Flucht über die Nordsee 27: Heimlichkeit

ahorn

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Wellen schmettern übers Deck

Das Glänzen des Goldes,

das Funkeln der Brillanten
gefährdet das Ziel.
Denn oft schon wurde die Gier auf mehr
dem Entdecker zum Verhängnis.
Er ändert den Kurs,
riskiert eine Meuterei
und ignoriert,
verblendet im Wahn,
die Gefahr am fernen Horizont.



Unbekanntes Land

Heimlichkeit

„Und?“ Aishe fing Stephen vor dem Restaurant ab. „Habt ihr Gerti gefunden?“
Er sah zu Boden. „Nein!“
Daraufhin packte sie seinen Arm. „Warum hast du mich damals nicht geheiratet?“
Stephen blieb stehen, streifte ihre Finger von seinem Arm, kam sodann ihr nahe, bis ihre Nasen sich fast berührten. „Weil ich dir nie ein richtiger Mann gewesen wäre.“
Grunzend zuckte sie zurück, wandte ihr Gesicht ab, verschränkte ruckartig die Arme unter ihrer Brust und presste jene an ihren Oberkörper. Es hatte den Anschein, als quoll ihr Busen aus ihrem Ausschnitt. Zum Angriff bereit, gleich einer Faust, ihre Kraft auf Stephens bubenhaften Antlitz auszuleben. „Alle mal besser als Friedl.“
Schwer atmend legte er seine Hand auf ihren angespannten Unterarm. „Erzähle mir lieber mehr von Tanja. Ich vertraue ihr nicht.“
Aishe schaute auf die sie berührenden Finger. „Warum?“
„Warum hat sie mir nichts von Antonia erzählt?“
Er löste den Griff, dafür presste sie ihre Lippen und tippte an ihre Schläfe. „Das fragst du mich?“ Dann richtete sie den Finger wie eine Pistole an seinen Leib. „Verheimlichst du nicht mir auch etwas?“

Er senkte den Blick. „Falscher Alarm!“ Stephen massierte sein Genick. „Die ganzen Jahre. Ich war vor ein paar Tagen beim Gericht.“
Ein Lächeln zuckte über Aishes himbeerroten Mund. „Und?“
Stephen schüttelte den Kopf und zischte: „Vergiss es! Und“.
Sie runzelte die Stirn, dabei schritt sie zurück, als wollte sie fliehen. „Was?“
Er hielt ihr seine Handfläche hin, während er sie anstarrte. „Was weißt du von ihr?“
„Nichts!“ Sie wandte den Blick ab und zupfte an ihrer Nase. „Ich habe sie nur einmal bei Josephines Windelparty gesehen. Das weißt du!“
„Auf ihrer Hochzeit?“
Aishe sah zu Boden. „Da haben wir uns nicht unterhalten.“

Die Tür vom Restaurant flog auf.
„Kommt endlich rein“, donnerte Franziska. „Stephen, wo ist deine Frau?“
Er zuckte mit den Schultern, nahm Aishes Hand und begleitete sie ohne Umwege in den Gastraum.



Auf kleinem Fuß

Stille breitete sich aus, als Tanja mit Antonia gackernd das Lokal betrat.
Franziska trommelte auf den Tisch. „Wo bliebt ihr nur?“
Beide schritten zum Restauranttisch, stellten zur gleichen Zeit je eine Tasche ab.
Tanja setzte sich an Stephens Seite und zwitscherte: „Wir konnten nicht“.
Antonia hüpfte um die Tafel herum, setze sich auf den freien Platz zwischen Alina und Matthias. „An dem Schuhgeschäft vorbei“, vollendete sie den Satz.
Tanja öffnete ihren Beutel, entnahm ein Paar Sandaletten, trällerte: „Schatz“, dabei stellte sie diese auf den Tisch. „Schick, oder!“ Sie strich Stephen über den Arm, den er unmerklich zurückzog, worauf sie ihre Tochter Antonia anlächelte. „Zeig deine!“
Antonia zerrte ein Paar Slingback-Pumps heraus.
„Fundig“, hauchte Alina, haschte sich das himmelblaue Schuhwerk und strich über die glitzernden Strasssteine am Absatz.
Franziska schmetterte ihrer Schwiegertochter einen abfälligen Blick zu. „Tanja, viel zu hoch für ein junges Ding.“
Ihre Stirn gerunzelt, beugte sich Aishe unter den Tisch, stellte einen Schuh neben ihrem Teller ab. „Franzi, das ist hoch!“
Aishe fiel in ein leises Kichern, woraufhin die Gäste zu ihrer Linke sowie Rechten das Geräusch aufnahmen, verstärkten, bis der Saal vor Lachen bebte. Erst nachdem Franziska die Führung übernommen hatte, ebbte der Anfall ab. Sie übergab die Aufmerksamkeit mit einem Glucksen an ihre Tochter.
Alina legte ein von Antonias Neubesitzen auf ihre Serviette ab, sah zu Boden und zuckte mit den Schultern. „Du hast ja winzig Fiass.“
„Alina, du ruinierst die Zeh“, donnert Franziska über den Tisch.
Die Angesprochene tauchte ab, stellte den Zweiten neben den ersten Pumps. „De passn ma eh ned.“
Valentin starrte zur Saaldecke und grollte:. „Woin mia olle unsa Schua auf den Disch stäin“, während er sich erhob und an sein Weinglas klopfte. „Liebe Familie …“

Das Mahl beendet, den Bauch gefüllt, rekelte sich Valentin von seinem Stuhl auf, schritt auf Stephen zu. Er drückte ihm einen Autoschlüssel in die Hand. „Kannst du ein paar Kisten Wein besorgen.“
Der Bräutigam verzog das Gesicht, presste die Lippen aufeinander und stöhnte: „Muss das sein“. Dann stiegen seine Mundwinkel empor. „Egal. Ich habe ohnehin, was zu erledigen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Hier.“ Er warf Valentin einen Schlüssel zu. „Wollt ihr etwa zu Fuß nach Hause.“



In geheimer Mission

Eine Frau, eingeharkt an den Arm eines Mannes, dessen grau melierte Schläfen im Sonnenlicht glänzten, standen vor dem Eingang eines Cafés. Er gab ihr den Vortritt. Sie schob den Petticoat ihres cremeweißen, schwarz gepunkteten Kleides zur Seite und trat ein.
Hatte es auf der Straße den Eindruck erweckt, das Paar wäre exotisch, so änderte sich das Bild beim Eintritt.
Pärchen saßen an Nierentischen. Die Damen in auffälligen Gewändern, ihre Schöpfe geziert mit Pferdeschwänzen oder extravagant hochgesteckt. Die Männer, wie jener, welcher an der Seite der Frau eingetreten war, allesamt in schwarzen Anzügen mit dünnen gleichfarbigen Krawatten.
Eine Jukebox spielte Stücke von Peter Kraus. Hinter einer Bar polierte ein Kellner in schneeweißem Hemd mit Weste nebst Fliege ein Cocktailglas. Die beiden schritten an dem nickenden Ober vorbei. Die Dame legte ihre behandschuhte Hand auf den Rücken des Begleiters, wodurch die Krempe ihres Glockenhutes seinen Oberarm touchierte.
Sie deutete in eine Ecke des Lokals, dabei trällerte sie Joos den Namen Gertrud ins Ohr.
Die Ertappte kauerte in einer auffälligen Tracht auf einer Ledersitzecke und rieb mit ihrem Zeigefinger über ein Likörglas.
Die Dame an seiner Seite begrüßte die Alte mit einem empörten Gerti, derweil Joos einen Stuhl vom Tisch abschob. Sie strich im selben Augenblick, als er ihr das Sitzmöbel unter ihr Gesäß schob, den Rock an ihre Schenkel und glitt auf das historische Möbel.

Der Platz war nicht der, den Joos sich ersehnt hatte. Sein Blick eingeschränkt, da er mit dem Kreuz zu den anderen Gästen saß. Allein die Theke mit dem Kellner konnte er, ohne den Kopf zu drehen, einsehen. Seine Gefährtin deutete auf die Schnapsgläser, fragte Gerti, ob sie einen Erfolg feiere. Joos kehrte seinen Tischdamen den Rücken zu, um die anderen Gäste zu inspizieren.
Der Altersunterschied zwischen den Damen und den Herren war unverkennbar. Wenn die Herrschaften nicht in den Kostümen gesteckt hätten, dann wäre Joos versucht gewesen, die Frauen, als Töchter zu bezeichnen, welche mit ihren Vätern einen nachmittäglichen Kaffeeklatsch abhielten. Dieses war ein Grund, weshalb er mit ihr, dieses Lokal aufgesucht hatte. Ein unbefangener Fremder hätte sie für sein eigen Fleisch und Blut gehalten, jedoch nicht für seine Verlobte, womöglich gar für seine Geliebte. Zu anmutig war ihr Äußeres, nicht gekünstelt, wie jenes der anderen Damen.
Der weitere Anlass entsprang ihrem Faible für den Fünfziger-Jahresstil.

„Ois vorbei und Franzi hod gewonnen“, hörte Joos Gertrud brummeln. Was sie damit meinte, war ihm schleierhaft? Und, er gestand es sich ein, für ihn, für seine Operation egal. Denn er hatte allein Augen für das Ambiente.
Den Tipp hatte er von einem Freund bekommen. Da er in Passau verweilte, hatte er das Private mit dem Dienstlichen verknüpft. Seine Verlobte erahnte nicht, weshalb sie das Café aufsuchten. Er gab vor, ihr eine Freude zu machen. Es fiel nicht auf, wenn sie als Touristen einkehrten. Ein Umstand den Gertrud ins Wanken brachte, denn sie in ihrer rustikalen Tracht, als ein Gast der Stadt anzusehen, entbehrte sich jeglicher Wahrscheinlichkeit.

Der Kellner schlich an ihren Tisch, frage nach der Bestellung. Wäre Joos ohne Begleitung, hätte er das Hausgedeck bestellt.
Er zog seinen linken Mundwinkel hinauf. Die Verlobte an seiner Seite, sowie Gertrud Vis-a-vis, orderte er einen Cognac und ein Kännchen. Um nicht aufzufallen, wandte er sich wieder den Damen zu. Seine Begleiterin pellte ihre Finger aus ihren Handschuhen, legte diese auf den Tisch ab, strich jene glatt und forderte Gertrud auf zu erzählen.

