Flucht ins Verderben (Fortsetzung 1)

onivido

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Wenn Besuchstag war, blieb ich oft einsam im Pabellon zurück. Besuche wurden im Gefängnishof empfangen, wo wir unsere Tage vergeudeten, - nur nachts waren wir in die Pabellone eingeschlossen. Sogar Jürgen Patzke, der deutsche Sozialarbeiter, der von der Bundesregierung beauftragt war, den hier eingelochten schwarzen Schafen deutscher Nationalität beizustehen, mied mich wie die Pest. Unter den dreissig deutschen Sträflingen in Venezuela war ich der einzige Mörder und ausserdem unschuldig. Er hielt es für eine Zumutung, dass ich von ihm erwartete dies – wenn auch nicht zu glauben – so doch zur Kenntnis zu nehmen. Die anderen seiner neunundzwanzig Klienten, - einundzwanzig Männer und acht Frauen, - waren problemlosere Kunden. Diese, auf verschiedene Gefängnisse verteilten, weinerlichen möchtegern Drogenhändler waren dankbar für Medikamente, deutsche Sozialhilfe, Post von Angehörigen und duzende von anderen Kleinigkeiten, von denen in der Hölle eines venezolanischen Gefängnisses das Überleben abhängt.
Manchmal schielte ich nach den Frauen meiner Mithäftlinge, die zur sogenannten „visita conyugal“ kamen. In nur durch Vorhänge aus Leintüchern getrennten winzigen Abteilen paarten sich die Sträflinge mit ihren Besucherinnen. Alle Besuche brachten Nahrungsmittel, Zigaretten und Geld. Häftlinge der unteren Ränge mussten die Geschenke ihrer Angehörigen unter den Mitinsassen höheren Ranges in der Gefängnishyrarchie verteilen. Das kaufte ihnen eine Woche Schutz. Natürlich wurden auch Drogen und sogar Waffen eingeschmuggelt. Ich sah und schwieg, wusste aber genau wer welche Waffe besass und wer Kokain, Crack oder Marihuana verborgen hielt. Da mich nie jemand besuchte, hatte ich auch nichts zu verteilen.Stumm sass ich mit dem Rücken zur Wand im Gefängnishof und stierte ins Leere. Meine Gedanken kreisten endlos um den geheimnisvollen, sinnlosen Mord an Ninoska. War er wirklich sinnlos gewesen? Wem konnte er nützen? War Eifersucht das Motiv gewesen? Wer hatte Grund auf sie eifersüchtig zu sein?
Der Vater ihrer Tochter?
Nein, der hatte schon eine andere Frau.
Maria?
Ja, aber Mord? Unsinn!
Womöglich hatte sogar die Polizei die Hand im Spiel. Ninoska hatte als Journalistin viele Kontakte mit der Polizei. War sie irgendwem, irgend einer krummen Sache auf die Spur gekommen?
Überhaupt war sie mitunter geradewegs mysteriös gewesen.
Meine Ninoska.
Bevor wir uns kennengelernt hatten, hatte sie den Orinoco fast von seinem Ursprung bis hinuter zum Delta in einer Curiara befahren, den Pico Bolivar und Machu Pichu erklommen. Sie war von Santa Elena an der Grenze Venezuelas mit Brasilien bis an die Atlantikküste nach Belem getrekkt. Im Laufe der letzten zwei Jahre ihres Lebens hatten wir uns immer häufiger getroffen und uns mit Leib und Seele ineinander verliebt. Ihre Gesellschaft wandelte meine ausgedehnten Dienstreisen in die Ölförderungsgebiete zu abenteuerlichen Urlaubtrips. Nie hatte sie mir etwas über ihre früheren männlichen Bekanntschaften erzählt, ganz so, als hätten solche nicht existiert. Sehr rücksichtsvoll, jedoch ein bischen unnatürlich bei einer Frau mit ihrem Sexappeal. Über den Vater ihrer elfjährigen Tochter wusste ich ausser seinem Namen so gut wie nichts. Aber da war doch die Sache mit der Kinderpornogrophie.Wie konnte ich das nur vergessen haben? Erst vor ein paar Wochen hatte sie erwähnt, sie arbeite an einer Recherche darüber. Namhafte Persönlichkeiten seien in diese Aktivitäten verwickelt. Aber sie hatte nie wieder darüber gesprochen. Dennoch hier musste ich einhacken, aber wie.
Meine Gedanken drifteten zurück zu dem Tag, als unsere Romanze begann. Es war Sonntag, Marias Langschläfertag. Im Morgengrauen hatte ich mich aus dem Haus geschlichen, um einen Ausflug in die Cordillera auf den Pico Occidental zu machen. Der Aufstieg führt über Sabas Nieves, ein sehr beliebtes, an den Wochenenden überlaufenes, Ausflugsziel. Von dort windet sich der Pfad einsam steil aufwärts unter mächtigen Bäumen, zwischen Lianen, Büschen und Farnen. Auf einer kleinen Lichtung hatte ich Halt gemacht, um Aikidotechniken zu üben. Unverhofft war Ninoska aufgetaucht.
„Weiter kommst du nicht?“, hatte sie spöttisch gefragt.
„ Nur, wenn ich einen trifftigen Grund habe.“
„Bueno, ich brauche keinen weiteren, als hier in der Natur zu sein.“
„Und meinen Bauchspeck in Grenzen zu halten“, hatte sie lachend hinzugefügt.
„Davon sehe ich nichts.“
„Du hattest ja auch noch keine Gelegenheit dazu.“
„Was nicht ist, kann noch werden.“
Sie hatte gelacht und sich abgewandt, um weiterzugehen. Ich war ihr gefolgt.

