenblick zu entkommen. Schließlich kam das Gespräch wieder auf jene französische Pilotin, die so vielen Deutschen zum Verhängnis wurde. Einige der Briten erzählten, sie hätten sie gekannt aber sie hätten sie nicht ausfindig machen können. Sie hätten auch unter französischen Kameraden nachgefragt, aber unter diesen war noch zu viel Hass und Verbitterung – keiner hatte ein Interesse daran, Kontakt zu einem „Boche“, einem Deutschen aufzunehmen. Einer der Briten hatte ein Foto, das ihn im Kreise französischer Piloten zeigte, darauf war auch diese ominöse Pilotin zu erkennen: Fliegeruniform, kurze dunkle Haare, das Gesicht zu einer starren Maske gefroren, eine Zigarette im Mundwinkel eine Flasche Wein in der Hand. Hart, ausdruckslos, unheimlich.
Als sie an diesem Nachmittag den Qualm des Standortkasinos verließen kam von den Engländern auf einmal die Idee, ob er, Carl, nicht noch einmal Lust hätte, zu Fliegen. In Deutschland war es ihm ja nicht mehr möglich und sie alle teilten doch die Leidenschaft zu fliegen. Carl freute sich sehr und so bereiteten sie ihm eine jener Maschinen vor, in denen er so oft sein Leben wagte. Als er abhob winkte ihm eine Gruppe vom Alkohol benebelter Männer vom Flugfeld nach. Alte Feinde -neue Freunde? Er stieg hoch und spürte, wie dieses unbeschreibliche Glücksgefühl in ihm aufstieg, wie die Schwere von ihm abfiel und er lächelte in sich hinein. Er flog über die Felder, Wiesen und Flüsse eines Landes, welches unberührt von Elend seiner Welt zu sein schien. Er ging in diesem Moment völlig auf und dachte nicht daran, jemals wieder landen zu müssen als er ein zweites Flugzeug am Himmel bemerkte. Wohl einer der Briten, der auch Lust bekommen hatte.
Das Flugzeug näherte sich ihm an und als er schon daran dachte, den Piloten zu grüßen, riss ihn eine Salve aus einem Maschinengewehr aus allen Träumen. Das andere Flugzeug setzte sich hinter ihn und bestrich ihn immer wieder mit Salven. Er fühlte sich von einem Moment auf den anderen völlig nüchtern und begann um sein Leben zu kämpfen. Er überprüfte seine eigenen Waffen und merkte, dass auch diese aufmunitioniert und schussbereit waren. Und so versuchte er verzweifelt dem anderen Piloten zu entkommen oder selbst in Schussposition zu kommen. Mehrmals trafen Kugeln sein Flugzeug, manche verfehlten ihn nur knapp. In seiner Verzweiflung versuchte immer gewagtere Manöver zu fliegen, doch der andere Pilot war ihm überlegen und er schaffte es nicht aus dieser bedrohlichen Situation zu entkommen. Er befand sich in äußerster Anspannung und so flog er Manöver, so nah am Boden, dass er fast die Äste der Bäume streifte als er bemerkte, dass der andere Flieger auf einmal abschmierte. Anscheinend hatte dieser einen Schaden bei einem dieser Manöver erlitten. Er zog seine Maschine nach oben und beobachtete, wie das andere Flugzeug zu Boden ging und kurz darauf in Flammen aufging. Er brachte seine eigene Maschine mit knapper Not auf einer gemähten, flachen Wiese zur Landung und schnallte sich ab. Er brauchte einige Zeit, bis er sich so weit beruhigte, dass er wieder klare Gedanken fassen konnte. Schließlich überwog die Neugier die Angst und so beschloss er, sich auf die Suche nach dem abgestürzten Flugzeug zu machen, er musste wissen wer ihm das angetan hatte. War unter den Engländern doch noch jemand, der ihm seinen Hass verschwiegen hatte, der eine Rechnung mit ihm offen hatte?