Erneut erschien der Kellner, stellte die Getränke lustlos auf den Cafétisch. Während seine Gäste ihn betrachteten, wandte dieser sein Gesicht der Theke zu. Joos folgte seinem Blick.
Eine von den Damen von den Nierentischen klopfte ungeduldig auf den Tresen. Kopfschüttelnd marschierte der Ober auf sie zu, schlang sich hinter den Barbereich und öffnete einen ringordnergroßen Kasten an der Wand. Er studierte seinen Bestellblock, nahm der Dame einen Zettel ab und heftete diesen an seinen Block.
Sein Gesicht zur Dame gewandt, schwang er seinen Arm zurück und schnappte, wie im Blindflug, einen der Schlüssel. Die Frau übernahm diesen und steckte jenen in ihre taschenbuchgroße Handtasche. Bevor sie sich abwandte, winkte sie dem Kellner zu. Mit temperamentvollem Schritt stöckelte sie zurück zu ihrem Begleiter. Sie setzte sich jedoch nicht an dessen Seite, sondern flanierte an diesem vorbei. In seinen Augenwinkeln sah Joos, wie der Herr, sodann, einzig mit einem Seitenblick zum Kellner, aufstand und der Dame aus dem Café folgte.
Joos hatte genug gesehen, nahm sich vor, ohne seine Verlobte ein zweites Mal, den Laden zu betreten. Beim nächsten Mal gewiss keinen Cognac, sondern ein Hausgedeck zu bestellen. Einen kräftigen Schluck Cognac in den Mund spülend, lauschte er den Stimmen seiner Tischdamen.

Seine Begleiterin umfasste Gertruds Unterarm. „Ach Tantchen! Ich nehme das in meine Hand.“
Ohne auf die Worte einzugehen, beschaute Alfons Schwester den Ringfinger auf ihrem Arm, dann sah sie ihn, Joos an. Ein Lächeln hüpfte über ihre Lippen. „Jannette! Sog bloß ihr woit Heiradn“.
Joos verdrehte seine Augen und murmelte: „Wenn ich geschieden bin“, dabei sann er darüber nach, was seine Noch-Ehefrau dazu sagen würde, wenn er diese aufspürte. Er hätte sich seit Jahren von ihr scheiden lassen können. Wie so oft ging es ums Geld. Jetzt würde er auf ihre Ansprüche eingehen, somit frei sein.

Gertrud lächelte ihn zufrieden an. Ein ihm erschreckendes Lächeln. War sie mehr als die Verschrobene? Gehörte sie zu dem Pakt? Immerhin war sie Alfons Schwester, somit ging sie bei ihm ein und aus. Sie kannte seine Geheimnisse besser als jeder andere. Dann zeigte ihm ihr großmütterliches Zwinkern Wehmut hinter dem Grinsen.
Seine Zukünftige kundschaftete, ohne dass sie es wusste, Gertrud aus. Josephine sowie Klara kümmerten sich, zu seinem Entsetzten, um Alina. Die Rollen standen damit für Joos fest. Trotzdem nahm er sich vor, sich selbst, um den Fall zu kümmern, obwohl die Zeit es ihm nicht hergab.
Auf den Spitzel war kein Verlass, zu jung, zu unerfahren. Das kurze Verschwinden von Alina hatte ihn in Panik versetzt. Nur, weil sie von einem Fremden angesprochen, das Weite gesucht hatte. Auf dem Weg nach Passau hatte sein Spitzel ihn angerufen.
Jetzt war er da und sein Herz klopfte, als er ihr Parfüm inhalierte.



Geister der Vergangenheit

„Hast scho ma Betten bezogen?“
Für diese Frage hätte Antonia Alina am liebsten erwürgt. Es hörte sich für sie an, als wäre sie ein verzogenes blondes Püppchen, welches unfähig war, einen Haushalt zu führen. Recht hatte sie! Die Tonlage und wie Alina sie damit titulierte, missfiel ihr. Zu Hause beteiligte sie sich vereinzelt an der Hausarbeit. Nicht, dass Bärbel sie davon befreite, eher im Gegenteil. Antonia hatte in jahrelangen Studien herausgefunden, die nervigsten Sachen zu umschiffen. Wie der Admiral war sie Perfektionistin, diesen Wesenszug nutze sie schamlos aus. Außerdem war sie keine blonde Barbie, sondern hieß Antonia, ein fesches Madel, brave Tochter und, sie wunderte sich selbst darüber, war stolz darauf. Zumindest nahm sie sich jenes bis zur Abreise vor.

Sie wollte mehr von Jannette erfahren. Wie sie war, wie sie aussah? Dennoch sollte bei Alina nicht der Anschein aufkommen, dass Antonia sie ausfragte.
Das Bettlaken gefasst, sah sie diese an. „Schwesterchen. Warum beziehen wir hier die Betten?“
Alina schnappte nach der anderen Seite des Lakens. „Auf’m Hof hab’m wir nicht genügend Betten für alle Gäst“, zischte sie, wobei sie ihr Ende zwischen Matratze und Bettgestell stopfte.
Franziska mietete oftmals Zimmer im Gasthof, berichtete Alina ihr. Ihr Traum sei es, den ganzen Hof zu übernehmen. Es fehle ihr an den Sicherheiten, bekäme nicht den nötigen Kredit, um ihn vom Besitzer abzukaufen. Ein Sachverhalt, der sich durch die heutige Hochzeit änderte. Zumindest im Fall des Todes des alten Alfons, wie Alina mit Nachdruck feststellte. Nach ihrem Wissen solle dieser Stephen, nachdem er seinen Lohn abkassieren würde, den Bauernhof auf Franziska überschreiben. Ekstase erklang nicht aus Alinas Worten.

Antonia legte ihre Hände auf ihre eigene Schulter. „Ich verstehe, dann hat sie weniger Zeit für dich.“
Sie senkte ihren Blick, presste die Lippen zusammen. Es war für sie der richtige Zeitpunkt.
Sie hopste ums Bett, schnappte sich ein Kopfkissen, stopfte es in den Bezug. „Sag einmal. Wie sieht Jannette aus?“
Alina packte das zweite Kissen, schüttelte es aus. „Fesch!“
Ihre Augenbrauen zusammengezogen, die Stirn gerunzelt, starrte Antonia sie an.
Alina schlug auf das Kissen ein. „Scheen halt!“ Sie schwang ihren Kopf. „Biss’l größer als wir.“ Ihre Handkante an die Rippen gedrückt. „Langes nussbraunes gewelltes Haar. Zarte Finger. Makellose glatte Haut.“
„Keine roten Haare?“, konterte Antonia.
Sie wendete den Bezug. „Weiß ich nicht. Vielleicht hat sie’s gefärbt.“
Antonia erinnerte sich an den Inhalt von Stephens Kleiderschranks. „Eine Perücke?“
Schnippisch verschränkte Alina ihre Arme und zischte: „Kann sein!“, dabei umspielte der Kopfkissenbezug ihre Hüfte. „Eines fiel mir auf, sie trägt een Siegelring.“
Antonia zupfte an ihrem Ohrläppchen. „Einen Siegelring?“
Alina verdrehte ihre Augen. „Ja so a Ding, den alte Männer trogen.“ Sie musterte das Bett. „Und deen Mama.“
Tanja trug einen Siegelring? Sie achtete nie darauf, welchen Schmuck die Mutter aufsetzte. Antonia schmunzelte, wie schnell ihr Geist sich an dieses Bild gewöhnt hatte. Warum? War es ein Hinweis von Alina, weil sie ihre angebliche Mutter erkannt hatte.

Ein imaginärer Arm umschloss Antonias Hals, nahm sie in den Schwitzkasten. Der Puls raste. Ihr Herz klopfte. Übelkeit überkam ihr, in einer nie vernommen Art. Alina und sie hatten die gleichen naturwissenschaftlichen Interessen. Sie tickten ähnlich. Antonia umgarnte das Gefühl, als sehe Alina ihre logischen Rückschlüsse. Im Geiste holte sie erneut ihr Spiel hervor, studierte alle ihr bekannten Karten.
Sie revidierte die Annahme, Tanja mit Jannette zu einer Person zu vereinigen. Obwohl kein Beweis vorhanden, nichts von ihr bestätigt, definierte sie, dass ihre Schwester, wie sie Antonia, die Verschollene spielte. Mit diesem Theorem besaß sie erneut eine Tochter und ein Gelüste auf Rache.
Franziska hatte ihr das Kind entzogen und der Vater Stephen war das Plagiat. Sonst! Ihre Übelkeit wuchs ins Grenzenlose. Sie vernahm nicht ihren Brechreiz, die eigene Seekrankheit, sondern die, der weiter teilnahmslos die Bettwäsche straffenden Person. Wenn Alina ihr Nachkomme sowie Antonia ebenfalls, und Alina kam auf die gleichen Schlüsse, dann kristallisierten sich zwei Fälle aus.
Der Erste: Sie war nicht das Mädchen, für das sie alle hielten. Resultat damit wackelte ihre Fassade. Alina hatte sie überführt.
Der Zweite: Die Alternative war nicht minder problematisch. Erich Kästner manifestierte sich in Antonias Gehirn. Alina belesen. Entdeckt hatte sie das Buch nicht in Alinas Sammlung. Sie, Antonia hatte dieses nie gelesen, kannte allerdings die Geschichte aus dem Fernsehen. Nach der Geburt getrennt. Eins eine Prinzessin, das andere burschikos. Was musste in Alina vorgehen, nachdem sie, Antonia in ihr Leben gestürzte war.

Antonia raufte sich die Haare, ohne einen Finger zu bewegen. Ein altes Paradox entfaltete sich. Wann und wo hatten sie die Chance, ein Kind zu zeugen? Die Schwester lebte in Südafrika. Und er? Sie drehte den Satz mehrmals, kaute in durch. Die Antwort Tanjas auf den Zeitpunkt quoll in den Vordergrund. Klar. Sie wusste es nicht, da sie nicht zum Augenblick des Todes bei ihrer Eltern wohnte.
Das Märchen, dass die Tante wegen ihrer Geburt zu ihnen gereist war, verblasste. Dagegen hellte sich die Nähe zwischen ihr und ihrem Großvater auf.

„Ist’st dir neet gut?“, schreckte sie Alinas Stimme aus ihrer Welt.
Antonia wischte sich den Schweiß von der Stirn, obwohl sie fror. „Alles klar! Mir ist nur ein wenig schwindelig.“
Alina trat auf sie zu, berührte mit ihren dünnen Fingern ihren Unterarm. „So hat es bei mir auch angefangen!“
„Was?“
„Das sind die Hormone. So hats bei mie a angefangen, als i das erst mal mein Tag bekommen hab.“
Antonia unterdrückte die aufkommende Genugtuung. Alina bot ihr an, die restlichen Arbeiten allein zu vollenden. Dafür solle sie sich hinlegen. Wenn sie ihre Hilfe benötige, unterstrich sie schwesterlich, dann sei sie für sie da. Ansonsten lägen ihre Hygieneartikel im Bad.

