Flucht

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Klaus K.

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Flucht

ER

Er blickte zum letzten mal von seinem kleinen Balkon nach unten.

Die Ein- und Ausfallstraßen aller größeren Städte, selbst der kleineren Ortschaften waren weiter an ihren Rändern bebaut worden um neuen Wohnraum zu schaffen. Kilometerlang, in zweigeschossiger Bauweise, kastenförmig, mit überall identisch geschnittenen Wohnungen. Es ging um die Unterbringung der neu hinzugekommenen und hinzukommenden Menschen. Die Zentralregierung hatte dies für das Land beschlossen, und die Bevölkerungszahl hatte sich innerhalb von zwei Jahrzehnten mehr als verdoppelt. Errechnet worden war eine insgesamt maximal dreifache Aufnahmekapazität im gleichen Zeitraum. Noch war demnach Platz.

Der Individualverkehr war abgeschafft worden. Es gab keine privaten Fahrzeuge mehr, per Gesetz. Die dafür erforderliche Infrastruktur war bereits lange vorher schon zum Erliegen gekommen. Lediglich unabdingbar notwendige Transporter zur Sicherstellung aller öffentlichen Aufgaben waren noch zugelassen. Für Notfälle, Versorgungs- und Sonderaufgaben. Dafür war der Verkehr mit Schienenbussen erweitert worden, mit Haltepunkten in regelmäßigen Abständen von jeweils exakt fünf Kilometern Entfernung und einer extrem kurzen Taktfrequenz in beiden Richtungen. So konnten Einkaufszentren, Krankenhäuser, Arbeitsplätze in Büros, Schulen und alle Freizeiteinrichtungen, alles in riesigen Centern, schnell erreicht werden. Ausschließlich elektrifiziert, leise und restlos emissionsfrei. Dazu kamen die gleichfalls an den Straßen eingerichteten und völlig überdachten Radwege mit zwei gegenläufigen Spuren.
Durch die vollständige Elektrifizierung des gesamten Landes waren Flächen für zusätzliche Photovoltaik und Windkraftanlagen notwendig geworden. Zusätzlich war aber der Bedarf für landwirtschaftlich nutzbare Gebiete gestiegen. In der Konsequenz hatte sich daraus ergeben, dass das Land aktuell nur noch die Anbauflächen für eine absolute Grundversorgung der Bevölkerung sicherstellen konnte. Man war auf Importe angewiesen und davon abhängig.
Das Bruttosozialprodukt des Landes hatte sich gleichzeitig drastisch verringert. Denn die Mehrzahl der Arbeitsplätze, überwiegend in öffentlichen Bereichen, produzierte keinen volkswirtschaftlichen Mehrwert. Die reine Verwaltung des Landes führte nicht zur Innovationskraft einer funktionierenden Wirtschaft. Aus einer Exportnation war eine Versorgungsnation mit massiv reduzierter Außenhandelsbilanz entstanden.
Parallel zu dieser Entwicklung war eine generell verminderte Leistungsbereitschaft der Bevölkerung und eine Lethargie in der Gesellschaft eingetreten. Die Uniformität einer breiigen, zähen Masse, die ständig größer wurde und eine fordernde Versorgungsmentalität angenommen hatte, war soziologisch erkannt aber aktiv nie prognostiziert worden. Entsprechende anfangs vereinzelt aufgetretene Tendenzen in Form eines Aufbegehrens nach einer grundlegenden Veränderung dieser Entwicklung konnten eingedämmt werden und hatten sich innerhalb von einem Jahrzehnt dann reduziert. Die staatliche mediale Unterstützung hatte dabei entscheidend mitgewirkt.

Insgesamt ergab sich ein trostloses, nahezu desaströses Bild, wenn er diesen Istzustand betrachtete und dann an die Zukunft und weitere Entwicklung dachte. Aber jetzt war bereits alles irreversibel.

Er blickte jetzt ein letztes Mal aus seinem Fenster. Er sah die schnurgerade Straße nach links und rechts, zugepflastert mit den immer gleichen Wohnblocks. Er hörte das leise Summen der Bahn, und sah die Menschenmassen. Ein letztes mal.

