Flucht über die Nordsee 39: Stiller Ort

ahorn

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Auf neuem Kurs


Verfluchter Schatz

Er hätte sich ohrfeigen können. Wie dümmlich er gewesen war. Es war trivial. Er verfluchte die fortwährend unheilverbreitenden Rohdiamanten. Früher, damals, heute. Er summte: Diamant are the Girls best friends. Die Tiefe dieser Zeile erschreckte ihn. Das Glänzen in der Nacht in ihren Augen, als er ihr sein Geheimnis verriet. Es war ihre Nacht gewesen, in der ihre Liebe entbrannte. Sie, blutjung, zerbrechlich, gestand ihm, dass sie weg von ihren Eltern wollte, fliehen. Er ihr in schillernden Farben eine neue Existenz versprach. Sie sich ihm hingab, unschuldig und er sie entjungferte. Nein! So weit hatte er sich nicht vorgewagt.

Sie waren Freundinnen. Einen Pakt fürs Leben hatten sie geschlossen. Klar, dass sie Josephine berichtete. Die Blindheit der Liebe hatte ihn geschlagen. Logisch, dass Josephine ihn bei der nächsten Reise begleiten wollte. Mit der Auflage, reinen Tisch zu machen, hätte er ihnen die Beute geschenkt. Doch er benötigte sie für ein höheres Ziel. Es war nicht Legel, was er vorhatte. Eher ein persönlicher Krieg, den er führte, der bald in seine letzte Schlacht ging. Wieder diese Diamanten als Köder, die diesmal nicht echt, im Geiste existierten wie ein Schatz eines Freibeuters. Damals lag die Lage anders. Zu Geld wollte er sie machen, hatte eine Mine ausgekundschaftet. Den Zaster nehmen und sich in die Stiftung einkaufen. Großzügige Spender bediente man bevorzugt.

Fast alles wie damals halb Belgien war in Aufruhr. Drei Mädchen verschwunden, schalte es aus jedem Radio. Klar. Er war bei der Suche beteiligt, kannte die drei Girls, mehr noch. Als ihr Vater sollte er das Lösegeld übergeben. Er hatte die Diamanten von Carel übernommen.
Aus dem Funk erfuhr er, die Polizei hätte eine Kleine in einer heruntergekommenen Scheune aufgefunden. Er eilte zu dieser Scheune, worauf er sie am Fuß einer zerbrochenen Leiter befand. Sie hatte sich den Kopf aufgeschlagen. Ihre Hände und Füße waren mit einem Seil umschlungen. Sie sagte nur ein Wort. Josephine!
Es war sein Instinkt, der ihn trieb. Mit den Diamanten auf dem Beifahrersitz macht er sich auf zu den alten Wehrmachtbunkern. Wie oft hatte er ihr die Geschichte vom Schatz im Bunker erzählt. Er konnte es nicht fassen. Sie spazierte zwischen den Unterständen, steuerte den betreffenden Bunker an. Er schlich sich von hinten an sie heran, und schickte sie mit einem gezielten Handschlag ins Land der Träume.
Fassungslos entdeckte er das Mädchen. Sie lag in ihrem Verlies, betäubt, in weißer Korsage, Strapsen, Stümpfen und in einem Fernseher flimmerte ein Porno. Zur Polizei konnte er nicht. Er rief Carel an, übermittelte ihm wie verabredet den Übergabeort. Mit zitternden Händen trug er Josephine in den Kerker und sie, dieses arme, unschuldige Mädchen, in seinen Volvo. Da er auf die Zusagen vertraute, hatte er sie am vereinbarten Ort herausgeworfen. Allein. Hilflos. Ihn traf die alleinige Schuld.

Er lenkte seinen mitternachtsblauen Volvo in die Straße, die ihm seit mehreren Monaten zu einer zweiten Heimat geworden war, und klopfte an seine Jacketttasche, an seine mit den Beweisen. Befunde, die ihn überzeugten, denn sie hatte die Wahrheit gesagt. Nun, da er Klarheit hatte, würde er sie, obwohl er sie liebte, benutzen, um dem Grauen ein Ende zu setzen. Sie, das schwächste Glied in dem Dreierbündnis.
Hin und hergeworfen von den Gefühlen, stoppte er den Wagen. Er dachte an Klara, obwohl Maria immer beteuert hatte, es sei nicht sein Kind, empfand er wie ein Vater für sie. Dass er es mit ihrer Mutter nicht ewig aushielt, war nicht seine Schuld. Sie hatte sich verändert. Aus dem ausgeflippten Hippie, der grenzenlosen Buddhistin. Er kratzte sich am Genick.Oder war sie Hindu? Ob oder ob nicht. Jedenfalls mutierte sie zu einer bibelfesten Christin. Er hatte nichts gegen Christen oder anderen Religiösen. Ein Zustand, den jeder für sich entscheiden musste. Die Art, wie sie mit ihrem Glauben umging, wie verbohrt, missionarisch sie ihn bekehren wollte, als wäre er der Satan. Dies ging ihn auf den Keks, nicht mehr, nicht weniger. Dabei war er in seiner Art nicht minder gläubig. Er war Jude und erkannte, dass er darauf stolz sein konnte, nein, kein Außenseiter, kein Fremder war.