Er fand das leere Wrack nur wenige Hundert Meter von der Stelle, an der er gelandet war. Als er sich auf der Suche nach dem Piloten umsah, bemerkte er in kurzer Entfernung eine Gestalt, die an einen Baum gekauert war und die ihn anscheinend noch nicht bemerkt hatte. Vorsichtig näherte er sich, immer darauf achtend, dass ihn der andere nicht bemerkte, denn er war ja unbewaffnet. Schließlich kam er so nahe, dass er erkannte, dass die Gestalt sich nicht bewegte, ja keinerlei Anstalten machte, sich zu bewegen. Sie lehnte in sich gekauert, an dem Baum und schien die Welt nicht wahrzunehmen. Carl hörte nur ein verlorenes Wimmern, ein Aufschluchzen und bemerkte, dass sie am ganzen Körper zitterte. Er fasste sich Mut und trat näher heran. Er bemerkte erst jetzt, dass es eine junge Frau mit kurzen dunklen Haaren war. Er setzte sich neben sie. Sie schwiegen, nach einigen Minuten ergriff er ihre Hand und hielt sie. Schließlich erwiderte sie seinen Griff und für Minuten, für Stunden, in stiller Spannung, unfähig zu sprechen und doch verbunden saßen sie an diesem Baum in Belgien.
Als es schon zu dämmern begann hörte er, dass sich auf dem nahen Weg ein Auto näherte. Es hielt an, einige Männer stiegen aus und bewegten sich auf ihn zu. Er kannte sie, seine Freunde vom Stützpunkt.
Im April 1920 erhielt der ehemalige Fliegerleutnant Georg von Rothenweiler einen Brief von einem Kriegskameraden, von dem er schon lange nichts mehr gehört hatte. Der Brief kam aus Brasilien, er öffnete ihn und begann zu lesen:
„Sao Paulo im April 1920,
Mein lieber Georg,
verzeih mir, ich habe dir schon lange nicht mehr geschrieben. Du warst mir immer einer der Kameraden, der mir am nächsten stand, du warst mir stets ein verlässlicher Freund. Ich wende mich nun mit einer großen Bitte an dich. In den nächsten Wochen wird sich ein Engländer bei dir melden, er ist ein Freund von mir. Ich lernte ihn letztes Jahr im April kennen und …“
Georg musste sich setzen, denn der folgende Inhalt bewegte ihn sehr. Er las über die Reise von Carl, über ehemalige Feinde, über ein letztes Luftgefecht und dass er eine Französin kennengelernt hatte, die ihm inzwischen sehr viel bedeutete, er schrieb weiter:
„… wir sind nach Brasilien gegangen, ein schönes Land, ein Land voller unbekannter Tiere und Pflanzen. Ein Land voller Üppigkeit und Wunder und immer ist es warm. Wir leben in der Stadt Sao Paulo, groß zwar aber etwas provinziell, wenn du es mit unseren Städten vergleichst. Wir versuchen uns dort eine neue Existenz aufzubauen. Das Leben dort ist hart und nicht sorgenfrei und wir müssen viel arbeiten, aber es eine Stadt, in der viele Menschen aus vielen Ländern leben, eine Stadt in der es keine Feindschaft zwischen Deutschen und Franzosen gibt.“
Schließlich übertrug er Georg mit dem Brief eine Vollmacht, seine noch vorhandenen Vermögenswerte zu veräußern und das Geld diesem Engländer zu übertragen, der es seinerseits nach Brasilien transferieren sollte.