Alles war vorbereitet. In einer Stunde würde er in die Bahn einsteigen in Richtung der Küste. Sein Platz als einer der wenigen Passagiere auf dem Frachtschiff nach Durban war gebucht. Er hatte alles ausgearbeitet und minutiös organisiert. Von Afrika ging es dann weiter in Richtung Pazifik. Französisch-Polynesien. Tahiti. Gegenüber Kollegen hatte er sein Ziel nie genannt.
Urlaub, irgendwo. Er würde nie wiederkommen. Ihn hielt nichts mehr. Keine persönliche Bindung, keine Familie.
Und jetzt war er noch jung genug. Er konnte nur gewinnen. Und er wußte, was ihn erwartete. Im Gegensatz zu Gauguin.

Er war angekommen. Von Papeete aus nahm er ein Taxi, ein ganz normales Taxi. Ein völlig ungewohntes Gefühl von Freiheit überkam ihn sofort. Bis zu seinem Ziel, einer kleinen Gemeinde mit nur wenigen hundert Einwohnern und fernab von touristischen Zielen war es nicht weit, denn die Insel war nicht groß. Sein Französisch war gut genug für die Konversation mit dem einheimischen Vermieter seines bescheidenen neuen Domizils. Das lag am Rande des Dorfes und war schnell erreicht.
Er bezahlte die Miete für ein ganzes Jahr im voraus. Und er war jetzt ein Schriftsteller, der ungestört an seinem Roman arbeiten wollte. Das war wichtig, das sprach sich herum. Jeder sollte wissen, wer ab jetzt hier wohnte.
Am nächsten Morgen ging er dann durch den Ort. Schnell erkundete er die beiden kleinen Läden für den Einkauf der notwendigsten Dinge. Und er stellte sich überall vor, mit Namen, wo er jetzt wohnte und was er jetzt machen wollte. Einen Roman schreiben, aber dafür benötigte er entsprechend auch Zeit. Und Ruhe, um nachdenken zu können. Und deshalb war er hierher gekommen. Man verstand das sofort. Er war ein harmloser Gast.

Er war am Ziel. Alle anderen Dinge, die seinen Aufenthalt betrafen, würde er später klären. Seine finanzielle Ausstattung würde für mindestens zwei Jahre ausreichen, bis dahin musste er sich keine Gedanken machen. Er war erst einmal nur Tourist, und er war jetzt da. Das Klima war angenehm, die Menschen freundlich, die Sprache für ihn unproblematisch, und die Strände, Gauguin's Strände? Der Sand war schwarz, der vulkanische Ursprung ließ sich sofort erkennen. Aber das wusste er bereits.

SIE

Nach wenigen Tagen hatte er sich bereits eingelebt. Eine kleine Mauer vor seinem Haus diente der Einfriedung des Areals und jetzt als sein bevorzugter Sitzplatz im Freien. Er saß dabei direkt an dem einzigen Weg, der direkt von dem nur wenige hundert Meter entfernten Ortsende an der Strand führte. Eingesäumt von Palmen, der schnurgerade Pfad gewährte nach rechts den direkten Blick auf das Meer, bis dorthin war es kürzer als nach links bis zum letzten Haus des Dorfes. Er genoss die unglaubliche Ruhe und die Freiheit, an nichts denken zu müssen, aber an alles denken zu können.
Dann sah er sie. Sie wirkte gedankenverloren und hielt ihren Kopf gesenkt, den Blick nach unten gerichtet als ob sie etwas suchte. Sie kam vom Dorfrand mit langsamen Schritten, er konnte sie jetzt gut erkennen. Ihr Weg führte in Richtung Strand, und sie musste an ihm vorbei, was ihm ermöglichte, sie näher zu betrachten. Sie hatte sein Alter, vielleicht war sie sogar etwas jünger als er, und sie trug ein langes Kleid, weiß mit bunten Blumen gemustert. Halblanges schwarzes Haar, sie wirkte auf ihn wie eine Französin mit ihrer schlanken, fast grazilen Erscheinung.
Sie kam näher und musste jetzt wenige Meter vor ihm vorbei, hob ganz leicht ihren Kopf und sagte dabei leise "Hallo", mehr nicht.
Er war etwas irritiert, weil sie ihn zuerst angesprochen hatte, während er noch nachdachte, was er sagen sollte. Ein "Hallo" seinerseits folgte, aber sie war schon weitergegangen.
Sein Blick folgte ihr, sie ging an den Strand und hob dort ab und zu etwas auf. Dann kam sie zurück.