Wenn die Befunde in seiner Tasche korrekt waren, davon ging er aus und sie Klara, folgte … Er schüttelte seinen Kopf. Der Zweifel in den Gedanken erschreckten ihn. Sie war Klara, da war er sich sicher. Jedoch dann war es unmöglich, dass Maria sie geboren hatte.



Stiller Ort

„Hier, damit du dich nicht mehr beschwerst, dass es dir zu kalt ist!“ Jenni grinste und warf ihr zwei Plüschdecken zu.
„Danke! Wo hast du die den gekauft, hier gibt es kein einziges Geschäft?“, fragte Sabine erstaunt.
Jenni vollführte eine kreisende Handbewegung. „Zapp, zapp.“ Sie lachte. „Hingen einsam auf einer Wäscheleine.“ Sie griff in den Stoffbeutel, der an ihrem Unterarm baumelte. „Die Äpfel lagen gleich daneben“, sie schmunzelte, derweil sie mit dem Obst Sabines Bauch dekorierte. „Guten Appetit!“
Sabine ergriff die Äpfel, kullerte sie über eine Holzdiele und stand auf. Sie schüttelte eine Decke auf, breitete diese auf dem Strohlager aus und blinzelte ihrer Freundin zu. „Diebin!“
Jenni stemmte ihre Fäuste auf ihre Hüfte und legte ihren Kopf schief. „Ich würde es eher Organisationstalent nennen.“
Sie fiel auf die Decke. Pfeifend schnappte sie sich einen Apfel und bis herzhaft in sein Fruchtfleisch. Sabine setzte sich auf ihre Unterschenkel, verdeckte ihren Mund und flüsterte: „Ich verstehe es nicht?“
„Was?“
„Warum?“
Jenni schmetterte ihre flache Hand an Sabrinas Haaransatz. „Wach auf! Akzeptiere, dass deine Mutter eine Nutte ist.“
„Sprich nicht in dem Ton von meiner Mutti!“, schnauzte sie Sabine an und rollte von deren Körper, bis sie auf dem Rücken liegend, neben ihr lag.
Nickend verschränkte Jenni ihre Arme, krähte: „Gut. Eine Prostituierte und was bin ich?“ Sie senkte ihr Haupt, und flüsterte: „Ein Beruf wie jeder andere“.
Jenni hob ihr Becken, fischte einen Brief aus ihrer Gesäßtasche „Deiner Logik kann ich nicht folgen“ Sie klopfte auf das Papier. „Hier steht nichts davon drin“ Sie faltete den Zettel auseinander und las: „Liebe Bine, ich habe ein paar Probleme, daher habe ich meiner Freundin gebeten eine Zeit auf, dich aufzupassen“.
Jenni entriss ihr den Brief, deutete auf einen Satz. „Und Kollegin. Kannst du nicht lesen.“
Den Mund gespitzt, verschränkte Sabine ihre Arme, warf ihren Kopf in den Nacken. „Zufall! Es gibt eine Menge Frauen, die Thekla heißen.“
Jenni legte eine Hand auf Sabines Bein. „Verschließ die Augen nicht von der Wirklichkeit. Wo arbeitet deine Mutter?“
„In einer Bar.“
Jenni tippte an ihre Schläfe. „In welcher Bar ziehen die Angestellten Strapse über ihre Schenkel.“
Sabine warf ihrer Freundin einen abfälligen Blick zu. „Was spionierst du im Kleiderschrank meiner Mutter herum.“
Die Zunge herausgestreckt, reckte Jenni ihre Arme herauf und wetterte: „Ich habe mir, etwas zum Anziehen gesucht.“ Sie zerrte an Sabines Jeans. „Deine Sachen sind nicht mein Still!“
Worauf diese am olivfarbenen Stoff zupfte, der deren Hüfte verhüllte. „Mein Rock gefällt dir trotzdem.“ Sie legte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf und sinnierte: „Nein. Da ist etwas passiert. Das spüre ich. Warum lag der Brief auf dem Küchentisch?“
Jenni stütze sich auf ihren Ellenbogen ab und umklammerte mit ihrer Rechten ihr linkes Handgelenk. „Ein schlechtes Gewissen hat sie gehabt. Den Brief für sich selbst geschrieben.“ Sie zog einen Halm aus dem Stroh, umkreiste mit der Spitze Sabines Bauchnabel. „Verkauft hat sie dich!“
Sabine schob den Stängel von ihrem Bauch. „Du spinnst!“
Wieder umspielte Jenni Sabines Nabel. „Ist nicht das erste Mal das Nuten ihre Töchter verkaufen, wenn sie blank sind.“
Sabine wandte ihr das Gesicht zu. „Du kennst dich da aus!“
Ihre Freundin legte den Strohhalm ab und fuhr mit einem Fingernagel über ihre Haut. „Tut mir leid, dass ich in dem Gewerbe aktiv war. Zumindest hört man eine Menge.“ Ihre Fingerkuppe glitt unter Sabines Top. „Was willst du eigentlich auf dieser Insel?“
Sabine ergriff den Halm, steckte ihn in den Mund. „Wir haben oft, unseren Urlaub dort verbracht. Meine Mutter hat mir gesagt, wenn sie einmal Probleme hätte, würde sie dort Unterschlupf suchen. Außerdem …“
Jennis Hand wanderte weiter unter dem Stoff. „Weißt du, dass du einen prickelnden Busen hast?“
Das Mädchen kaute auf dem Halm. „Lenke nicht ab. Du hast selbst gesagt, dass eine einsame Insel für dich ein perfektes Versteck sei.“ Sie betastete die Wange der Freundin. „Warum hast du sie umgebracht?“
Die Augen verdrehend, beugte sich Jenni vor, bis ihre karminrotem Lippen die Stirn des Mädchens berührten. „Es war Notwehr. Wie bei dir!“ Mit dem Handrücken schob sie das lavendelfarbene Top über Jennis Brüste und flüsterte: „Ich dir verklickert, dass mir Thekla Geld schuldete“, dabei küsste sie Sabines Busen. „In ihrer Wohnung war sie nie von ihren Bodyguards umzingelt. Konnte ich wissen, dass sie eine Knarre zückt.“ Ihre Fingerspitzen umspielten Sabines Hosenknopf, bis dieser durch das Knopfloch fluchte.
„Was machst du?“
Jennis Lippen berühren den Mund der Freundin. Sie hauchte: „Entspann dich! Sei nicht verkrampf. Wir haben eine lange Reise vor uns!“
Dann erfasste sie den Zipper des Reißverschlusses und zog in bis zum Anschlag hinab.
Sabine stotterte. „Hallo!“
Jenni schien sich nicht stören zu lassen und leckte über Sabines Mund. „Wird locker, hab ich gesagt“, flüsterte sie, während ihre Finger unter Sabines Slip glitten. „Hab ich dir eigentlich gebeichtet, dass ich Ladys begehrenswerter finde als Kerle?“
Sabine schloss ihre Augen.


