Flohmarkt

GerRey

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Der Sonnenaufgang in Wien war heute für 05:38 Uhr berechnet worden. Ich verließ das Haus um 04:45 und ging gemächlich zum Bahnhof. Das Thermometer an meinem Fenster hatte 6 Grad angezeigt; aber es sollte ein sonniger Tag werden. Da ich schon ewig nicht mehr auf dem Flohmarkt war, wollte ich dorthin, um zu schreiben, zu fotografieren - oder einfach nur um zu feilschen. Ein kleines Tablet, um Notizen festzuhalten, steckte frisch aufgeladen in meiner Hosentasche. Auch die EOS hatte ich bei mir und drei vollgeladene Akkus. Dazu 144 GB Speicherkapazitäten. Die Kamera hing gewichtig an meinem Nacken, als ich den Bahnhof erreichte und den Zug um 05:16 Uhr in Richtung Stadtmitte nahm.
Die Reise verlief morgendlich ruhig. In Wien Mitte sah ich eine einzige Alkoholleiche; ein junger Mann saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden, den Rücken gegen einen Pfeiler gelehnt und den Kopf vorn überhängend.
Als ich in der Kettenbrückengasse aus der U-Bahn stieg und nach oben ging, waren gleich drei Abschleppwagen damit beschäftigt, falsch parkende Autos aus dem Marktgelände zu hieven. Mercedes, BMW und ein Renault. (“Ist heute Samstag?” - “Ja, der Flohmarkt-Tag!” - “Habe ich ganz vergessen.” - “Macht nix. Ihr Auto steht behütet in Simmering und ist gegen Gebühr abzuholen.”)
Viele Händler hatten bereits ihre Tische und Stände aufgebaut. Ein junger Mann mit Brille und hagerer Gestalt interessierte sich für ein Bild, das gerahmt war und in der Größe seinen Oberkörper leicht abdecken konnte. - “50 Euro”, sagte die Händlerin mit dem glatt nach hinten gebundenen schwarzen Haaren. Das war dem Jungen zu teuer. - “Wieviel willst du geben?” - “30 Euro”, wie ein Feilscher-Profi sah er nicht gerade aus. - “Nein, für 30 kann ich dir das Bild nicht geben” sagte die Frau und lächelte, als würde sie gleich den Rock lüften, um den Burschen zu verführen. “Sagen wir 40 Euro. Ich gebe es dir so billig, weil du heute mein erster Kunde bist und du mir für das Tagesgeschäft Glück bringen sollst” Der junge Mann nickte schüchtern und suchte die Geldscheine aus einem Bündel, das er aus der Hosentasche hervorgeholt hatte. Dann zog er mit dem Bild davon, bevor die Händlerin vielleicht doch noch auf komische Ideen kam.
Ich ging zuerst in der Mitte den Gang hinunter, und als ich ganz am Ende war, gab es einen Stand, der Bilder, Postkarten und Schmucksachen ausgelegt hatte. Aber der Mann war noch dabei, seine gestapelten Bananenkisten zu entleeren. Auf dem Tisch lagen zwei identische Bilderrahmen (ungefähr 20 x 30 cm), Fingerdick, schwarz mit silbernem Strichmuster … 20er, 30er Jahre, schätzte ich. Ohne Glas und Hinterwand. Mein Interesse hatte bereits zu arbeiten begonnen. Das waren genau die Rahmen, die ich für meine Holzschnitte liebte. Da der Händler beschäftigt war, wollte ich noch einmal eine Runde drehen und dann beiläufig nach dem Preis für die beiden Rahmen fragen. Als ich jedoch wiederkehrte, waren die Rahmen weg. Entweder verkauft oder verräumt. Jedenfalls nicht wiederzufinden unter den auf dem Tisch ausgebreiteten Sachen. Und danach fragen, würde den Einstiegspreis möglicherweise in die Höhe schrauben.
Ich beruhigte mich. Brauchte ich die Rahmen unbedingt? An meinen Wänden hingen genug Bilder. Es war nur die Gier und die Eitelkeit meines Schönheitsempfindens, die an den Rahmen hafteten.
