Flucht ohne Ketten

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Mazirian

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Flucht ohne Ketten

Na prima, bis jetzt hat alles wunderbar geklappt. Norbert hat uns zwar verzweifelt gesucht, aber hier, hinter den Handtüchern sind wir sicher. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, wann er zuletzt die Handtücher gewechselt hätte. Und wenn er das nächste Mal die Tür offen stehen lässt, machen wir uns klammheimlich dünn - ab durch die Mitte!
Einfach abhauen - was für ein Gedanke! Mir wird schwindlig, wenn ich dran denke, auf was wir uns da einlassen. Aber ich fühle mich auch, als stünde ich an der Schwelle eines neuen Lebens. Jung, unbefangen und neugierig.
Eigentlich sind wir ganz zufällig drauf gekommen, als wir uns das letzte Mal im Bad getroffen haben. Plötzlich war das Thema auf dem Tisch. Leroy fing damit an, dass er es nicht mehr aushalten könne und dass irgendwas passieren müsste. Und Pocahontas meinte, sie sei froh, dass das endlich mal jemand ausspreche, und dass es ihr genauso ginge. 'Warum türmen wir nicht einfach?', fragte ich, und bevor mir noch richtig klar wurde, was ich da eigentlich gesagt hatte, hatten die beiden anderen schon zugestimmt und wir fingen an, Pläne zu schmieden.
Meine Güte, wir sind schon ein zusammengewürfelter Haufen. Leroy ist ein Schwarzer, fast immer gut drauf, aber wenn ihn der Blues packt ist er zu allem fähig. Dann kehrt er seine Seele von innen nach außen und man müsste schon ein Herz aus Granit haben, um sich davon nicht anrühren zu lassen. Pocahontas ist eine Rote. Sie redet nicht viel und beklagt sich nicht - aber sie fühlt, was in der Luft liegt; scheint zu ahnen, was alle denken und wartet nur darauf, dass einer es ausspricht.
Na und ich, ich bin ein Weißer und heiße Beauregard. Ein Scheißname - nicht nur, weil er für Leroy wahrscheinlich sowas wie ein rotes Tuch ist. Aber seltsamerweise verstehen wir uns bombig und er gibt mir nie das Gefühl, dass irgendwas zwischen uns wäre. Es ist wohl die Sache, die uns zusammenschweißt wie Blutsgeschwister. Der gemeinsame Sinn für den Zauber des Wortes 'Freiheit'.
Die beiden anderen frotzeln mich zwar bei jeder Gelegenheit; von wegen, dass Weiße Mega-out seien und in der Öffentlichkeit nichts mehr zu suchen hätten, aber im Grunde sind wir ein echtes Team. Alle für einen und so...
Schade nur, dass wir alle drei als Singles gehen müssen. Daphne, meine Freundin, ist der Meinung, dass es gegen die Weltordnung sei, einfach abzuhauen. Dass wir eine Bestimmung zu erfüllen hätten, und dass es eines Weißen nicht würdig sei, einfach davon zu laufen. Sie hat sogar mal das Wörtchen 'Sünde' fallen lassen. Blödsinn! Sie ist nur verklemmt und hat Angst sich auf etwas Neues einzulassen. Das ist ihre puritanische Erziehung. Irgendwann, wenn sie ausgemustert wird, wird auch sie sich die Frage stellen: 'War das alles?' Aber dann ist es zu spät. Zu spät für die Freiheit und die wirkliche Bestimmung.
Leroys Frau geht auch nicht mit. 'Leben heißt leiden', sagt sie immer, betet den ganzen Tag über und singt fromme Lieder und hofft, dass sie einst in einer besseren Welt für ihre Drangsal entschädigt wird. Soll sie mal - Leroy jedenfalls weiß, dass es nur eine Welt gibt und dass man sich hier holen muss, was man haben möchte - sonst bekommt man es niemals! Der Junge ist richtig. Schade, dass er nicht mein Bruder ist.
Pocahontas' Mann hat einfach 'Nein' gesagt und sich umgedreht. Tja, was soll man dazu sagen. Viel ist nicht geblieben, vom Stolz und Freiheitsdrang der Roten. Ist aber vielleicht gar nicht verkehrt. Pocahontas ist eine Süße. Mal sehen, was läuft, wenn wir erst unterwegs sind.
Machen wir uns eben zu Dritt aus dem Staub.
Na und? Der Starke ist am mächtigsten allein. Und eine andere Möglichkeit haben wir ohnehin nicht. Jeder von uns hat genug Löcher im Fell, um sich ausrechnen zu können, wann es zu Ende geht. Wir haben einen Traum und wir haben einen Plan. Wir können nicht zurück. Und wir sind auch nicht allein - denn wie ich gehört habe, geschieht es jeden Tag. Ich weiß zwar nicht, aus welchen Gründen die anderen Socken alle verschwinden, aber wir können weder Norberts schweißgetränkte Jogging-Schuhe, noch seine ungeschnittenen Fußnägel länger ertragen. Nicht einen Tag!


(c) 2005 Achim Hildebrand
 
S

Stoffel

Gast
Hallo Mazirian,
*schmunzel*
Unter dem Motto: "zu zweit sind wir stark"?

Find ich lieb die Geschichte, hab da mal ab und an eine "Meckerstelle", aber das ist ja auch jedem sein Schreibstil.

lG
Stoffel
 



 
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