Antonia rannte die Treppe zum Obergeschoss hinauf. Alina hatte ihr keinen Hinweis gegeben, ob sie sich umziehen wollte. Dennoch beeilte sie sich. Der Gedanke daran, dass Alina ihr bei ihren angeblichen Tagen Beistand angeboten hatte, ließ ihr einen Schauer über den Rücken rinnen.
Aus Matthias Zimmer erklangen Worte. Entweder hatte er Besuch oder er telefonierte mit Freisprecher. Sie huschte in Alinas Reich. Die letzten Übungen hatten sich ausgezahlt. In Windeseile entkleidete sie sich. Die Strumpfhose flutschte ihr über die Beine, das marineblaue Partykleid wehte an ihrem Körper. Das Kleid in das sie sich sofort verliebt hatte, damals in Bremen, als die Welt für sie einen festen Kurs hatte. Nie, obwohl sie vor Tanja keine Geheimnisse hütete, wäre sie so weit gegangen, dieses Entzücken mit ihr zu teilen. Sie spielte eine Rolle, und das Kleid war ein Teil davon. Nur den Reißverschluss bekam sie nicht zu.
Sie presste das Kleid an ihren Oberkörper. Anschließend schnappte sie die neuen Slingpumps und trippelte auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.

Matthias‘ Zimmertür stand einen Spaltbreit offen. Antonia überkreuzte die Beine. Sie klopfte an, dabei kratzten ihre Schuhe am Türblatt. Kein Hallo, nicht einmal ein Gebrummel erklang. Erneut klapperten die Pumps am Holz.
Mit flirrenden Augen späte sie zu beiden Seiten, drückte die Tür weiter auf und flüsterte: „Matthias?“.
Sie schob die Tür so weit auf, bis ihr Kopf hindurchpasste. Die Lippen geschürzt, schielte sie in sein Zimmer. Die Bude von ihm war so geräumig wie Alinas, jedoch von oben bis unten voll gestellt. Sie betrat den Raum, trippelte zwischen herumliegenden Kleidungsstücken.
Ein Militariahändler hätte seine Freude gehabt, wenn er in den Genuss gekommen wäre dieses Zimmer zu betrachten. Kalter Schweiß rann über ihren nackten Rücken. Die Knie weich, schlich sie, den einzigen freien Pfad folgend, bis an Matthias Schreibtisch, weiter. Ein Adler aus Messing mit weiten Schwingen schützte die Habseligkeiten des Jungen. Ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto stand unter dem einen Flügel, eins in Farbe verbarg sich unterhalb dem anderem.
Auf dem Ersten posierte ein Herr in Uniform. Antonia kniete nieder, stellte die Schuhe ab, erhob sich, umfasste dabei das Zweite. Drei ihr unbekannte Männer hielten einen kapitalen Fisch. Ihr zitterte die Hand, gleichwohl stierte Antonia auf den Hintergrund der Aufnahme. Der Leuchtturm Hohe Weg glänzte in seinen ihr bekannten ziegelrot. Oft hatte sie zusammen mit Tanja diesen umrundet. Ihr Kinn vibrierte. Die drei Gestalten standen auf dem Deck eines Motorbootes. Nicht irgendeines Bootes. Es war das Schiff des Großvaters, mit dem er, bei fahrensfreier Zeit, Touristen die See näherbrachte.

„Schickse, was machst in mein Zimmer“, donnerte es hinter ihr.
Starr keiner Emotion fähig, verharrte Antonia, bis eine Hand an dem Foto zehrte.
„Dees ist meins“, schnauzte Matthias.
Die Lippen dünn, schaute sie weiterhin auf das Bild. „Wer sind die Männer?“
Die andere Hand löste sich. Der Zeigefinger spreizte sich ab, tippte auf den Älteren der Drei.
„Das ist mein Großvater“, erklang es weich.
Matthias legte seinen rechten Arm auf Antonias Schulter, berührte mit den Fingerkuppen ihren Ausschnitt, deutete auf den Mann in der Mitte und flüsterte: „Das ist mein Vater“, dabei spürte Antonia seinen Atem und ihr Herz schien, schneller zu schlagen, „mein Leiblicher und den in der schwarzen Jacke kenn i neet.“
Antonia stellte das Foto an seinen Platz, drehte ihm den Rücken zu, schob die freie Hand unter ihr Haar. Hob es an und flüsterte: „Kannst du mir bitte mein Kleid schließen. Vorsicht, es ist neu!“
Matthias fasste den Zipper.
Er fluchte: „Ihr Weiber seid nicht einmal in der Lage, euch anzuzeh’n“.
Antonia hockte sich nieder, schnappte die Pumps. Ohne einen Dank floh sie aus dem Raum. An der Treppe angekommen, setzte sie sich, schlüpfte in ihre Schuhe.

Das Netz verwob sich immer mehr. Die zwei Memory-Sätze vereinigten sich zu einem. Anstatt Paarungen zu erkennen, vermehrten sich die Karten, als würde ein unbekannter Mitspieler heimlich Bilder hinzufügen. Das Spiel mutierte zu einem Puzzle. Es gab Noppen, an denen einzelne Teile andockten, und wie Inseln ihr Eigenleben aufrechterhielten. Dennoch, um ihr Weiterleben zu garantieren, Seehandel betrieben. Diese Handelswege zu ergründen, rückte für Antonia in den Mittelpunkt. Wie Indizien, die für sich, keinen Täter überführten. Erst der brillante Geist der Detektivin verschmolz die Bruchstücke zu einem Ganzen. Sie schloss einen Handel, einen Handel mit sich selbst, mit Torben Raubein.



Alles Lüge

Antonia schlenderte den Weg zum Gasthof entlang, erlaubte dem Wind mit ihrem Kleid zu spielen und genoss dieses. Dabei konnte sie die Gedanken an Matthias nicht abschütteln. Permanent sah sie sein Bild, sein Gesicht, seine leuchtenden Augen, welche den Respekt für seinen Großvater widerspiegelten. Erst nachdem sie ihr Ziel erreicht hatte, schüttelte sie ihn aus ihren Gedanken.
Sie sah sich um. Bleigraue Wolken zogen auf und verhängten den Himmel, sodass das Licht der Sonne verblasste.
Das Gesicht zum Boden gewandt, strich sie über den Stoff des Rockes und hob ihren rechten Fuß. Waren die ersten Schritte auf den für sie hohen Absätze wackelig gewesen, hatte sie sich Schritt für Schritt an diese gewöhnt. Sie war mit ihnen verschmolzen, als wären diese ein Teil von ihr geworden. Tanja hatte recht behalten.
Antonia umfasste den Knauf der Eingangstür, atmete tief ein und zog die Tür auf. Ein Geruch von Moder strömte ihr entgegen. Sogleich spürte sie Angst aufkeimen, als würde sie jemand beobachten, ihr nahe sein. Zu nahe.
„Komm, lass uns unterhalten“, hauchte er ihr ins Ohr.
Er umfasste ihre Hand, führte, zerrte sie ohne ein Wort des Erklärens in den Schankraum. „Setz dich“, bat er sie und schob einen alten, wackeligen Eichenstuhl von einem Tisch ab.
Mit zuckenden Fingern drückte Antonia ihr Kleid ans Gesäß und kam der Bitte nach. Sie überschlug die Beine, flugs schmiegte sie ihre Händflächen an ihr Knie, als könnte sie sich damit schützen.
Stephen weiterhin in seiner Tracht gekleidet, nur die Krone hatte er abgelegt, packte einen zweiten Stuhl, stellten diesen ihr vis-à-vis und setzte sich. Ihr zublinzelnd legte er seinen rechten Schenkel auf den anderen und musterte, betrachtete sie, sodass ein Schauer über ihren Rücken rann.

Stephen fuhr sich mit einem Finger übers Ohr, dann faltete er seine Hände wie Antonia auf dem oberen Knie. Mit seiner weichen, leisen Stimme flüsterte er: „Das Kleid steht dir ausgezeichnet und die Pumps passen absolut super dazu, kannst du tragen. Du bist ja alt genug dafür“.
Antonia strich ihr Haar übers rechte Ohr, obwohl keine Strähne dort hing, wisperte: „Danke“.
„Wer bist du?“
Antonia drehte den Kopf zur Seite, schloss das linke Auge, starrte ihn mit dem Rechten an. „Antonia!“
Stephen presste seine Lippen, zuckte unmerklich mit den Schultern. „Das weiß ich.“ Er befeuchtete seine Lippen, fuhr sich durchs Haar, um anschließend erneut sein Knie zu umschließen. „Deine Mutter hat mir nie von dir erzählt.“ Er pausierte. Eine Pause, welche Antonia gefangen nahm, raubte ihr den Atem. „Ich will. Nein, ich möchte mehr von dir erfahren.“
Antonias Stirn schlug Falten. Es hatte den Anschein, er ging davon aus, sie wäre wahrlich Antonia, Tanjas Tochter. Sie hatte ihm nicht gebeichtet. Warum ließ sie ihn in diesem Glauben?
Flucht nach vorn. Volle Segel gesetzt, schoss sie in unbekannte Gewässer.
Mit zitternden Fingern zupfte Antonia an ihrem Ohrläppchen, drehte sich dann eine Locke. „Was willst du wissen?“
Stephen fixierte seinen Schuh, den wie ein Kreisel taumelte. „Wie und wo bist du aufgewachsen?“