Nachdem ich drei Runden gedreht hatte, verspürte ich ein dringendes Bedürfnis. Das Pissoir gleich gegenüber auf der Naschmarkt-Seite war kaum dreißig Schritte entfernt. Die Tür stand offen. Gleich links hinter der Tür waren zwei Urinale - beide durch die offene Tür einsehbar und beide besetzt, wie man an der seitlichen Hinteransicht der dort stehenden Männer erkennen konnte. Davor bildete sich schon eine Schlange. Neben dem Pissoir räumten zwei Frauen, beide um die 50, ein Auto mit Flohmarktware aus. Bananenkisten, Koffer auf Rollen, Klapptische. Ich stand als Dritter in der Reihe und sah ihnen eine Weile zu. Die Blond-gefärbte mit den kurzen Haaren gefiel mir. Sie war schlank, trug eine silberfarbene Jacke und eine dunkle Hose, und bewegte sich geschmeidig. Als ich endlich an die Reihe kam, wunderte ich mich über den Drang, weshalb es eine Weile länger dauerte, bis ich dann einen Schritt zurück trat, um den Hosenschlitz zu schließen. Dabei sah ich nach links zur Tür hinaus, wo die Blonde gerade einen Koffer Richtung Flohmarkt-Gelände rollte. Unsere Blicke kreuzten sich. Ich grinste: Wie ich dir, so du mir? Dann zog ich den Zipp hoch und verließ das Pissoir wieder.
Von Sonne sah der Morgen nicht viel, sondern eher Wolken. Mit der Zeit füllten sich die Gänge zwischen den Ständen - aber berauschend war es nicht. Meist waren ältere Leute und Sammler unterwegs. Ich hielt Ausschau nach den Dingen, die ich gerne gesammelt hatte: Fotos und Briefe. Von Briefen sah ich nur die üblichen Kuverts der Briefmarkensammler; sicher würden diese ohne Inhalt sein. Ich erinnerte mich, dass ich einmal einen ganzen Packen Briefe ergattert hatte, die ein amerikanischer Besatzungssoldat an eine Oberösterreicherin geschrieben hatte. Sie waren natürlich auf Englisch und die Mädchen im Theater - neugierig auf Liebesgeheimnisse - halfen mir, die Briefe zu übersetzen und in einige rote Ordner einzufügen. Aber das einzige Liebesgeheimnis, das sich in den Briefen offenbarte, dachte ich, war, dass der Besatzungssoldat schwarz war. Wo waren diese Ordner geblieben, fragte ich mich. In Tschechien, wo ich neun Jahre lang zum Teil gelebt hatte? Oder waren sie auf dem Dachboden? Im Schuppen? Oder gänzlich verloren?
Fotos hatten mehrere Händler auf den Tischen - aber ich war nicht versucht, darin zu blättern. Doch bei Briefen wäre ich schwach geworden. Schließlich musste ich ja auch an meine Transkriptorin Anika denken, die gerne aus den alten Schriften übertrug.
Mit der EOS brachte ich es gerade einmal auf eine Handvoll Aufnahmen. Wirklich interessante Sachen, die zu fotografieren sich lohnten, gab es kaum. Die meisten Händler waren ehemalige Osteuropäer, wie sich an den Sprachen erkennen ließ (Serbokroatisch, Polnisch, Slowakisch, Tschechisch - und von allen verstand ich ein paar Brocken)..
Nach etwa zwei Stunden hatte ich genug. Ich kaufte mir am Würstelstand bei der Kettenbrückengasse noch eine Käsekrainer und ein Bier. Dann fragte ich die Frau, die mir die Käsekrainer aufschnitt, wie sie die Pandemie verbracht hatte. Sie meinte. dass sie insgesamt ein Jahr zu Hause gewesen sei - ein verlorenes Jahr. Das Marktamt habe sehr strenge Kontrollen durchgeführt; da ja alle anderen Ämter geschlossen waren, wurde das Marktamt hier um zehn Beamte aufgestockt, die pausenlos kontrollierten. Bis Ostern habe sie die Leute noch auf "Impfung oder Genesung" kontrollieren müssen. Zehn Jahre arbeitete sie jetzt jeden Samstag hier, und nie sei so wenig los gewesen wie jetzt.
Da ich ihr gerne zuhörte, unterbrach ich sie nicht; sie sprach bedächtig und mit Ausdruck. So beschloss ich, bald einmal wieder her zu kommen - wenn schon nicht auf den Flohmarkt, so doch, um mich ein wenig mit dieser Frau zu unterhalten - bei einer Wurst und einem Bier. Oder vielleicht auch zwei.
 



 
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