Toni legte das Buch zur Seite, betätigte die Klospülung und im nächsten Moment spritze kühles Nass gegen seine Pobacken. Wie auf hoher See, wenn er das Gesäß über die Reling regte, die Gischt in leckte. Nur auf Bärbels Toilette glückte ihm dies. Warum hatte er nach langen Studien nicht herausbekommen, es war eben so. Es gab jedoch einen zweiten Grund, ihre Örtlichkeit aufzusuchen, zumindest wenn sie nicht daheim, sonst war der Ort für ihn tabu. Er konnte sitzen, lesen und gleichzeitig aus dem Fenster sehen. Die ganze Straße übersah er nicht. Gerade den gegenüberliegenden Bürgersteig vermochte er einzusehen. Das genügte ihm.
Nachdem der süßliche Duft seiner Exkremente sich verflüchtigt hatte, ergriff er erneut das Werk. Künstlerisch hochwertig war es nicht, eher flach und banal geschrieben, gleichwohl las er es, wie er alles Gedruckte verschlang, obwohl es hier anders lag. Angepriesen wie die Bibel, hatte es Alina ihm geschenkt, damit er die wahre Sicht auf die Welt erfahre.
Toni warf das Buch auf den Boden. Verrückt hatte es sie gemacht. Er verfluchte das Individuum, die ihr es überreicht hatte. Wer es war, wusste er nicht. Zumindest war es nicht Jannette gewesen, den die existierte nicht. Als Person sicherlich, jedoch war sie mit Sicherheit nicht Alinas Halbschwester, so viel hatte er immerhin herausbekommen.

Genauso wie Fantasiegestalt Antonia, die er beim ersten Atemzug, nachdem er in den heimischen Gefilden angekommen war, wie ein Paar verschleißende Spitzenschuhe, an den Nagel gehenkt hatte. Sie baumelte nunmehr neben Torben. Weshalb Tanja die Mär aufrecht hielt, war ihm nicht nur egal, sondern ging ihm ab, wie die Wurst, die ihren vorbestimmten Weg schwamm. Mit Sicherheit stand er irgendwann an der Weggabelung, die alle Heranwachsenden erreichten. Eines Tages musste er sich entscheiden, rechts oder links. Die Zeit war jedoch für ihn fern. Gehirn und Körper in Einklang zu bringen ihm wichtiger. Die Gefühle zu sortieren, um zuerst den rechten Weg zu finden. Dabei mit Vorsicht vorzugehen, dass sein Herz nicht dominierte, ihn nicht übermannte. Denn es gab Wege, welche einzig eine Richtung hatten.
Fransiska hatte ihm gestern von Jannette erzählt. Sie war ein Märchen ein Hirngespinst, welches sie aus falsch verstandener Liebe erfunden hatte, um ihre Tante nicht zu verletzen.