„Geboren bin ich in Südafrika“, begann sie ihre Geschichte. Sie dachte kurz an den Großvater, fuhr sodann mit der gleichen Überzeugungskraft wie dieser fort. „Nach dem Tod der Großeltern wohnte ich mit Tanja bei der Großtante. Tanja stürzte sich in ihr Studium und wurde zweitrangig. Außerdem verstand ich mich nicht mit meinem Onkel Torben.“
Weshalb Antonia gerade in diesem Moment an Torben dachte, diesen sogar in ihre Geschichte einflocht, war ihr ein Rätsel.
Ein mulmiges Gefühl durchdrang sie. Hatte sie sich derart weit von Torben entfernt, dass sie ihn, als fremde Person titulierte. Fremd? Ein Teil der Familie war er. Ein guter Freund, mit dem man ein paar schöne Stunden verbrachte, um sich dann von ihm zu verabschieden. Wehmut überkam sie. War aus dem Spiel Realität geworden? Gab es ein zurück?
„Den Bärbel bevorzugt“, schob Antonia hinterher, als könnte sie damit ihre Zweifel mindern. „Ich zog zu meinem Erzeuger. Die erste Zeit war er nett, dann zeigte er sein wahres Gesicht. Einerseits war er zuvorkommend, anderseits ein Tyrann, welcher nicht zurückschreckte, zu schlagen. Nur meine Stiefmutter half mir. Stand mir bei.“
Die eigenen Worte erschreckten sie.
Stephen schaute sie mit wässrigen Augen an. „Tanja hat dich nicht daraus geholt“, gab er erbost von sich, ballte eine Faust, jene angesichts seiner zarten Finger eher Leid verkündete, als Wut oder Kraft.
Antonia senkte den Kopf, dabei zupfte sie an ihrer Strumpfhose und zirpte: „Wir hatten keinen Kontakt. Er hat mir den Umgang verboten“, sodann räusperte sie sich und klimperte mit ihren Wimpern. „Vielleicht wollte sie mich auch nicht mehr sehen. Bin kein Kind der Liebe!“
Antonia erschrak abermals über ihre eigenen Worte. Nicht darüber, dass sie, soweit sie sich außer in der Schule erinnerte, mehr als nötig gesprochen hatte, sondern, sie schämte sich dafür, Tanja in einem Licht zu stellten, welches sie bedauerte. Sie bereute. Wurde sie schwach? Für sie gab es nur den Weg nach vorn. Zurückschauen, die eigenen Taten infrage stellen, nicht ihre Art.
Alle Schulkameraden sowie Bärbel, sogar ihre Mutter bezeichneten sie meist als schüchtern oder zurückhaltend. Indes war sie ihnen überlegen, in ihrer Art stärker. Nein. Sie bereute nichts, kein einziges Wort. Rache dafür, dass die beiden sie all die Jahre belogen hatten.
Trotzdem vernahm sie einen absonderlichen Schmerz in der Magengegend. Dasselbe Leiden, welches sie in der Gegenwart von Matthias verspürte.

Stephen berührte ihre Knie. „Ich weiß. Tanja hat es meiner Mutter erzählt.“
Ihr stockte der Atem. Ob es daran lag, dass es das erste Mal war, von einem Mann befummelt zu werden, zart und liebevolle, wie es sonst einzig einer Mutter gestattet war. Oder eher, weil sie eine Geschichte geschildert hatte, die, ohne vorher sich abgestimmt zu haben, mit der von Tanja sich zu decken schien. Verband sie mehr als der Geist von Geschwistern.

Die Augen traurig, glasig fuhren Stephens Fingerspitzen unter ihren Rocksaum. „Erzähl mir von deinem Vater. Wer ist er? Was macht er?“
Antonias Pupillen wanderten unterhalb der Lider. „Du meinst mein Erzeuger!“ Sie versuchte Stephens Reaktion aufzufangen, aber dieser saß ihr nur gegenüber, starrte sie an und strich über ihre Oberschenkel. „Nichts besonders. Er war Krankenpfleger im Hospital meiner Großeltern. Herbert ist kein Mann von Welt, eher durchschnitt. Typus Beamter. Er hat einen strukturierten Tagesablauf. Zudem nicht nur das abendliche Bier zählt. Jeden Tag trinkt er Bier. Auch der nachmittägliche Appell gehört, wie der Sonnenaufgang, dazu. Meine Stiefmutter, die Hildegard und ich treten an. Ich zeige ihm meine Schularbeiten, worauf er stets antwortet: Frauen benötigten keine Bildung. Seine Gattin legt ihr Haushaltsbuch vor, bevor beide in ihrem Schlafgemach verschwinden. Danach erscheint sie mit geröteten Augen und bereitet das Abendmahl.“ Es gab Texte, die konnte Antonia auswendig. Nur den SS-Offizier hatte sie durch einen Krankenpfleger ausgetauscht, was der Wahrheit näher kam, schließlich war ihr Vater Arzt gewesen. „Ich weiß nicht, was sie dort gemacht haben.“

Stephen schlug seine Hand auf den Mund. „Kind, da musst du weg!“
Antonia senkte den Blick. „Bin abgehauen!“ Sie schaute ihm in seine feuchten Augen. „Sonst wäre ich ja nicht hier.“
Stephen neigte seine Augenlider und flüsterte: „Auch das ist mir bekannt. Wie alt bist du?“
Antonia zupfte an ihrem Ohrläppchen. „Fast dreizehn. Weshalb fragst du?“
„Du wirkst auf mich reifer, erwachsener. Vielleicht liegt es an deiner festlichen Garderobe, deinem guten Benehmen. Du bist dir sicher?“
„Woran?“
„Dass du dreizehn bist?“
„Werde! An meine ersten Lebensjahre kann ich mich nicht erinnern. Wer kann dies? Die letzten Jahre kam immer eins auf das andere.“
„Komm zu uns. Unsere Wohnung ist kein Palast, dennoch ausreichend für drei. Es soll dir an nichts fehlen. Außerdem könnte Alina dir eine treue Freundin sein.“
Antonias Herz klopfte, ihr Puls raste. Sie verspürte ein Verlangen, einen Drang, aufzuspringen, Stephen um den Hals zu fallen, und ja sofort ihm entgegenzuschreien. Ihr Verstand verbat es ihr, denn es war absurd.
Sie schob ihre Augenbrauen zusammen. „Ich gehe ins Internat.“
Stephen schüttelte seinen Kopf und murmelte: „Ach, keine tolle Idee“, dabei wandte er sich um, als suche er jemanden. „Schau dir die Alina an. Du glaubst, sie ist im Internat glücklich. Komm zu uns, lass uns eine richtige Familie sein!“

Antonia sprang auf. Sie spreizte die Finger, drückte die Mittelfinger an die Schläfen und presste die Worte buchstäblich aus ihrem Schädel. „Wer meinst du, wer du bist!“. Sie drehte ihm ihren Rücken zu, beugte den Oberkörper. „Das du mir einen Antrag unterbreiten kannst. Du bist falsch von der Ferse bis zum Scheitel.“ Mit einem Ruck schwang sie ihren Körper, starrte auf ihn hinab. „Du mit deinem falschen Bart, deinen falschen Haaren.“
Sie griff in Stephens Prinz-Eisenerz-Frisur, skalpierte ihn.
Das Kreischen eines Mädchens hallte durch den Schankraum.



Gebet für Bambi

Eine Dame in einem rubinroten Kleid schlich um einen alten Saab herum und schloss ihre Handtasche.
Sie blieb vor dem rechten Außenspiegel stehen, kniete sich nieder. Ihr cremeweiß behandschuhter Zeigefinger strich über ihre aristokratisch bleiche Wange, betastete ihre zu einem Grinsen verzogenen Lippen. Sie stand auf, hing ihre Henkeltasche in die Armbeuge. Ihren Kopf zum Himmel gereckt, stöckelte sie auf einer unweit des Autos stehenden Kapelle zu, lauschte an der Tür.

„Bruder, ich sehe, du willst bereuen“, flüsterte ein in Schwarz gehüllter, kniender Herr, ohne sich umzusehen, und faltete die Hände zum Gebet.
Joos kniete nieder, strich über seinen Handrücken und zischte: „Bereuen! Du mit deinem christlichen Getue“. Er tippte an seine Stirn. „Glaubst du, ich bin gekommen, damit du mir die Beichte abnimmst.“
Der pechschwarz Gekleidete hob sein Gesicht, schaute auf den Gekreuzigten. „Wir haben denselben Gott und er wird dir verzeihen, wie er es oft getan hat.“
Mit einer Geste als würde er sich den Staub von seinem dunkelblauen Nadelstreifensakko fegen, betrachtete er ebenfalls das Kreuz. „Denselben Gott, obgleich mit verschiedenen Vermittlern.“ Er grinste. „Carel lassen wir dieses blöde Getue“. Er wandte sich um, verbarg wie ein ertapptes Schulmädchen seinen Mund. „Pardon! Ich soll dich ja nicht mit dem Namen ansprechen, den unsere Eltern dir gegeben haben.“
Karl bekreuzigte sich, senkte sein Haupt, faltete erneut die Hände. „Gott hat für jeden den Namen übermittelt und Christus ist nicht sein Bote, sondern der Herr, für uns gestorben, sodann zu unserem Vater aufgefahren, um sich mit ihm zu vereinigen.“ Seine Stimme bebte. „Lass die Eltern aus dem Spiel, sie haben auf ihre Weise den wahren Weg gefunden.“ Er fuhr herum. „Nehme im Hause des Herrn die Sonnenbrille von deinen Augen.“
Joos nahm die Brille ab. „In welche Augen? Ich habe nur eins, und das hab ich dir zu verdanken.“
Karl starrte ihm in die leere Augenhöhle. „Bruder, ich habe bereut.“
Er schüttelte den Kopf. „Warum bereut. Ich hätte in deiner Situation genauso gehandelt.“ Sein Mund verformte sich zu einem Lachen. „Nenne es einfach Unfall.“ Er gluckste, sah erneut zum Kruzifix. „Dafür ist bei dir Jahwe verantwortlich. Oder?“

„Sag mir endlich, was du willst?“, zischte Karl.
Joos presste seine Lippen, faltete die Hände am Hinterkopf. „Nichts!“
Die Stirn gekräuselt, sah Karl ihn an. „Nichts! Dafür komme ich zu dir.“
Er legte seine Rechte auf Karls Schulter und ein dämonisches Glucksen quoll aus seiner Kelle. „Genau. Ich will, dass du dich einfach heraushältst.“
Den Mund angewidert gepresst, schob Karl Joos Finger ab. „Heraushalten! Was brütet dein kranker Geist aus?“
Joos ballte eine Faust. „Endlich mir zu holen, was mir gehört. Dreimal hast du es mir genommen.“
Der Priester senkte den Blick. „Immer diese teuflischen Steine.“
Seine Augen sprühten. „Ja!“
Ein Stöhnen quoll über Karls Lippen, während er stöhnend sich abwandte. „Vergiss es, die liegen auf dem Grund der See!“
Ein Lachen durchfuhr die menschenleere Kapelle.
„Das glaubst du?“
Karl knetet seine Hände und zischte: „Ich weiß es. Ich habe sie Nahne übergeben, um sie zu versenken.“
„Nahne?“ Joos lachte erneut. Es klang eher überheblich, als freudig. „Da hast du dir den Richtigen ausgesucht.“
Die Lider geschlossen, faltete Karl abermals seine Hände. „Nahne war ein gottesfürchtiger Mensch, dem konnte man vertrauen.“
„Wie naiv bist du?“
Karl ergriff Joos Oberarm, quetsche diesen, bis jener aufschrie. „Warum jetzt? Nicht vor dreizehn Jahren?“ Daraufhin riss Joos die Finger von seinem Arm, zuckte sogleich mit den Achseln. „Weil ich es erst vor ein paar Jahren erfahren habe und …“
„Und was?“, hakte Karl nach.
Die Arme emporstreckend stand Joos auf. „Ich erzähle dir wieder zu viel. Hältst du dich raus?“
Mit einem festen Griff erfasste Karl erneut Joos Arm, zerrte ihn hinab. „Dann sag mir, was du vorhast?“
Joos kniete nieder. „Ein guter Plan funktioniert zweimal.“
„Du Dämon“, fluchte Karl und ging in sich „Wage es nicht, dem Kind ein Haar zu krümmen!“