April, es muss im April 1919 gewesen sein, als Carl die Nachricht erhielt. Der Krieg war vorbei, das Frühjahr breitete sich aus, doch das Land war ein anderes. Die alte Ordnung zerstört, eine Republik gegründet, die Menschen ohne Vorstellung davon – dazwischen, die Fundamente ihres Denkens und Fühlens aus den Angeln gehoben. Ein Engländer, wollte ihn sehen, in einem der besten Hotels der Stadt. Ungewöhnlich, ein Brite, ein Feind? Schon aus Neugier machte er sich auf den Weg und war doch überrascht, einen jungen Mann in seinem Alter zu treffen. Feine Gesichtszüge, ein feiner Anzug, gutes Auftreten, gutes Deutsch. Er stellte sich vor und erklärte, trotz der Zeiten geschäftlich in Deutschland zu tun zu haben. Fragte ihn, ob er jener Carl „von“ … war, der in den letzten beiden Jahren als Flieger in Belgien stationiert war, unweit vom Standort seines Geschwaders, den weiteren Namen kenne er nicht. Und er begann zu erzählen, wie er diese Jahre verbracht habe, die Einsätze jeden Tag, die ständigen Beobachtungsflüge, ja, und die Luftkämpfe. Die Lust am Fliegen – und die Trauer, die Trauer um so viele seiner Kameraden, seiner Freunde, die Angst, der Alkohol. Und er berichtete von einem der Gegner, vor dem sie alle Respekt hatten, der einen nach dem anderen von ihnen vom Himmel holte. Carl war berührt, er kannte diese Erlebnisse und Erzählungen nur zu gut, ja, er hatte viele Gegner vom Himmel geholt, wahrscheinlich diese Kameraden. Und wie viele Freunde musste er selbst betrauern? Carl fragte, ob er dieses Gerücht kannte, dass auf französischer Seite eine Pilotin geflogen sei, die ihrerseits so viele deutsche Flieger abschoss. Der Brite erwiderte, dass er diese Fliegerin gekannt hätte, ihre Einheit wäre nicht weit von seiner stationiert gewesen und fragte ob Carl an mehr Informationen interessiert wäre. Doch Carl schwieg, sagte nichts. Nicht nur die Niederlage lag auf seiner Seele, die es ihm verbot etwa selbst nach Frankreich zu fahren, nun auch noch die gefühlte Schande von einer Frau mitbesiegt worden zu sein.
Und so saßen sie lange da, der Sieger und der Besiegte, dessen Welt, dessen Werte in Trümmern lag. Beide Gewinner, denn sie waren am Leben, beide Verlierer, denn ihnen hatte der Krieg zu viel genommen, zu viel von ihrer Kraft gekostet. Beide mit Narben in ihrer Seele und Steinen auf ihrer Brust und beide mit einem erstaunten Lachen als sie sich gegenseitig in ihrem Erlebten wiederfanden. Als sie sich verabschiedeten, der Feind kaum mehr ein Feind war, da sprach der Brite ihn auf nochmal die Pilotin an. Er meinte, als Offizier mit guten Verbindungen auf britisch-französischer Seite, wäre es kein Problem Papiere zu besorgen um Carl nach Frankreich reisen zu lassen – und schließlich spräche dieser ja ein ausgezeichnetes Französisch und Englisch.
Einige Wochen darauf erhielt Carl tatsächlich einen Brief mit entsprechenden Papieren. Nun war er Engländer, ein Offizier in Zivil, für den sich nun viele Türen öffneten. Carl überlegte lange, was er tun sollte. Der Krieg hatte alles fast alles in seinem Leben verändert. Das Stolze „von“ in seinem Namen war obsolet geworden, stand für eine Zeit, für eine Gesellschaft, die es nicht mehr gab. Seine Familie hatte noch einen gewissen Besitz, das enthob ihn zumindest der materiellen Sorgen und dennoch fühlte er sich nicht wirklich wohl dabei. Wie sollte er dieses Privileg noch rechtfertigen, vor den Millionen, die gekämpft hatten, die ins Elend sanken? Vor