Franziska begrüßte ihn vergnügt, als er am Morgen ihr Reich betreten hatte. Die Augen müde, die Glieder schlaff, hatte er sie gefragt, warum ihn niemand geweckt hätte.

Geweckt wurde er, erst wenigen Minuten zuvor. Bärbel war in ihrer militärischen Art in Alinas Zimmer gestürmte, warf ihn rüpelhaft von der Luftmatratze und forderte ihn auf, sich anzuziehen. Sie erklärte ihm barsch, Karl warte auf sie im Auto, ein Umstand in diesem Augenblick gelogen, aber für ihn nicht kontrollierbar. Sie stopfte seine Sachen in die Reisetasche und den Rucksack. Er schaffte es gerade einmal, sich ein Kleid überzuwerfen, an Körperhygiene war nicht zu denken.
Alinas Bett war leer und Matthias ruhte nicht mehr. Er konnte von der Diele in sein Zimmer spähen. Verabschieden wollte er sich zumindest. Alina hatte bereits geschlafen, nachdem er mit ihrem Bruder, gegen zwei Uhr, das Obergeschoss geentert hatte.

Franziska wies auf die rustikale Holzbank, die ihm in der letzten Zeit vertraut worden war, forderte ihn auf, was zu essen. Unvermittelt wie er vor ein paar Tagen hier eingekehrt war, so abrupt stellte sich der Abschied dar. Es würde ein Scheiden für immer werden. Nicht, dass er nie wieder vorbeikäme. Unterumständen in nahen oder ferner Zukunft, eher in ferner. Aber es wäre anders. Gewiss würde Antonia nicht ihren Rock glatt streichen und sich niedersetzten, sondern er, oder jener, der er dann war.
Wie würde er empfangen werden? Er, der alle an der Nase herumgeführt hatte, obwohl Tanja die Schwindlerin war. Wer würde danach fragen. Alina kein Wort mehr mit ihm wechselte und Matthias? Der Junge, der den Harten mimte und abseits dessen zerbrechlich war wie eine chinesische Teetasse.
Er stand Matthias näher als sonst irgendeiner Person auf diesem Hof. Als er in der Sattelkammer auf dem verschlissenen Sofa neben ihm ruhte, sein Kopf auf Matthias Oberkörper lag, hatte er ihm die Wahrheit gesagt, wer Tanja war. Mehr jedoch nicht. Die Scham ihm mehr preiszugeben war größer als die Gefühle, die er zu ihm hegte.

Er starrte auf das Brötchen vor ihm auf dem Tisch, von dem zäh die Marmelade auf das Brett floss. Wo Alina sei, hatte er sie gefragt, eher aus Angst, er könne sich ein Herz fassen, der Bäuerin die Wahrheit über sich erzählen.
Franziska rieb ihre Hände an der Schürze ab, setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Alina, Hias und Vale seien früh zum Angeln gefahren, berichtete sie mit einem mütterlichen Lächeln. Sie ergriff seine Finger, hauchte ihm entgegen, er sei ein Engel, vom Herrgott geschickt. Viele Namen hatte er Weichei, Nerd, Vollidiot, Spinner, aber Bote Gottes. Nie hatte ihn ein Mensch derart bezeichnet.

Abermals nahm er die Lektüre zur Hand. Er betrachtete sie von allen Seiten, zupfte an seinem Ohrläppchen. Hatte die Maskerade seine Seele verwirrt oder waren es die gelesenen Zeilen. Bemächtige das Buch seinen Geist. Er, der jegliche Freunde als Ballast ansah, wie unnötige Ausrüstung auf einem Segelboot, mit dem er ein Rennen bestreitet. Toni schüttelte den Kopf. Es war für ihn ein niveauloser Krimi, sonst nichts, was reizte ihn das schmalzige Gehabe zweier Weibsbilder, wie sie Matthias nannte. Franziska hatte sich in ihm geirrt, jemanden in ihm gesehen, der er nicht war, nicht erstrebte zu sein. Sah sie in ihm das brave Mädchen, die Rolle, die sie sich für ihre Tochter wünschte. Es waren die gleichen Erkenntnisse. Er vernahm wie sie zum zweiten Mal.