Joos zog seine Augenbrauen zusammen, hob sodann seine Schultern. „Kind ist wohl übertrieben?“ Er streckte den rechten Zeigefinger ab, riss Mund und Augen auf. „Aach! Du meinst Sophias Sohn. Nein.“ Ein Lächeln hüpfte über seine vollen Lippen. „Obwohl kurz daran gedacht habe ich.“ Er schwang seinen Kopf. „Hätte um Haaresbreite geklappt. Leider war er nicht da.“ Seine Schultern sackten hinab. „Wie gut denn …“
„Erzähl weiter“, hauchte Karl, ohne ihn anzusehen.
Joos pochte wie ein Specht mit einer Fingerkuppe auf seine Schläfe. „In die Falle lauf ich nicht!“
Karl verhüllte sein Gesicht, murmelte: „Hirngespinste von dir“, dabei ballte er eine Faust. „Ich sage es dir zum letzten Mal! Nahne konnte man vertrauen. Er war ein redlicher Mann.“

Erneut brach sich ein Lachen an den Sandsteinmauern, diesmal dämonisch wie vom Satan ausgespien. „Hat dir deine Gespielin nicht gebeichtet.“
Karl sah auf seine Händeflächen, las wie in einem Buch und keuchte: „Ich habe mit ihr nichts. Ich bin ein Mann Gottes, wir sind seit vielen Jahren Freunde des Geistes.“
Verwundert senkte Joos die Brauen. „Das Nahne und Alfons Freunde waren?“
„Freunde? Wie oft habe ich es ihr gesagt. Sie soll die alten Geschichten ruhen lassen.“
„Manchmal ist es vom Vorteil, sie nicht zu vergessen.“
Karl packte mit beiden Händen Joos Schultern. „Hast du es doch auf das Kind abgesehen.“
Er löste sich aus dem Griff. Joos kapiert jedoch die Worte nicht, wie er nie sein Geschwafel geschnallt hatte. „Du und ihr Balg.“ Mit einer fahrigen Bewegung wischte er über die Anzugjacke. „Du langweilst mich. Es sei denn, euch verbindet mehr als nur Freundschaft.“
„Solltest du etwas wissen, dann hänge es an die große Glocke, posaune es heraus, lasse die Mauern einstürzen, Jericho versinken. Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht. Ich habe gebetet, der Herr mich erhört, mich geprüft und verziehen. Somit, wenn es dir langweilt“, Karl deutete zum Ausgang, „dann gehe nach Hause. Bereue!“
„Ich habe gesagt: Du langweilst mich. Der törichte Alfons hat die Klunker oder weiß, wo sie sind.“ Seine Faust schnellte vor, bis diese vor Karls Nase zur Ruhe kam. „Verfluchter Pfaffe. Du schaffst es immer wieder. Hältst du still ja oder nein.“
Karl schob die Hand beiseite. „Hast du mir nicht gesagt, wie schwer es ist für einen angemessenen Preis, ungeschliffene Diamanten zu verkaufen. Es sei denn, man hat eine Mine.“ Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, welches um Haaresbreite seine Ohren berührte. „Besitzt du eine. Anton ist tot.“
„Ja, wenn du es derart bezeichnest.“ Die Arme gespannt, präsentierte er seine Fäuste auf Höhe des Halses wie Herkules vor dem letzten Kampf. „Deswegen jetzt oder nie. Wer weiß, was wieder dazwischenkommt.“ Seine Rechte schoss bis an Karls Stirn. „Die Antwort auf meine Frage.“
„Nie“, zischte der Geistliche und blähte seinen Brustkorb. „Bis an das Ende meines Lebens werde ich deinen Dämon jagen.“
Joos zuckte mit der Schulter und flüsterte: „Dann kann ich dir nicht mehr helfen“.
Er verließ die Kapelle.

Er hatte es versucht, ihn auf seine Seite zu ziehen, zumindest ihn abzuhalten, ihm in die Quere zu kommen. Carel war ein verbohrter Narr oder, er schloss die Augen, legte er es darauf an, um die eigenen Missetaten zu verschleiern. Waren sie sich fremder, als er es je dachte?

Karl versank ins Gebet. Er schlug das Kreuz, verneigte sich vor seinem Herrn, verließ die winzige Kirche. Vor der alten Eichentür steckte er sich eine Zigarette an. Er pustete den blauen Dunst in den verhangenen Himmel, während ein Sportwagen über die unweit gelegende Straße raste. Sachter Nieselregen schwebte aus den bleigrauen Wolken, die sich vereinigten und dem späten Nachmittag ein abendliches Dämmern schenkten. Er stülpte den Sakkokragen gegen seinen Hals und schritt auf seinen Saab zu.

Wie immer, bevor er den Wagen startete, streichelte er die am Rückspiegel baumelnde Christopherus-Plakette. Der Motor heulte auf. Karl drückte auf den Startknopf des CD-Spielers, schaltete das Fahrlicht ein. Die Sex Pistols donnerten, knarrten aus den Lautsprechern. Er stieß das Gaspedal hinab. Sein Saab preschte über die buckelige Landstraße. Vorbei an ausladenden Fichten, durch den die Kapelle beherbergenden Forst.
Who killed Bambi brüllte Johnny Rotten und grölte Karl, als ein Reh im fahlen Licht des Autoscheinwerfers in verheißungsvoll zublinzelte.
Eine alte Eiche, vor der eine Bank zum Verweilen einlud, stand in der nahen Kurve. Sie leuchtete flüchtig auf, bevor der matte Strahl des Scheinwerfers erlosch.



Verdichtung

Sabine stand vor dem offenen Kamin und krallte mit beiden Händen einen Schürhaken. Die Spitze des Werkzeuges wies zur Decke. Tiefrotes Blut rann über das Eisen, benetzte, umschlang wie die Fangarme eines Kraken ihre Finger. Zwei nackte Arme umklammerten ihren Körper, pressten ihre bebenden Oberarme an ihren Brustkorb, rissen sie vom Tatort weg.
Ohne dass ihre Kräfte schwanden, zog die Frau sie ans andere Ende des Zimmers. Sie überragte Sabine um zwei Handbreit. Ihr welliges pechschwarzes Haar fiel auf ihre muskulösen Schultern.
„Kind, was hast du getan!“, schrie sie, dabei schwer atmend. „Ich habe die Tür nicht entriegelt, damit du ihn tötest. Fliehen solltest du!“
Sabine starrte auf den leblosen Körper. Das Blut rann ihm aus dem aufgehakten Schädel und bildete eine Lache, die das pechschwarze Gewand begierig aufsaugte. Den Haken senkend, glitt sie aus den Armen der Frau, kniete nieder und weinte.
Mit erhobenem Arm deutete die Frau auf den Leichnam und brüllte: „Du bist eine Mörderin!“
Mit ihren zitternden Fingern verdeckte Sabine ihre Augen. „Es war Notwehr!“
Die Schwarzhaarige schritt zum Tatwerkzeug und krähte: „Notwehr!! Einen wehrlosen Mann von hinten erschlagen, nennst du Notwehr!“
„Er hat mich entführt, gepeinigt“, stotterte Sabine.
„Vielleicht bekommst du mildernde Umstände, aber eine Mörderin bleibst du“, grunzte die Fremde. „Den Rest deiner Jugend wirst du im Gefängnis verbringen.“
Jenny schaute zur Terrassentür. „Egal. Ich gehe dort rüber ins Bauernhaus. Die werden mir helfen.“
Die Frau verschränkte die Arme. „Das würde ich bleiben lassen. Was glaubst du, warum du hier bist?“
Die Augen aufgequollen wandte Sabine ihren Blick der anderen zu. „Wie?“
„Hey Mädchen, das ist ein Bordell“, antwortete die Alte knapp.
Sabine zuckte zusammen, kroch in eine Ecke des Raumes, umschlang ihre Knie.
Die Frau rollte mit den Augen. „Vor mir brauchst du keine Angst zu haben. Ich habe dir doch gesagt, dass ich die Tür aufgeschlossen habe.“ Sie schritt auf die Zitternde zu, kniete sich nieder, legte ihre Rechte auf ihr Knie, flüsterte: „Ich heiße Thekla. Und du?“
„Sabine.“

Thekla presste die Lippen zusammen und wies auf den Toten „Ich bin nur eine einfache Hausdame. Kümmer mich um Rudolf.“ Sie sah zur Decke. „Um die Mädchen, die …“
„Er entführt!“, fuhr ihr Sabine in den Satz.
„Er?“ Thekla schüttelte ihren Kopf. „Er ist nur der Diener. War der Knecht. Er hatte Mitleid mit dir. Hätte selbst nie gegen seine Herrin aufbegehrt.“ Ihre Hand glitt über Sabines Knie. „Du bist nicht das erste Mädchen, welches ich befreie, aber das Erste, dass ihn erschlagen hat.“ Ihr Blick fiel zum Bauernhaus. „Egal, du musst hier weg.“
Erhobenen Hauptes stand Thekla auf, schritt zu einem Stuhl.
„Hier!“, befahl sie und warf Sabine einen Mantel zu. „Mit deinem Outfit kannst du nicht auf die Straße.“
Sabine fing den Mantel auf, richtete sich auf und zog das Kleidungsstück über ihre Dessous. „Wohin gehen wir?“
„Unten am See habe ich eine kleine Hütte“, antwortete Thekla. „Die kennt keiner. Da kannst du erst einmal bleiben.“ Sie schaute sich um. „Bis ich die Lage überprüft habe.“


Der Text brachte sie wieder runter. Es gab viele Menschen, die mehr litten. Trotzdem oder deswegen hielt sie ihr Verhalten für übertrieben. Wie ein kleines Mädchen, welche angewidert auf ihrer Hand eine haarige Spinne aufspürte, hatte sie geschrien. Nur dass sie keine Tarantel, sondern eine Perücke gegen die Wand geschleudert hatte. Um dann zu allem Überfluss schluchzend, in die Arme dieses Mannes zu sinken. Sie schmiegte sich an seinen Körper, er streichelte sie, wie sie es ihrer Schwester sonst erlaubte. Der Grund? Eine großflächig vernarbte Glatze, die sie angelächelt hatte. Nichts weiter. Keine herausquellende Gehirnmasse oder platinfarbene Schädeldecke erschraken sie, wie in ihren Büchern. Trotzdem tat es ihr gut, von ihm getröstet zu werden. Sie vergaß, dass ein Kerl sie betatschte. Stephen berührte sie wie eine liebevolle Mutter, obwohl sie zuvor genauso gelogen, wie er sie beschwindelt hatte.