den Familien derer, die nicht zurückkamen? Und da war sein Leben, das er, seit er Erwachsen war, nur beim Militär verbrachte – erst noch im Frieden, dann vier Jahre Krieg. Erst in einer stolzen Kavallerieeinheit, nach deren Auflösung bei den Fliegern. Kavallerie – gab es ein treffendes Bild für die Überkommenheit seiner Welt als das einen aufgeputzten Reiteroffiziers? Militärisch nutzlos geworden, aufgeblasen voll Pomp, ein Hohn für die Soldaten, die Maschinengewehrfeuer und tagelangen Artilleriebeschuss und Gas in dreckigen Gräben zwischen Stacheldraht und Schlamm ausgehalten haben. Denen die Läuse in den Nächten das Blut aus den Adern saugten. Dann die Flieger – die diesem Grauen scheinbar enthoben waren. Da war dieses Neue – eine andere Welt, eine neue Waffe, so voll von Faszination, so voll von Möglichkeiten. Sicher, seine Einheit hatte höhere Verluste als die Infanterie zu gewärtigen, aber – jeden Tag, der Himmel, die Sonne, die Momente der Flucht und der Enthobenheit, des Rausches und – keine Nächte im Dreck zwischen Ratten. Vorbei, die Luftwaffe gab es nicht mehr, ihre Reste wurden abgewickelt, Deutschland sollte keine Flieger mehr haben. Und er – keinen Platz, keine Perspektive in diesem Deutschland. Um was sollte er kämpfen, was wollte er erreichen? Ein Land zwischen der Desillusionierung der Niederlage und der Trauer über den Verlust seiner einstigen Größe. Zerrissen zwischen dem Hass derjenigen, die diese Niederlage nicht akzeptieren wollten und die dem altem System verhaftet blieben und denjenigen, die eine Revolution anstrebten. Die das alte ungerechte System, welches versagt hatte und die Welt in diese Katastrophe geführt hatte nun vollkommen auslöschen wollten und die ein Land, ja eine Welt mit einer völlig veränderten Gesellschaft schaffen wollten in dem alle Menschen den gleichen Wert hätten. Nun, in Russland hatte man die Gewalt gesehen die eine solche Revolution hervorbrachte und dass die alte herrschende Klasse nur durch eine Neue ersetzt wurde.
Warum sollte er also dieses Angebot nicht annehmen? Noch einmal rauskommen? Noch einmal etwas anderes im Leben sehen? Eine Ablenkung von der Trostlosigkeit?
Die Reise war umständlich, denn die Verbindungen waren immer wieder unterbrochen, aber er hatte Geld, und so fand sich immer wieder ein Automobil, welches ihn mitnahm. Die Formalia waren kompliziert aber es gab keine ernsthaften Probleme. Kein Franzose, kein Belgier war in der Lage ihn als Deutschen zu identifizieren. Ja, er fand Gefallen daran, ein Brite zu sein und sein Französisch um einem schweren britischen Akzent zu bereichern – oder dem, was er dafür hielt.
Und so querte er jene Gräben und Äcker, um die sie vier Jahre erfolglos gerungen hatten, er sah noch einmal die Ruinen der belgischen Dörfer und Städte, die das Pech hatten in der Schusslinie zu stehen. Er sah auch die endlosen Reihen der Gräber in den Friedhöfen. Dachte an die Freunde, die wohl darin lagen, dachte an diejenigen, denen ihr einziges Leben für einen sinnlosen Kampf entrissen wurde. Er kannte ihre Witwen, ihre Väter, Mütter und Kinder nur zu gut, kannte ihre Not, kannte ihre Verbitterung. Wieder war es der Wein, der ihm die ärgsten Schlingen um sein Herz lockerte, war es die Weichheit des Alkohols der sich wie eine Nebelwolke auf seine eigene harte Verbitterung legte. Schließlich war es Sommer, ein schöner Sommer und ein frisches Grün, welches sich über die kaum vernarbten Wunden des Landes legte.