Er hatte genug gehört, er sah sich im Gedanken aufspringen, in Alinas Zimmer rennen. Schwer atmend stürzte er zum Kleiderschrank, riss die Türen auf und starrte auf ihre Garderobe. Er hatte das Zeichen des Weibes, der Demut, hineingehängt. Jedoch letztmalig erblickt? Als Bärbel sein Gebäck packte.
Er stolperte zu seiner Reisetasche. Da lag die Tracht samt der Haube, sorgsam gefallt oben auf. Waren sie alle verrückt geworden. Wie kam sie dazu? Sie hatte ihn nie in der Montur gesehen.
Er knallte die Tracht auf den Küchentisch, schrie sie an, ihm stände sie nicht zu. Sie solle irgendwann ihre Enkeltochter damit ausstaffieren, nicht ihn. Franziska legte ihren Kopf zur Seite, breitete ihre Arme aus, schritt auf ihn zu und nahm in an ihre Brust. Er sei ihre Enkelin, flüsterte sie ihm ins Ohr. Mit allen Kräften riss er sich los, warf ihr an den Schädel, Alina sei die erwünschte Person. Erst schaute sie betrübt, dann lachte sie, klatschte in die Hände. Wie gut Alina und er sich verstanden, gab sie ihm freudestrahlend zu verstehen.
Sie bat ihn, sich zu setzen. Worauf sie sich ihm gegenübersetzte und wie zu einem Erwachsenen mit ihm sprach. Den Kopf nickend bestätigte sie, dass ihre Tochter angenommen und Alina es wusste.
Ihr früherer Arbeitgeber bat sie, sie aufzunehmen, berichtete Franziska. Ein Ehepaar reich, wobei sie das ‚reich‘ über Gebühr betont hatte, dennoch mit großem Herz für Arme und Bedürftige. In dieser oder jener Art hatte sie die beiden beschrieben.
Gerne hätten sie und ihr Ex-Mann für sie gearbeitet. Er als Gärtner, sie als Hausdame. Bis sie, getrieben von ihrer Pflicht, nach vielen Jahren zu ihrem verhassten Vater zurückkehren musste.
Matthias kam zur Welt. Es war eine schwere Geburt. Sie konnte keine weiteren Kinder mehr empfangen, wünschte sich allerdings sehnlichst eine Tochter.
Der von ihr geliebte Gemahl wanderte aus, ließ ihren Sohn und sie in Stich.
Bei der Erringung erweichte sein Herz. Er spürte weiterhin ihre Trauer. Die Augenbrauen zusammengezogen, die Stirn gerunzelt, warf er Alinas Buch gegen die Badezimmerwand.
Es schellte an der Tür. Wutentbrannt zog er die Schlafanzughose über seine Hüften, stampfte aus dem Bad. Er verfluchte den Paketboten, dessen Lieferwagen er durchs Fenster erspäht hatte und betätigte, an der Wohnungstür angekommen, den Türöffner.



Versuchung

Eine Hand schwang vor seinem Gesicht, gefolgt von einem schelmischen Grinsen und einem Namen, der, wie der Atem einer Fee, aus dem Munde eines Mädchens flog: „Antonia“.
Sie im luftig weinroten Minikleid. Ihr tiefschwarzes Haar animalisch, wie die Mähne eines Löwen, frisiert. Ihre Lider in silbrigen Anthrazit geschminkt.
Stand er ihr in schlabbrigen Schlafanzug, die Matte kaum weniger unbändig, aber unfrisiert, gegenüber und starrte sie an. Sein Gesicht glühte in einer unnatürlichen Röte, machte ihren Wangen Konkurrenz. Nicht das Gewand als solches trieb ihm Schamröte in die Haut, vielmehr die Abbildungen auf dem blassrosa Stoff. Die Farbe für einen Piraten exotisch, eher peinlich, zierten Anker sowie Piratenschiffe Beine und Arme.
Die Krönung waren jedoch die beiden Figuren auf Bauch und Brust. Käpten Hook mit Holzbein und goldenen Harken anstatt Hand erwehrte sich mit grimmiger Miene der quirligen, lächelnden Tinker-Bell.
Die blutjunge Dame schob ihren Körper mit einem erotischen Hüftschwung an ihm vorbei, legte sodann Hand auf ihre purpur bemalten Lippen, wodurch vom Morgenlicht angestrahlt, ihre in der gleichen Farbe lackierten Fingernägel glänzten.
„Entschuldige. Torben!“ Sie schmunzelte.
Ihre Grübchen verrieten sie, woraufhin er verlegen stotterte: „Tami?“
Sie kniete sich nieder, schlüpfte aus ihren weinroten Sandaletten. Schuhwerk eher von einer Lady als von einem Girl, obwohl er derartige, der Anlass ein Feierlicher, selbst getragen hatte.
„Wir waren verabredet“, hörte er sie in seinem Zimmer verschwinden, dabei klimperten ihre metallenen Armreife wie Glöckchen zur Weihnachtszeit, ähnlich dem Stimmchen der Fee auf seinem Shirt.
Sie enterte seine Koje, überschlug ihre Beine und klopfte auffordernd auf die Matratze. „Komm, erzähl! Wie war die Hochzeit deiner Mutter?“
Er schlich auf sie zu, setzte sich neben sie und vergrub seine Hände zwischen den Oberschenkeln. „Nett!“
Tami wandte das Gesicht ihm zu. „Nett?“, wiederholte sie wie ein Papagei.
Tonis Augenbrauen trafen sich. Er keuchte: „Gegessen. Gesäßen“. Sich von ihr abwendend murmelte er: „Was so bei einer Feier passiert.“
Sie klimperte mit ihren rabenschwarz, gefärbten Wimper. „Hat ihr das Kleid gefallen?“
Seine Kinnlade verlor den Halt. „Wem?“
„Der Schwester des Mannes deiner Mutter“, flog es wie Geschosse aus der Mündung eines Maschinengewehrs über ihre Lippen.