Nur mit einem Short bekleidet lag ich rücklings auf den Fliessen der Terasse hinter unserem Haus. Hoch über mir schwebte ein Zamuro – ein Geier- am wolkenlosen blauen Himmel. Die Wipfeln der haushohen Bambusstauden wiegten sich in der sanften Brise. Maria deckte den Tisch im Freien. Als sie mir das Gesicht zuwandte, glitzerten Tränen in ihren grünen Augen. Der Himmel verdunkelte sich, der Zamuro kreiste jetzt schwarz und drohend tief über dem Dach unseres Hauses. Maria wandte sich ab und ging ins Haus. Ein Schatten fasste sie am Arm. Ich rief sie, aber aus meiner Kehle kam nur ein Krächzlaut. Ich erwachte auf dem Betonboden des Pabellon 4. Auf meinen Hals krabbelte eine Cucaracha, über mir schwankte Conejeros Hängematte. Ich war eingeschlafen. Angestrengt lauschte ich in das Dunkel. Meine Mithäftlinge schienen zu schlafen.
Maria, wie würde sie auskommen ohne mich? Maria, würde sie jetzt schlafen? Würde sie wachliegen, sogar an mich denken?
„Unsinn“, schalt ich mich. Sie braucht einen Typen wie mich nicht.
„Und von wegen an mich denken. Du bist unglaublich eingebildet.“
Dann wieder Ninoska, Erinnerungen, zuerst zaghaft dann übermächtig. Im Dschungel der Halbinsel Paria, auf dem Weg zur Küste waren wir an einem Tümpel angekommen in den ein kristalklarer Bach mündete. Ninoska begann ihre Stiefel auszuziehen. Augenblicke später stand sie nackt im knietiefen Wasser.
„Wie eine Bronzestatue, mit zottiger schwarzer Mähne“, kam es mir in den Sinn, bevor ich meine Kleider vom Körper riss und in den Teich watete. Eng verflochten waren wir im Wasser versunken.

Wieder war Besuchstag. Wieder kamen verhärmte Frauen mit Kindern auf dem Arm, Schlampen und abgezehrte Mütterchen. Wieder die Schlange zur erbärmlichen, aber unumgänglichen Rutine der Leibesvisite. Da sah ich ihn. Kai, unser Ältester, stand in der Besucherreihe. In den paar Monaten war er gewachsen, schlaksig seine Bewegungen. Vor Scham stockte mir der Atem. Mein Puls begann zu rasen. Verzweifelt suchte ich nach einem Versteck. Dann aber gewann die Vernunft die Oberhand. Wahrscheinlich kam er im Auftrag seiner Mutter. Ich musste mit ihm sprechen. Irgendwie musste ich es zustande bringen.
Linkisch drückte er mir die Hand. Dann sah er mir ins Gesicht. Als er meine beklemmende Ratlosigkeit bemerkte, umarmte er mich. Alle seien gesund. Das Haus und die Autos würden nächstens verkauft und die Familie würde nach Deutschland ziehen. Sie hatten bis jetzt von unseren Ersparnissen gelebt. Seine Mutter hatte auch einige Immobiliengeschäfte tätigen können und es gab momentan keine unüberwindlichen finanziellen Schwierigkeiten. Niemand wusste von seinem Ausflug nach Yare.
“Ich habe auch unsere Windsurfbretter verkauft,” sagte Kai leise und tonlos.
“Das Geld habe ich mitgebracht.”
“Kai, ich habe niemand umgebracht und ich bleibe hier nicht,” presste ich hervor.
Er verabschiedete sich mit einer Umarmung. Ich fühlte, dass er mir dabei etwas unter den Hosenbund schob. Ich sah ihm nach bis er aus meinem Gesichtskreis verschwunden war. Er wandte sich nicht um. Ich torkelte zur Wand, stiess mit mehreren Mithäftlingen zusammen und drückte mein Gesicht gegen die raue, schmutzige Mauer des Gefängnishofs.
Im Morgengrauen wagte ich das Bündel Geld unter meinem Hosenbund herauszufingern und zwischen die Schaumgummieinlage und die Sohle meiner Basketballstiefel zu stecken. Danach lauschte ich ängstlich gespannt auf die Geräusche im Pabellon. Niemand schien wach zu sein.
 
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