Als er auf dem beschriebenen britischen Stützpunkt ankam, wurde er von seinem englischen Freund begrüßt. Der Stützpunkt selbst war weitgehend abgebaut, nur noch wenige Maschinen standen neben dem ungepflegten Rollfeld und in den Hallen. Es war nur noch wenig militärisches Wach- und Wartungspersonal vor Ort, die Szenerie wirkte seltsam friedlich, beinahe idyllisch. Er wurde den anderen Briten vorgestellt und es folgte ein ausgiebiges Mittagessen. Viel Wein floss – auch die Sieger hatten Schatten auf ihren Seelen, Schmerzen, denen die Schärfe genommen werden musste – und viele Zigaretten, sehr viele Zigaretten. Carl wunderte sich denn von Seiten der Briten spürte er keinen Hass, die Atmosphäre war geprägt von Respekt und Wehmut, die Gespräche drehten sich um das Glück des Fliegens, der Illusion, der Schwere der Vergangenheit und der Gegenwart für einen Augenblick zu entkommen. Schließlich kam das Gespräch wieder auf jene französische Pilotin, die so vielen Deutschen zum Verhängnis wurde. Einige der Briten erzählten, sie hätten sie gekannt aber sie hätten sie nicht ausfindig machen können. Sie hätten auch unter französischen Kameraden nachgefragt, aber unter diesen war noch zu viel Hass und Verbitterung – keiner hatte ein Interesse daran, Kontakt zu einem „Boche“, einem Deutschen aufzunehmen. Einer der Briten hatte ein Foto, das ihn im Kreise französischer Piloten zeigte, darauf war auch diese ominöse Pilotin zu erkennen: Fliegeruniform, kurze dunkle Haare, das Gesicht zu einer starren Maske gefroren, eine Zigarette im Mundwinkel eine Flasche Wein in der Hand. Hart, ausdruckslos, unheimlich.
Als sie an diesem Nachmittag den Qualm des Standortkasinos verließen kam von den Engländern auf einmal die Idee, ob er, Carl, nicht noch einmal Lust hätte, zu Fliegen. In Deutschland war es ihm ja nicht mehr möglich und sie alle teilten doch die Leidenschaft zu fliegen. Carl freute sich sehr und so bereiteten sie ihm eine jener Maschinen vor, in denen er so oft sein Leben wagte. Als er abhob winkte ihm eine Gruppe vom Alkohol benebelter Männer vom Flugfeld nach. Alte Feinde -neue Freunde? Er stieg hoch und spürte, wie dieses unbeschreibliche Glücksgefühl in ihm aufstieg, wie die Schwere von ihm abfiel und er lächelte in sich hinein. Er flog über die Felder, Wiesen und Flüsse eines Landes, welches unberührt von Elend seiner Welt zu sein schien. Er ging in diesem Moment völlig auf und dachte nicht daran, jemals wieder landen zu müssen als er ein zweites Flugzeug am Himmel bemerkte. Wohl einer der Briten, der auch Lust bekommen hatte.
Das Flugzeug näherte sich ihm an und als er schon daran dachte, den Piloten zu grüßen, riss ihn eine Salve aus einem Maschinengewehr aus allen Träumen. Das andere Flugzeug setzte sich hinter ihn und bestrich ihn immer wieder mit Salven. Er fühlte sich von einem Moment auf den anderen völlig nüchtern und begann um sein Leben zu kämpfen. Er überprüfte seine eigenen Waffen und merkte, dass auch diese aufmunitioniert und schussbereit waren. Und so versuchte er verzweifelt dem anderen Piloten zu entkommen oder selbst in Schussposition zu kommen. Mehrmals trafen Kugeln sein Flugzeug, manche verfehlten ihn nur knapp. In seiner Verzweiflung versuchte immer gewagtere Manöver zu fliegen, doch der andere Pilot war ihm überlegen und er schaffte es nicht aus dieser bedrohlichen Situation zu entkommen. Er befand sich in äußerster Anspannung und so flog er Manöver, so nah am Boden, dass er fast die Äste der Bäume streifte als er bemerkte, dass der andere Flieger auf einmal abschmierte. Anscheinend hatte dieser einen Schaden bei einem dieser Manöver erlitten. Er zog seine Maschine nach oben und beobachtete, wie das andere Flugzeug zu Boden ging und kurz darauf in Flammen aufging. Er brachte seine eigene Maschine mit knapper Not auf einer gemähten, flachen Wiese zur Landung und schnallte sich ab. Er brauchte einige Zeit, bis er sich so weit beruhigte, dass er wieder klare Gedanken fassen konnte. Schließlich überwog die Neugier die Angst und so beschloss er, sich auf die Suche nach dem abgestürzten Flugzeug zu machen, er musste wissen wer ihm das angetan hatte. War unter den Engländern doch noch jemand, der ihm seinen Hass verschwiegen hatte, der eine Rechnung mit ihm offen hatte?