„Cola-Light?“
Er erinnerte sich daran, dass sie dieses Getränk bei ihrem letzten Besuch verlangt hatte.
„Hast du eine Richtige? Ich steh auf keine Mädchen-Brause!“, schnurrte sie, rümpfte die Nase.
Er trottete in die Küche, holte das geforderte Getränk aus dem Kühlschrank. Klassisch war es nicht, sondern koffeinfrei. Der Admiral verbat ihm jegliche Drogen.
Er zupfte an seinem Ohrläppchen. War das der Grund des Deliriums gewesen? Die Halluzinationen, die er am Abend nach dem Einkaufsbummel mit Tanja erfahren hatte. Drei Gläser Cola-Light hatte er in dem Restaurant geleert. Kalorienarm, jedoch mit Koffein.
Stand sie unter Drogen. Sie war anders. Oder hatte sie ihre Tage?
Er schüttelte den Kopf und murmelte: „Blödsinn!“
Sie war ein Mädchen, eine Frau, launisch und zickig. Wie alle Menschen mit weiblichem Naturell eher von ihren Gefühlen gesteuert. Die ihm einzig bekannte Ausnahme stellte seine Tante dar, obwohl er seit dem gestrigen Tag an ihrer Konsequenz zu zweifeln begann.

Ihre militärisch zackige Pack-Aktion außer ach gelassen, war ihr Verhalten merkwürdig gewesen. Karl fuhr mit einem Taxi vor, wackelte, den Kopf gesengt, wie ein Dackel auf sie zu. Keine herzliche Geste schwappte von Bärbel auf ihn über. Nicht einmal nach seiner gedrucksten Frage, warum sie ihn nicht abgeholt hatte, segelte ein barmherziges Lächeln über ihre Lippen. Geschweige eine zärtliche Umarmung, wie sie sich üblicherweise, verstohlen begrüßten.
Er hatte ohne einen Kommentar sein Gepäck eingeladen, verabschiedete sich mit einem Bussl, wie er es bei den Oberländern gelernt hatte, bei Franziska. Die Wagentür zwischen den Finger stürmte Aishe heran. Die Haare zerzaust, gehüllt in einem zerknüllten Sommerkleid, lief sie auf ihn zu, umarmte ihn und schmatze ihm einen nach abgestandenem Bier stinkenden Kuss auf die Lippen, der wie Limburger-Käse mit Hering schmeckte.
Im Leihwagen wechselten die Fronten. Karl in seinem Element, wie der Herr im Haus, hielt Bärbel vor, wenn sie weiterhin unkoordiniert führe, dann sehe er die Ankunft in Bremen, am heutigen Tag als gefährdete Tierart an.
Ein Humor, den nie jemand verstand. Außer ihm Nahestehenden, die ihn akzeptierten.
Recht hatte er. Zum dritten Mal durchfuhren sie die verlassende Hauptstraße desselben Dorfes, trostlos, ausgestorben. Es war Pfingstmontag.
Anstatt, wie sonst, Karl das Knie zu tätscheln und bedächtig zu nicken, stoppte sie den Wagen, stieg aus, setzte sich zu Toni und verschränkte ihre Arme gefolgt von drei gebellten Worten: DANN FAHR SELBER.
Das saß. Erneut legte Karl seinen Dackelblick auf, quälte er seinen massigen Oberkörper auf die Fahrerseite, startete den Motor und traktierte das Gaspedal.
Bärbels Kopf schnellte kurzzeitig zuckend in die Lücke zwischen Kopfstütze und Fahrzeugaußenhaut, bevor sie, die Lippen geschürzt, ihre Zeitschriften zur Hand nahm. Lächelnd lehnte sich zu ihm hinüber, tippte mit dem rechten Zeigefinger auf ein abgebildetes Mannequin und fragte ihn, wie ihm die neue Herbstmode gefalle. Er lamentierte kurz, dass das kommende Violett nicht sein Fall sei, in der Zuversicht damit von ihr in Ruhe gelassen zu werden. Sich seiner Literatur wieder zuzuwenden. Weit gefällt. Sie pflichtete ihm bei, verwickelte ihn in ein Fachgespräch. Ihm stünden eher Glockenröcke statt A-Röcken. Woraufhin er ihr zustimmte, gleichwohl ihm nicht bekannt war, was im genauen ein Glockenrock war, und wieweit sich dieser von einer ihm noch unbekannteren A-Rock unterschied. Rock hin oder her, ihm gefiel, wie die Tante anfing zu lachen. Sie lachte nie, fast nie. Wie unter Drogen amüsierten sie sich köstlich.
Karl stumm.