Stephens Mär hallte erneut in ihrem Kopf. Ein Motorradunfall hatte ihn entstellt. Mit einem gekünstelten Lachen hatte er ihr erzählt, dass er dabei zum ersten und letzten Mal einen Spagat geschafft hätte. Den Hintern hätte er sich aufgerissen, sowie Brandwunden am ganzen Körper zugezogen.
Antonia schüttelte den Kopf. Brandwunden, sinnierte sie. War er wie Eyel Knievel durch einen brennenden Reifen geflogen oder das Motorrad wie in einem unrealistischen Actionfilm explodiert? Nein! Dass Stephen verunglückt war, hatte sie gehört, aber die Brandmale stammten woanders her. Darüber war sie sich sicher.
Sein Bericht machte sie hellhörig. Kein Haar spross seitdem mehr aus seiner Haut. Der Umstand an sich, für Antonia belanglos, nur die Geschichte von Alina, wenn sie der Wahrheit entsprach, erschien in einem anderen Licht. Stephen nicht der Mann, von dem die Frau die Körpersäfte empfangen hatte. Welcher Kerl hatte sie bestiegen? Wer konnte von Franziska unbemerkt die Privatgemächer aufsuchen?
Matthias strich sie als Erstes von seiner Liste. Fridolin flog ebenfalls davon. Er und Aishe lebten in Stuttgart. Antonia nahm nicht an, dass er für ein kurzes Liebesabenteuer extra nach Niederbayern fuhr. Ein Name verblieb. Valentin.

Antonia betrat den geschmückten Saal. Die Tische gedeckt. Die ersten Gäste, mit Gläsern bewaffnet, harrten aus, warteten auf den Einzug des Brautpaares. Sie kannte niemanden, ob diese aus der Gemeinde stammten oder entfernte Verwandtschaft des Bräutigams waren, wusste sie nicht. Es war ihr scheißegal. Die eine, die andere ältere Frau lächelte sie an. Antonia vermutete, dass diese unter denen war, welche sie beim Rundgang durchs Dorf erblickt hatte.
Wie ein armseliger Hering, den ein angreifender Hundshai aus seinem Schwarm trieben, streifte sie durch die Stuhlreihen.
Eine Gruppe Mädchen gackerte in einer Ecke des Saals. Sämtliche wie sie in festlichen Gewändern, meist in bunten Partykleidern gekleidet. Eins war nicht herausgeputzt, nicht geschminkt, nicht feierlich frisiert. Sie trug keinen Rock, sondern eine himmelblaue Latzhose und ihr kastanienbraunes Haar hing ihr wirr über die Schultern.

Alina winkte ihr zu. Die jungen Mädchen alle in ihrem Alter erblickten Antonia. Eins nach dem anderen löste sich aus dem Pulk, trieb auf sie zu, umschmeichelten sie mit einem Lächeln, verband sich mit ihr durch einen nicht endenden Redefluss. Bis die Freundin allein in der Ecke zurückblieb.
Sie, die Tochter auf Zeit, stieg auf, verschmolz mit den ihresgleichen. Die Vergangenheit, ihr Leben zuvor, sperrte sie ein. Sperrte jenes in ein Verlies ihrer Seele und erhoffte oder hoffte, dass sie den Schlüssel nicht verlieren würde.
Ein neuer Schwarm hatte sich gebildet. Gemeinsamen schwammen sie nach draußen in den Garten. Die Sonne schien durch eine Lücke der bleigrauen Wolken, spendete nochmals ihre Kraft.



Neues Leben

Es waren wieder die Jungen, die ihrem Naturell folgten, dass sie die Besseren wären. Sie forderten die Mädchen zu einem Fußballspiel heraus. Die Ladys in Überzahl nahmen die Kampfansage an. Erst nachdem sich die Braut zu ihren Geschlechtsgenossinnen gesellt hatte, stellte sich Zweifel über die Gewinnchancen ein.
Ein Girl in marineblauem Kleid, ferner in gleichfarbigen Slingpumps, dessen strassbesetzte Absätze in der Sonne blitzten, bot sich an, die Grenze zu überschreiten. Den Knaben trieb es die Schamröte ins Gesicht, bei dem Gedanken, einen Rock in ihrer Mannschaft zu wissen. Worauf sie Alina auswählten, die Geschlechtergrenze zu übersteigen. Denn sie trug eine Hose.
Die weiblichen Mitspieler ordneten sich in einer Reihe auf. Mit einem wortlosen Kommando ihrer Spielführerin Tanja, tasteten diese an ihren Beinen hinauf, fassten den Bund ihrer Strumpfhosen. Ohne ihre Scham zu entblößen, glitt der feine Stoff im Gleichtakt über ihre Schenkel. Wie im Ballett schmiegten sie ihre Gesäße auf die hölzernen Bänke. Ihre rechten Waden berührten ihre Knie. Die Finger knüllten die Strümpfe, bis sie den an ihrer Fußspitze baumelnden Schuh erreichten. Mit Daumen und Zeigefingern zupften sie an ihren Zehen und befreiten ihre Füße.
Ohne einen verbalen Befehl legten sie ihren linken Unterschenkel auf und vollendeten ihr Schauspiel, bis die Frühlingsluft ihre nackten Beine umspülte.

Das Spiel endete zum Vergnügen aller 6:1. Die Jungen in ihrer Einfalt jubelten mit ganzem Körpereinsatz, trugen den mehrfachen Torschützen auf ihren Schultern. Die Mädel erfassten voller Scheu mit ihrer Reife, wen sie feierten. Begnügten sich mit ihrer Heldin, jene kurz vor Abpfiff einen Fehlpass von Matthias verwandelt hatte. Mit ihrer grazilen Art hatte sie den Ball mit ihrem rechten großen Zeh angetippt. Gleichsam einer Prinzessin, die einen Verwunschenen in Gestalt einer Kröte mit spitzen Lippen erlöste. Die Torschützin mit den von einem Anker gezierten Ohrkettchen verschmolz mit ihrer Gruppe. Gemeinsam vollführten sie mit geänderter Reihenfolge ihr Beinballett.

Heiße Rhythmen erklangen aus dem Saal, wie ionisierter Wasserstoff trennten sich die Mädchen von den Jungen, stürmten die Tanzfläche. Die Knaben trafen vereinzelt ein. Entgegengesetzt dem Naturell von Elektronen schwärmten sie nicht um die Wolke der Protonen, sondern verharrten steif am Rande des Geschehens.
Der Takt der Musik wurde bedächtiger, sodass das eine oder andere Männchen sich in den Pulk der Hüpfenden begab. Immer mehr Jungen drangen in den Schwarm ein, führten ihre Balztänze auf. Der DJ, ein sportlicher Mann aus dem Dorf mit geltriefender Haarpracht, spielte langsamere Stücke, sodass die Kernbausteine ihre Leptonen einfingen und die älteren Semester dem Schauspiel beitraten.
Der eine oder andere wechselte letztmalig den Partner, bis die Anzahl der Tanzpaare die kritische Masse überschritt, somit das Feuer des Sterns zu brodeln anfing. Alt sowie Jung schwangen ihre Hüften im Rhythmus von Songs der Siebziger- und Achtzigerjahre, kurz, aber heftig, bis der blaue Riese nach flüchtigen Leben mit einer Supernova zerbarst. Er warf seine Hülle aus alten und kindlichen Paarungen ab, schnurrte zusammen, bis die Bestandteile die elektromagnetische Abstoßung überwanden, somit die starke Kernkraft die Macht übernahm. Aus Doppelpacks bildeten sich Neutronen.
Nur ein Paar vermisste man auf der Tanzfläche, im Neutronenstern.



Sodom

Tanja schlich aus dem Gesindehaus. Sie begab sich an die Backsteinwand, stellte sich nach mehrmaligen Umsehen breitbeinig an dieselbe. Die Nachtluft tief in ihre Lunge saugend, stütze sie sich mit ihren Unterarmen am Gemäuer ab. Sie würgte. Ihren Kopf zwischen die Arme geklemmt, entlud sie einen Teil ihres Mageninhalts. Sie spuckte, röchelte, schließlich fuhr sie mit den Handflächen übers Gesicht. Mit zitternden Fingern öffnete sie ihren Pferdeschwanz. Die Stirn mit Schweißperlen benetzt, schüttelte sie ihr Schopf aus, durchstreifte ihre Mähne, und wandte sich von der Mauer ab. Sie trippelte an der Gebäude entlang, dabei zog sie das Haargummi wieder über ihre Haare, richtete schließlich einzelne Strähnen. Sie erreichte die vom zunehmenden Halbmond erhellte Ecke des Gesindehauses. Ein blechernes Hallo hallte durch die wolkenlose Nacht. Ihr Name erklang aus dem abseitigen Areal. Tanja verharrte. Ihr linker Fuß hing wie von unerklärlicher Hand gehalten in der Luft. Wie in einer Zeitlupe senkte sie das Bein, schob ihren Kopf vor und linste um die Hausecke. Ein zweites Hallo erschallte aus einem dunklen Schatten, genauso blechern sowie nüchtern wie der erste Ruf.