Er fand das leere Wrack nur wenige Hundert Meter von der Stelle, an der er gelandet war. Als er sich auf der Suche nach dem Piloten umsah, bemerkte er in kurzer Entfernung eine Gestalt, die an einen Baum gekauert war und die ihn anscheinend noch nicht bemerkt hatte. Vorsichtig näherte er sich, immer darauf achtend, dass ihn der andere nicht bemerkte, denn er war ja unbewaffnet. Schließlich kam er so nahe, dass er erkannte, dass die Gestalt sich nicht bewegte, ja keinerlei Anstalten machte, sich zu bewegen. Sie lehnte in sich gekauert, an dem Baum und schien die Welt nicht wahrzunehmen. Carl hörte nur ein verlorenes Wimmern, ein Aufschluchzen und bemerkte, dass sie am ganzen Körper zitterte. Er fasste sich Mut und trat näher heran. Er bemerkte erst jetzt, dass es eine junge Frau mit kurzen dunklen Haaren war. Er setzte sich neben sie. Sie schwiegen, nach einigen Minuten ergriff er ihre Hand und hielt sie. Schließlich erwiderte sie seinen Griff und für Minuten, für Stunden, in stiller Spannung, unfähig zu sprechen und doch verbunden saßen sie an diesem Baum in Belgien.
Als es schon zu dämmern begann hörte er, dass sich auf dem nahen Weg ein Auto näherte. Es hielt an, einige Männer stiegen aus und bewegten sich auf ihn zu. Er kannte sie, seine Freunde vom Stützpunkt.
Im April 1920 erhielt der ehemalige Fliegerleutnant Georg von Rothenweiler einen Brief von einem Kriegskameraden, von dem er schon lange nichts mehr gehört hatte. Der Brief kam aus Brasilien, er öffnete ihn und begann zu lesen:
„Sao Paulo im April 1920,
Mein lieber Georg,
verzeih mir, ich habe dir schon lange nicht mehr geschrieben. Du warst mir immer einer der Kameraden, der mir am nächsten stand, du warst mir stets ein verlässlicher Freund. Ich wende mich nun mit einer großen Bitte an dich. In den nächsten Wochen wird sich ein Engländer bei dir melden, er ist ein Freund von mir. Ich lernte ihn letztes Jahr im April kennen und …“
Georg musste sich setzen, denn der folgende Inhalt bewegte ihn sehr. Er las über die Reise von Carl, über ehemalige Feinde, über ein letztes Luftgefecht und dass er eine Französin kennengelernt hatte, die ihm inzwischen sehr viel bedeutete, er schrieb weiter:
„… wir sind nach Brasilien gegangen, ein schönes Land, ein Land voller unbekannter Tiere und Pflanzen. Ein Land voller Üppigkeit und Wunder und immer ist es warm. Wir leben in der Stadt Sao Paulo, groß zwar aber etwas provinziell, wenn du es mit unseren Städten vergleichst. Wir versuchen uns dort eine neue Existenz aufzubauen. Das Leben dort ist hart und nicht sorgenfrei und wir müssen viel arbeiten, aber es eine Stadt, in der viele Menschen aus vielen Ländern leben, eine Stadt in der es keine Feindschaft zwischen Deutschen und Franzosen gibt.“
Schließlich übertrug er Georg mit dem Brief eine Vollmacht, seine noch vorhandenen Vermögenswerte zu veräußern und das Geld diesem Engländer zu übertragen, der es seinerseits nach Brasilien transferieren sollte.