Der Schaum der Cola benetzte Tonis Finger. Zurückzuckten, richtete seinen Blick zur Küchentür. Er hatte sie allein in seinem Zimmer gelassen. Ein von Neugier erfülltes Mädchen, welches sicherlich nicht davon zurückschreckte, in fremden Kleiderschränken zu spionieren.
Bärbel hatte ihn am gestrigen Abend aufgefordert, die Mädchensachen in seinen Schrank zu verwahren.
Sie war der Ansicht, ihr Kleiderschrank berste. Nur, das Kleid, dass er bei der kirchlichen Trauung getragen hatte, umhüllte sie mit einer Kunststofftasche und verstaute es in ihrem Schlafzimmer. Das Stück sei zu teuer gewesen, argumentierte sie. Er verbrachte dann die Zeit bis zum Abendbrot damit, seinen Schrank umzubauen, denn für Kleider war er nicht vorgesehen. Zumindest fand er in einer Schublade eine Kleiderstange, die er in mühevoller Kleinarbeit montiert hatte. Handwerk gehörte nie zu seinen Präferenzen. Sogar bei Bootreparaturen reichte er nur das Werkzeug. Dafür putze er gehorsam das Schiff, bis es glänzte. Deshalb war er zufrieden, als er sein Werk betrachtete. In der linken Schrankhälfte stapelten sich gedrängt, die derben Jungenklamotten und in der Rechten ordentlich drapiert, die luftige, zarte Garderobe der Mädchen, obwohl er sie nicht anziehen würde.
Er stieß mit seinen Achtern die Tür zu seinem Zimmer auf, trat, die vollen Gläser balancierend, hinein. Ein Lächeln auf den Lippen, legte er seinen Kopf zur Seite.
Tami kniete auf dem Bett, ihre linke Wange auf dem Kopfkissen, den Mund leicht geöffnet, ihren Po zur Decke gereckt und schlief.
Toni schlich sich an sie ran, fasste mit zwei Fingern den Saum ihres Kleides und strich ihn über ihr blankes Gesäß. Kaum losgelassen, rutschte der Stoff hinab. Es probierte es ohne Erfolg ein zweites Mal. Er schwang seinen Kopf von rechts nach links, berührte mit seinen Fingerspitzen das zarte Bändchen an ihrer Hüfte.
Wie Aishe, sann er, wie sie betastete er einen Tanga, bloß dass dieser nicht Tanjas, sondern Tami schmeichelte.

Matthias hatte ihn bis in Alinas Zimmer begleitet, zogen seine Gedanken ihn weg. Nach einem letzten Kuss ließ Matthias ihn zurück.
Obwohl er todmüde war, konnte er nicht einschlafen. Er wälzte sich auf seiner Luftmatratze, Hunderte von Bildern stürmten auf ihn ein. Matthias‘ Worte schwammen um ihn herum, wie Haifische, ein Schwarm Sardinen. Er musste mit jemand reden, sich befreien. Außer Tanja fiel ihm niemand ein. Franziska verständnisvoll, dennoch fremd kam genauso wenig infrage wie Alina, denn seine Fassade wollte, konnte er nicht aufgegeben. Der Admiral würde ihn für verrückt erklären und Onkel Karl, er hatte zumindest ein Beichtgeheimnis. War jedoch zu weit weg.
Er zog das Nachthemd aus, schlüpfte in ein Kleid und Espadrilles, verließ den Raum.
Das Dorf lag still und bewegungslos wie ein Foto vor ihm. Als wäre jegliches Leben aus diesem gewichen. Ein Gefühl, ein Déjà-vu umfing ihn. Es war wie letztens im Stadtpark, nur dass er diesmal vollkommen allein war. Keine Schwester ihm Beistand und kein Klackern von der Stille zerreißenden Damenschuhabsätzen, der Szenerie ein wenig Leben einhauchte. Hinter allen Büschen, jeder Hausecke, erwartete er das Vorpreschen der Langoliers. Verspürte ihre Nähe, glaubte, ihr Kommen durchs lauter werdende Knirschen zu hören. Wie sie bedächtig, aber ohne Unterlass die gerade vergangene Zeit in ihr Maul des Vergessens rissen.
Das Herz raste, der Puls klopfte ihm, als er mit zitternden Knien die Wirtschaft erreichte. Erst hier erkannte er, wie blödsinnig sein Unterfangen war. Sie würde tief und fest schlafen, ihn anschreien. Egal. Er war da.
Unterumständen vermochte sie, wie er, kein Auge zuzumachen. Er schlich um den Gasthof. Ein zarter Lichtschein fiel aus einem der Fenster.
Er atmete erleichtert auf. Es war ihre Terrassentür. Seine Füße trugen ihn ohne einen Befehl. Kurz vorm Lichtkegel blieb er stehen. Sie war nicht allein. Aishe schmiegte ihren Körper an den ihren. Nackt! Wie sie frei von jeglicher Verhüllung da stand, zog sie Tanja einen Slip über die Hüfte. Sie spielte mit den zarten Bändchen des Tangas, strich um das seidige Dreieck und küsste ihren Hals. Die Lippen weiterhin ihre Haut leckend, liebkoste eine Hand Tanjas Busen und die andere verschwanden unter dem leidlich ihre Scham bedeckenden Stoff. Tanja lehnte ihren Kopf zurück und schloss die Vorhänge.