"Haben Sie gefunden was Sie suchten?"
"Wie bitte? Ach so, ja....es sind nur Muscheln, nichts weiter!"
"Darf ich mich kurz vorstellen? Ich habe Sie bei meinem Erkundungsgang durch den Ort gestern noch nicht gesehen..."
Er nannte seinen Namen.
"Ich weiß, ich habe bereits von Ihnen gehört - der Ort ist eine einzige Buschtrommel."
Sie nannte jetzt ihren Namen, fügte dann sofort hinzu: "Ich muss jetzt gehen..."
"Schade! Aber wir sehen uns bestimmt noch einmal?"
Er hat dies als Frage ausgesprochen, aber sie hatte sich bereits umgedreht und ging in Richtung der Dorfes zurück.
Ob sie seine Frage überhaupt gehört hatte, ließ sich für ihn nicht ausmachen. Sein Blick folgte ihr, sie hatte bereits den Ortsrand erreicht. Er konnte noch erkennen, dass sie bereits kurz danach eines der letzten Häuser auf der rechten Straßenseite betrat. Er wartete noch über eine halbe Stunde, aber sie kam nicht wieder heraus.

Am nächsten Tag kam sie wieder, er erkannte sie sofort. Heute trug sie ein hellblaues Kleid. Niemand sonst hatte diesen Weg durch die Palmen an den Strand genommen, er saß bereits seit Stunden an seinem Platz. Der Ort wirkte insgesamt wie ausgestorben, nur ab und zu kamen vereinzelt Bewohner in sein Sichtfeld.
Sie kam an ihm vorbei und hielt ihren Kopf dabei erneut gesenkt.
"Hallo, Frau Muschelsucherin!"
"Hallo!"
Mehr sagte sie nicht und ging weiter in Richtung Strand.
Er war irritiert. Hatte er etwas falsch gemacht? Gestern bereits?
Er beobachtete sie erneut. Sie suchte etwas im schwarzen Sand, hob es auf und steckte es dann in eine Seitentasche ihres Kleides. Bereits nach kurzer Zeit kam sie zurück.
Er war nervös, er spürte, wie sein Herz schlug. Sie kam näher.
Dann blickte sie ihn an, sagte aber nichts.
Er stand auf, dieser Drang, ihr etwas sagen zu müssen, war zu stark.
"Darf ich Ihnen etwas sagen?" Er stotterte dabei, und stand jetzt vor ihr. Er fühlte sich plötzlich unbeholfen wie ein Schuljunge.
"Was denn?" Sie war stehengeblieben und blickte ihn an.
"Ich....ich muss seit gestern die ganze Zeit an Sie denken...ist das, ist das nicht seltsam...ich..."
Sie kam auf ihn zu, hob ihre Unterarme nebeneinanderlegend vor ihren Körper und näherte sich ihm bis auf wenige Zentimeter.
Er war völlig überfordert mit der Situation.
Sie sagte nichts und legte jetzt ihren Kopf auf seine rechte Schulter.
Er war einen ganzen Kopf größer als sie. Sie sagte nichts, zwischen ihm und ihr befanden sich nur noch ihre Arme, die er jetzt auf seinem Oberkörper spüren konnte.
Er hatte das noch nie erlebt. Ganz vorsichtig legte er jetzt seine rechte Hand auf ihre Schulter, sie dabei kaum berührend.
"Ich muss gehen."
Mehr sagte sie nicht. Er blickte zu ihr herunter und sah die Tränen, die ihr seitlich über die Wangen liefen.
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie schob sich leicht von ihm weg, er zog seine Hand sofort zurück. Ganz zart, nicht wissend, ob sie die Berührung überhaupt gespürt hatte.
"Ich muss gehen!"
Sie wiederholte ihre Ankündigung, trat einen Schritt zurück und drehte sich dabei um. Sie ging sofort zurück auf den Weg.
Mit jetzt schnelleren Schritten entfernte sie sich zurück in Richtung des Dorfes.
Er stand wie versteinert vor der kleinen Mauer und blickte ihr nach. Sie drehte sich nicht um, blieb auch nicht mehr stehen.
Sein Blick folgte ihr, bis sie dann, ganz klein und bereits weit entfernt, in einem der Häuser auf der rechten Straßenseite verschwand.