„Was machst du hier?“, murmelte Tanja mit einem Angst ausstrahlenden Timbre in der Stimme.
„Dich wiedersehen.“
Der Umhang der Gestalt hob sich und behandschuhte Finger deuteten auf den matten Lichtschein der Straßenlampe, welcher die knochige Eiche am Ende des Grundstückes tangierte.
„Geh ins Licht, damit ich dich betrachten kann.“
Tanja stöckelte über die aufgeweichte Rasenfläche. Bei jedem Schritt versanken ihre hohen, dünnen Absätze im Morast.
Sie strich abermals eine Strähne von ihrer Stirn. „Was willst du?“
„Wie ich bereits erwähnte, dich wiedersehen.“ Die Gestalt legte eine Pause ein. „Gut siehst du aus. Eine schöne Frau ist aus dir geworden.“ Erneute Stille. „Ich sehe an deinen flirrenden Augen dein Erstaunen. Du glaubtest, ich bin tot. Nein. Ich lebe.“ Die Stimme schepperte, wie eine hinter einem Hochzeitswagen über das Pflaster hüpfende Kette Blechdosen. „Ich besitze gleich einer Katze sieben Leben.“ Die Tonhöhe sank, ein höhnisches Glucksen erklang. „Ich revidiere. Stubentiger sind zu zahm. Wie Lord Voldemort habe ich meine Seele geteilt, verteilt, bin unsterblich“, krächzte er. „Netter Vergleich. Oder?“ Ein höhnisches Lachen schallte durch die Stille.
„Genauso wie er, bist du einzig und allein ein Hirngespinst, nicht real, existierst nur in meiner Fantasie“, donnerte Tanja. „Ich geh!“
Er hob den Arm. „Bleib! Du weißt, ich existiere.“
Sie fasste an ihre Hüfte, schob ihren Slip in die Kniekehle und hockte sich hin.
„Was führst du mir vor?“
Tanja schaute zur Seite, wandte ihren Blick von ihm ab. „Ich muss mal.“
„Was ist aus dir geworden?“, schmetterte er ihr entgegen. „Wo ist dein Sinn für Erotik? Schüchtern, wie ein kleines Schulmädchen in der Ecke hocken und verschämt sich erleichtern.“
Sie erhob sich, warf ihre Handtasche in den Dreck. Das Gesicht von ihm abgewandt zerrte sie den Slip vollständig von ihren Schenkeln. Den Kopf in den Nacken werfend, streifte sie die Träger ihres seidigen königsblauen Kleides über ihre Arme. Ihre luftige Garderobe glitt an ihrem Körper hinab, bis sie schwingend an ihren Füßen verblieb. Sie stieg über den schimmernden Kreis, stemmte ihre Fäuste in ihre Taille.
„Einen prallen Busen hast du bekommen. Bist ganz Frau!“, schmachtete er. „Ich sehe, du stehst auf eine akkurate Rasur.“
Sie schüttelte den Kopf, kniete sich erneut nieder.

„Besser“, lechzte er. „Hat dir mein kleines Präsent gefallen? Ergötzte es dich? Schade, dass ich dir das Geschenk nicht später unterbreitet habe. Die neuen Filmchen wie du mit …“ Er stockte. „Seit heute muss man sagen, mit deinem Schwager und deiner Schwägerin am selben Tag.“ Ein Stöhnen schallte aus der Ecke, in der er stand. „Zum Ergötzen.“
Ein Rinnsal bildete sich zwischen Tanjas Füßen. „Willst du mich erpressen? Hast du dein Kopfgeld verprasst? Warum jetzt?“, donnerte ihre Stimme durch die Stille der Nacht.
„Derart viele Fragen. Dabei bin ich der Fragestellende“, entgegnete er. „Bedrängen. Geld. Schnöder Mammon. Du weißt, was ich von dir verlange.“ Sein Lachen hallte. „Wollte dir zeigen, dass ich immer bei dir bin. Dich beobachte. Nein! Dich beschützte.“ Totenstille hüllte sie wieder ein. „Ich sehe Hass in deinen Augen. Hat es dir nicht gefallen?“
„Ich verabscheue dich. Wie ein benutztes Taschentuch hast du mich entsorgt. Wie eine nicht mehr trächtige Kuh zum Abdecker geführt“, gab Tanja erzürnt zurück.
„Deine Antwort erfreut unsereins, somit sind wir weiterhin Freunde im Geiste. Was tust du?“
Tanja stütze sich auf ihren Schenkeln ab, und presste hervor: „Dir zeigen, was ich von dir halte“.
„Wie primitiv du geworden bist. Antonia ist eine betörende junge Dame. Was meinst du, ob ihr gelüstet, mit mir zu spielen?“
Sie schnappte ihren Slip, wischte über ihr Gesäß, stieg sodann in ihr Kleid. Mit zitternder Hand hing sie die Umhängetasche über ihre Schultern und stocherte auf ihn zu. Die Augenbrauen zusammengekniffen, die Mundwinkel nach unten gezogen, warf sie ihre Unterhose gegen sein verhülltes Gesicht und brüllte: „Das ist meine Antwort. Komm nie wieder! Ich bin stärker geworden, mächtiger. Wie die Tochter, welche erst gelehrig dem Vater gehorcht, habe ich dich überflügelt.“
Dann ging sie, ohne sich umzusehen, zurück auf den Hof.

Tanja hatte sich ein weiteres Mal übergeben, bevor sie Stephens Autoschlüssel in ihrer Handtasche entdeckte. Die Scheiben gesenkt, umspülte der Fahrtwind ihren Körper, ließ ihr Kleid flattern und wehte ihre wieder befreiten Haare über die Rückenlehne des Fahrersitzes. Sie fuhr wie in Trance, sann über diese Begegnung nach. Er war kein Geist. Real. Wer war er? Wie immer sprach er in Rätseln. Harry Potter schoss ihr durchs Gehirn. Sein Widersacher war gestorben, in neuer Gestalt auferstanden. Der Typ vorhin ein Trittbrettfahrer, der ihre Geschichte kannte und daraus für sich etwas erwartete. Nein! Zu sehr glichen sie sich.
Sie schlug an ihre Stirn. Er hatte einen Fehler gemacht, sich enttarnt. Ihre Lippen bebten. Er sprach nicht von ihrem Kind, ihrer Tochter. Beim Namen hatte er sie genannt. Sie lächelte. Keiner wusste von ihr. Entsprang sie nicht ihrem Geist? Der Kreis der Verdächtigten engte sich ein. Er war ein Kerl, dies war ihr klar. Stephen sowie Friedl zu jung.
„Karl!“, rief sie ins Dunkel der Nacht.

Zuerst fuhr sie ohne Ziel, dann bog sie links ab. Tanja nahm sich vor, in ihre Wohnung zu fahren. Dort etwas Aufreizendes anzuziehen, sodann eine miese Spelunke aufzusuchen, um irgendein Girl aufzugabeln. Schlicht, eine heiße Nacht zu verbringen.

Sie stellte den Wagen ab, schritt zum Hauseingang, stieg die Treppe empor und hauchte. „Karl“.
Er war es nicht, jedenfalls nicht jener in dieser Nacht. Vielleicht hatte der Admiral ihm gebeichtet, dass Toni ihre Tochter mimte. Abgesehen davon, von wem hatte er erfahren, dass sie ihr den Namen Antonia gegeben hatte. Nicht einmal Bärbel hatte sie eingeweiht, gar Karl. Ihre Finger zitterten erneut. Sie presste ihre Lippen, schloss die Lider. Wie dumm sie war?
Er war kein Depp, nicht der primitiv. Belesen war er, scharf im Geist. Manch eine Nacht hatten sie mit ihm philosophiert. Er spielte das Trampel, um seine Ruhe zu genießen. Tanja steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte. Die Tür sprang umgehend auf. Hatte sie am Nachmittag vergessen zu versperren? Licht aus dem Wohnzimmer erhellte den Flur.
„Vale?“



Ringelblumen

Sie schritt zur Balkontür, stellte ihre Tasche ab, trat auf den Balkon und schluchzte: „Ach mein Liebster, wie ziehst du den aus“.
Karl hob seine in einer Schlinge ruhende, verbundene rechte Hand und prostete mit einem Glas exzellenten Roten, welchen er in der Linke hielt, zu. „Mit unserem Ständchen für Tanja wird nichts.“ Er grinste mit einem vor Schmerz verkrampften Gesicht, nahm einen Schluck, stellte das Gefäß zwischen Aschenbecher sowie Bibel ab. „Dabei haben wir so intensiv geübt. Wir hätten uns den Umweg zur Waldhütte ersparen können.“ Er ergriff mit der Linken eine Zigarettenschachtel, fischte mit den Lippen einen Glimmstängel heraus. Mit einem gezielten Wurf warf er die Schachtel neben die Heilige Schrift auf den Gartentisch. Die Zigarette mit zwei Fingern schnappend, schaute er Bärbel an. „Gertrud haben wir gleichfalls verpasst.“
Sie marschierte auf ihn zu, schnappte sich die Kippe sowie das Rotweinglas, zürnte: „Vor Kurzen dem Teufel von der Schippe gesprungen, ruinierst du dich selbst“, dabei goss sie den Inhalt des Glases in einen Blumenkasten. „Du hast bestimmt Schmerzmittel verabreicht bekommen.“
Karl senkte kurzfristig den Blick, dann kniff er ein Auge zu und zog den rechten Winkel seiner Oberlippe hinauf. „Dem Satan“, er grinste. „Der Heilige Christopherus hat mich gerettet. Der Gelobte war der Ansicht, ich erreiche hier auf Erden mehr für ihn als an seiner Seite.“

Kopfschüttelnd schritt Bärbel zu ihrer Reisetasche, öffnete diese, holte Salbe sowie Kompressen aus ihr hervor.
„Bist mal wieder zu schnell gefahren“, fuhr sie ihn an, dabei stampfte sie auf ihn zu und schraubte die Tube auf.
Er zuckte zurück. „Was wird das?“
Bärbel verdrehte ihre Augen und zischte: „Ringelblumensalbe“, während sie die Creme auf eine Comprette drückte. Sie betupfte behutsam seine Schnittwunden im Gesicht. „Sag mir, wie ist es passiert?“
Karl schob ihre Finger beiseite. „Mein Wagen ist alt, die Bremsen haben versagt“, murmelte er, indes, ließ sie sich nicht ablenken, tupfte. „Obwohl, der von der Werkstatt meinte, jemand hätte die Bremsschläuche angeschnitten.“
Die Augenbrauen hochgezogen, wich Bärbel zurück.
Er presste seine Lippen. „Blödsinn, der Saab war alt.“ Er pausierte, da sie seine Mundwinkel betupfte. „Wer soll?“, sinnierte er. Dann pustete er durch die Comprette: „Ich habe Abbé Vincent kontaktiert. Er hat sich gewundert, dass ich den Saab immer noch fahre.“
Sie stoppte die Pflege seiner Wunden. „Wie geht es deinen Brüdern in Pierre-Qui-Vire?“
Karl drückte erneut ihre Hand zur Seite. „Ich habe nur kurz mit ihm gesprochen.“ Er senkte den Kopf. „Zur Strafe musste ich mir auf eigene Kosten einen Mietwagen nehmen.“

Die Lippen zu einem Lächeln verzogen, versorgte Bärbel die Wunden an seinem Arm. „Na ja. Bald hast du einen neuen Dienstwagen, sogar mit Chauffeur.“
Er schrie auf, als er die Arme vorm Körper verschränkte. „Das ist das Erste, was ich abschaffen werde. Ich bin ohne fremde Hilfe in der Lage zu fahren. Pater Robert sollte sich besser der Seelsorge widmen.“ Karl klopfte auf seine Knie und wetterte: „Ich brauche keinen Hausmeister, keine Hausdame“.
„Die arme Schwester Mathilda. Was soll sie den in ihrem Alter machen“, stöhnte Bärbel.
„Beten!“, konterte Karl. „Alles Prasserei wie in Limburg!“, zürnte er. „Was unternimmt der Heilige Vater.“ Er bekreuzigte sich. „Nichts! Sodom und Gomorra, wie …“
Sie runzelte ihre Stirn. „Wie!“, wiederholte sie.
Kopfschüttelnd hob er seine Schultern. „Mit …“
Die Arme verschränkend, schaute sie ihm in die Augen. „Was hat das Kind mit dem Bistum zu schaffen?“
„Damit nichts. Jedoch du wirst mir zustimmen, dass es alles andere als angemessen war, wie der Spross sich auf der Fahrt verhielt.“ Er schlug das Kreuz.