Sie betrat die Küche. Ihr Mann saß am Tisch, vor sich eine Zeitung ausgebreitet.
"Wo warst du?"
"Am Strand."
"Ich muss gleich weg. Nachtschicht. Sieh zu, dass morgen was auf dem Tisch steht!"
Sie antwortete nicht und ging in das Wohnzimmer. Von dort hörte sie, wie die Eingangstür ins Schloss fiel. Er war weg.
Endlich weg. Elf Jahre waren genug.
Sie zog den kleinen Koffer aus ihrem Kleiderschrank. Alles war vorbereitet. Noch eine knappe halbe Stunde.

Der Bus kam pünktlich. Zusammen mit ihr gab es nur drei Fahrgäste. Dort am Hafen von Papeete stand der Frachter. Es gab nur zwei Plätze für bezahlende Mitreisende. Einen davon hatte sie belegt, als einzige Passagierin. Der Weg über den Pazifik war lang. Sehr lang, und Komfort gab es nicht.

Sie ging in den hinteren Teil des Busses, an das große Heckfenster. Die schnurgerade Straße war menschenleer. Ganz entfernt sah sie ihn, winzig klein. Er war aufgestanden und schaute dem wegfahrenden Bus nach. Sie wischte ihre Tränen mit dem Handrücken ab. Nein!
"Nein, nein, nein!" entfuhr es ihr dann ganz leise. Niemand hatte es gehört, niemand hatte sich zu ihr umgedreht, der Motor war zum Glück auch laut. "Nein!". Die Tränen wollten nicht aufhören.

Ihre ehemalige Freundin und deren Schwester, sie würden ihr helfen, denn sie waren vor langen Jahren gemeinsam bereits ausgewandert. Und ihr Mann kannte die beiden nicht. Es war bereits alles arrangiert. Kanada war ein riesiges Land, und in Quebec sprach man französisch. Der Frachter fuhr nach Vancouver. Dort würde sie dann abgeholt werden. Man würde sie später nicht auffinden können. Und ihr Mann würde die Suche nach ihr schnell aufgeben, wenn überhaupt.

Ein letzter Blick zurück. Die Straße hinter ihr war immer noch völlig leer. Und auch am hintersten Ende unter den Palmen war jetzt niemand mehr auszumachen.
 
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Matula

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Grüß Dich, Klaus !
Aus dem Urlaub zurück muss ich bei Dir lesen, wie schrecklich alles geworden ist. Dabei verstören mich weniger die Schienenbusse und überdachten Radwege, sondern mehr die Einheitshäuser mit den depressiven Menschen. Fragt sich nur: nach Vancouver oder lieber nach Papeete ? Schriftsteller kann man wahrscheinlich da wie dort sein.

Herzliche Grüße,
Matula
 

Klaus K.

Mitglied
Verspäteter Gruß zurück, Matula!

Vorab vielen Dank! Ich habe Ahnenforschung betrieben, auf einem dieser ominösen Portale. Eine Spur führte gaaanz weit zurück, bis zu den Primaten. Meine Frau hat nur noch gelacht! Die andere Spur ging nur bis zum 16. Jahrhundert. Stell' dir vor, da gab es eine Seitenlinie bei Nostradamus! OK, unehelich, aber was soll's? Es sind die Gene! Also, nicht verzagen, ein Blick in die Zukunft, der liebe Klaus kann es dir sagen! Siehe oben, ich sollte dem "ER" vielleicht Quebec doch noch verraten?
Hach, wie ich mich fühle! Morgen geht's nach Salzburg, wie ich meine Schwiegertochter kenne werde ich dann sofort getestet. Ohne Marillenbrand vorher mache ich aber nichts! Das ist dort mein Assistent, genannt "Bailoni".

Mit beschwingtem Gruß, Klaus
 

Matula

Mitglied
Schönen Urlaub wünsche ich, Dir und Deiner Frau !
Bitte ohne den "Assistenten" auf hohe Berge oder in tiefe Seen steigen. Wir verlieren jährlich ein Dutzend deutsche Touristen auf die eine oder andere Weise.

Herzliche Grüße,
Matula
PS. Würde mich freuen, wieder von Hubertus Moritz von und zu Wackenhorst zu hören - und von seinem Charles natürlich.
 



 
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