Bärbel setzte sich auf den zweiten Gartenstuhl. „Ach. Wollt mich herausfordern!“
Karl lehnte sich zurück. „In Minirock und bemalten Lippen.“
Sie faltete die Hände, starrte auf ihren Schoß. „Tanja hat die Sache mit dem Internat verraten.“
„Nein!“, rief er. „Du hast mir versprochen, alles aufzuklären.“
Ihre Zunge fuhr über ihre Lippen. „Ich konnte bislang nicht. Du weißt warum?“
Er hob die nicht bandagierte Hand. „Egal. Sünde ist Sünde“, verkündete Karl und streichelte ihre Finger. „Du bist nicht unschuldig daran. Dass es ist, wie es ist“, er atmete tief ein, „welch ein Lotterleben du führst.“
Sie schielte über ihre Schultern. „Das wieder. Ich bin eine Frau. Lebe nicht im Zölibat!“
„Heiraten hättest du können“, brummte er. „Zumindest hat Tanja den Hafen der Ehe angesteuert.“ Er wandte sich ihr zu. „Oder?“
Bärbel schloss ihre Augenlider. „Was denkst du?“
Karl strich über ihren Unterarm. „Ich sehe weiterhin Hass in deinen Augen. Hast du ihr nicht verziehen?“
Sie betrachtete die Holzdecke.
„Gnade und“, er klopfte auf die Bibel, „ein gottesfürchtiges Leben sind die wahrhaftigen Wege ins Himmelreich. Die Obermeiers sind gottgefällige Menschen, haben den wahren Weg gefunden.“ Er schaute auf seine Armbanduhr. „Es ist spät, du erstrebst, deinen Zug zu bekommen, und ich schwatze dich voll.“

Ein Auge zugekniffen, starrte sie ihn an. „Welcher Zug? Ich nahm den Letzten, glaube ich. Ob zu dieser Tageszeit ein Zug nach Salzburg fährt? Morgen zurück.“
Karl quälte sich hoch, streckte sein rechtes Bein, fischte sodann einen Schlüssel aus der Hosentasche. „Hier! Nehm den Leihwagen. Klein aber fein.“ Er schmunzelte, als hätte er einen brillanten Witz gerissen.
Bärbel presste ihr Kinn gegen den Hals, bis ein Doppelkinn entstand, wobei ihre Pupillen ihn fixierten. „Es ist halb eins. Ich fahr nicht mehr nach Salzburg. Das Hotel ist bezahlt.“ Sie zeigte auf ihr Reisegepäck. „Meine Sachen in der Tasche.“
Sein Daumen zeigte zum Zimmerfenster. „Begehrst du?“
Sie stemmte ihre Fäuste in die Taille. „Och Karl! Es ist wie dir bewusst nicht das erste Mal.“
„Allerdings!“, entgegnete er.
Die Lippen zu einem breiten Grinsen verformt, klopfte sie auf seinen Schenkel. „Keine Angst, ich bin früh verschwunden.“ Sie bedeckte ihren Mund, gluckste, dann flüsterte sie: „Es soll ja niemand glauben, der zukünftige Bischof hätte eine Geliebte“.
Karl erhob sich und stotterte: „Mach dich bettfertig. Ich geh noch eine Runde“, dabei schritt er zur Balkontür.
„Karl“, rief in Bärbel hinterher. „Deine Zigaretten? Ich weiß, warum du einen Gang vor die Tür unternimmst. Dann brauchst du dir, keine Neuen zu kaufen.“



Tristesse

Es war eine von jenen Gassen, welche in ihrem Aussehen eher exotisch anmuteten. Eine von den Straßen in einer Altstadt, die Spekulanten nicht erobert hatten. Nicht geentert, sich einverleibt, um diese nach einer Luxussanierung, an betuchte Weltbürger zu veräußern, damit dieselben eine weitere Perle in ihre Sammlung steckten. Vielleicht einmal im Jahr einen Besuch abstatteten, ansonsten mit jenen prahlten.
Dafür die Bewohner, die Alten, die Jungen in gesichtslose Vorstädte verdrängten, wo sie allein und verlassen von ihrem Kiez, aus dem zehnten Stock eines Betonbunkers wehmütig auf ihre Heimat starrten.
Ausdruckslos war dieses Viertel jedoch auf seine Art. Die Häuser in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts, behängt mit Klinkerimitat oder graugrünen Platten. Die morschen, trotzdem beseelten Holzsprossenfenster getauscht durch langweilige, großflächige Kunststofffenster, in denen nachts vereinzelt das Licht von betagten Straßenlaternen fiel.
Immerhin brachte eine flackernde Leuchtschrift Abwechslung in das Dunkel. Sie baumelte über dem Eingang einer Gaststätte. Einem Lokal, indem die männlichen Einwohner seit Urzeiten nach Feierabend einkehrten, um rechtzeitig zur Tagesschau zu ihren Ehefrauen heimzukehren. Wenngleich sie fraglos seit vielen Jahren in Rente waren. Wenn sie nachts schliefen, dann kehrten andere ein.

Eine weibliche Gestalt lehnte ihre Schulterblätter neben dem Eingang an das Mauerwerk. Ihr langes welliges Haar fiel über ihre nackten Schultern. Der spitze Absatz ihrer rechten Stiletto-Sandale bohrte sich ins morsche Holz eines Balkens. Der Rock ihres im Halbschatten kirschrot erscheinenden Minikleides verdeckte nicht mehr als ihre Scham. Sie stöberte in ihrer glitzernden Handtasche, holte ein Kaugummi hervor, steckte es zwischen ihre vollen tiefroten Lippen.

Ein Mann schwankte aus der Kneipe, musterte sie. „Wie viel?“
Die Angesprochene hob einen Arm, spreizte den Zeigefinger ab und fauchte: „Zieh Leine!“
Ein kindliches Lachen erklang. Sie wandte sich der Quelle des Geräusches zu.



Schulmädchen

„Was gibt es da zu grinsen? Hätte dir gefallen, wenn ich mitgegangen wäre?“
„Mir unter Umständen, dir gegebenenfalls. Aber ihm?“
Der Fremde zeigte auf die Leuchtreklame, auf dem ein kurzer Frauenname verewigt war. Vier Buchstaben, wenngleich der Letzte ein A lediglich müde flackerte. Er erhob seinen rechten Arm, schwang ihn wie ein Dirigent und summte: „Girls will be Boys, and Boys will be Girls It’s a mixed-up, muddled-up, shook-up world Except for Lola, lo lo lo lo Lola“.
Ein Schmunzeln flog über ihre Lippen. „Das musst du ja wissen!“
Er stellte sich zwischen ihre Schenkel, strich sofort mit einer Fingerspitze über ihren Busen. „Du hast mich hierher bestellt.“
Sie tippte an ihre Schläfe. „War nicht meine Idee. Eine Freundin hat den Laden“, sie schürzte die Lippen, „empfohlen.“ Sie zupfte an seinem Bläser. „Mir ist kalt!“
Er zog sich seine Jacke aus, hing sie über ihre Schultern, gluckste: „Du und eine Freundin. Deshalb bist du in Passau. Dabei wollten wir uns erst einmal nicht sehen.“
Sie wippte mit ihrem Kopf und wisperte: „Nein! Ich habe ihr für ein paar Wochen meinen 911er ausgeliehen. Den wollte ich holen“.
Er hob die Arme, spähte in die Nacht. „Wo ist sie?“
Die Augen verdrehend, die Schultern zuckend, betrachtete sie ihre blutrot lackierten Fingernägel. „Ihr ist was dazwischengekommen. Ich habe nur den Wagen geholt. Eigentlich plante ich mit meinem Ex zurück nach Hamburg, aber ...“
Seine Finger glitten von ihrem Körper. „Ex! Hamburg?“
Ihre Hand klopfte auf seine Stirn. „Hallo! Seit einer Woche lebe ich in Hamburg. Endlich raus aus diesem miefigen Marktl.“ Sie holte Luft. „Ex ist übertrieben. Einer aus der Selbsthilfegruppe.“ Ihr rechter Zeigefinger kreiste an ihrer Schläfe, während sie kicherte. „Ein bisschen ballaballa, du weißt.“
„Hat er keinen Führerschein“, pustete er vor Lachen.
Sie senkte den Kopf und schielte ihn an. „Dem Bubi gebe ich bestimmt nicht meinen geliebten Porsche. Der Typ würde sich nur totfahren.“ Sie sah zur Seite. „Außerdem kann ich ihn seit einem Tag nicht erreichen.“
Er nickte und grapschte ihr an die Brust. „Als Ersatz soll ich aushelfen.“

„Ich habe Neuigkeiten“, flüsterte sie. „Komm, lass uns hineingehen, sonst erfriere ich.“
Kopfschüttelnd zeigte er auf den Eingang. „Dort hinein?“
„Warum? Hast du Angst, dich erkenne jemand?“, konterte sie.
Seine Lippen leckend, strich er über ihre Hüfte. „Dein Hotelzimmer ist bestimmt gemütlicher.“
Ihre Mundwinkel hoben sich. Sie beugte sich vor, bis ihr Mund sein Ohr berührte. Flüsterte.
Er zuckte zurück. „Muss das sein?“
Sie stieß in von sich, verschränkte sodann die Arme. „Wenn mein kleines Mädchen keine Lust hat. Bitte!“, zürnte sie. Den Kopf erhoben, warf sie ihm den Bläser zu, wandte sich ab und stolzierte davon. Sie schwang verführerisch die Hüfte, trällerte: „Little boy, gonna make you a man“.
„Wart“, rief er ihr hinterher.



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