Er traute seinen Augen kaum. Zwinkerte. Dass Tanja sich zu Frauen hingezogen fühlte, hatte sie ihm gebeichtet. Aber an diesem Tag, an ihrem Hochzeitstag, an dem sie eher in inniger Liebkosung mit ihrem Ehemann das Bett teilten, sollte, wie es der Tradition oblag? Gehofft hatte er es, im tiefsten Herze ersehnt. Nicht, dass er Stephen mochte, im Gegenteil, gleichwohl er sich zu ihm hingezogen fühlte. Wie ein Freund im Geiste erschien er ihm. Jeder Kerl hätte es für ihn sein können, der die geliebte Schwester auf den Weg der Tugend zurückholte. Er hatte nichts gegen Homosexuelle. Aber Tanja?
Dann dies! Abscheulicher, sie verführte obendrein eine verheiratete Frau. Ließ sich von ihr begrapschen, anstatt sich mit ihrem Mann zu vereinigen? Die Verwirrung trieb ihn voran, bis, er war ein paar Meter gerannt, der Saum seines Kleides sich in einem Rosenbusch verfing.
Mit fahrigen Fingern zog er die Dornen aus dem Stoff, dabei bemerkte er neben Tanjas Fenster das Spiel eines Schattens an der Wand. Erst dachte er, es wäre ein Lichtspiel. Bis sich die Silhouette vom Gemäuer abhob, wie ein Geist vor der Scheibe verweilte. Nein, wie der Tod, denn die Gestalt glich eher dem Sensenmann, welcher schwerelos gleitend, durch den Garten entschwand.

Er erinnerte sich daran, wie er, gleich einem verschämten Schulmädchen ein Blatt nach dem anderen aus den rapsgelben Blüten gerissen hatte. Gleich diesem schwankend, ob sie ihrem Verehrer einen Kuss auf die Wange drücken sollte oder es bleiben. Er gleichsam taumelnd der Schwester zu berichten, was er gesehen hatte oder zu entschwinden. Sein vorheriges Verlangen, ihr die Unzucht vorzuhalten, hatte er verworfen. Egal, was Tanja tat, er liebte sie. Absolut vergessen hatte er das Ansinnen, weshalb er den Weg zur Braut eingeschlagen hatte.

Die Tür zum Gasthof stand offen. Er betrat den finsteren Flur, tastete sich bis zu einem Schein vor, der ihr Schlafgemach markierte. Mit zitternder Faust klopfte er an. Nichts rührte sich. Er pochte erneut, wartete eine Zeit, zuckte mit den Achseln und wandte sich zu gehen. Das Licht ihres Zimmers hüllte den Gang in ein Halbdunkel. In ein Badetuch gehüllt, stand sie vor ihm, schaute ihn fragend an. Er unbeachtet ihrer Reaktion, stürzte zu dem seidigen himbeerroten Kleid. Er nahm es auf, strich über die blütenweiße Spitze am Ausschnitt, dann hielt es ihr als Beweis ihrer Unzucht unter die Nase.
Sie lachte, sie verhöhnte ihn, sie verspottete all die Spießer in der Welt, bis er weinend zusammenbrach. Sie ihn sodann, mütterlich in den Arm nahm, ihm beteuerte, alles zu erklären, wenn sie, das versprach sie, mit ihm in den Sommerferien einen Törn um die britische Insel starten würde. Was er ihr sagen wollte, hatte er vergessen.

Tami drehte sich auf die Seite. Der Rocksaum ihres Kleides klebte weiterhin an ihrer Taille. Das linke Bein angewinkelt, leckte sie sich über ihre purpurfarbenen Lippen.
Toni schaute ihr zwischen die Schenkel. Ihr reizvoller, seidiger, stahlblauer Slip, der nach seinem Empfinden nicht an den Körper eines Mädchens gehörte, glänzte im Schein der Morgensonne. Wie ein halbgerafftes Segel verbarg das Dreieck einen Teil ihrer Scham. Es war für ihn kein besonderer Eindruck. Der Anblick einer Scheide für ihn normal. Der Sachverhalt, die Fantasie fesselte ihn.
Zu Studienzwecken kniete er sich vor dem Bett nieder. Was die Erwachsenen mit ihrer Sexualität hatten. Sie schwärmten von ihr, sprachen dennoch in Rätseln. Dabei war es trivial, das Natürlichste auf der Welt. Er schloss die Augen und zupfte an seinem Ohrläppchen. Die männliche Person steckt sein erregtes Glied in die Vulva des weiblichen Wesens, rührt darin um und hinterließ sein Sperma. Wenn sie empfängnisbereit, wird sie schwanger. Punkt! Das war alles. Warum sie dieses hinter vorgehaltener Hand erzählten, ihm schleierhaft.
Es leuchtete ihm ein, Mädchen wie Alina gingen mit derart Büchern offen um, obwohl er es nicht verstand, was sie daran umwerfend fand. Als wäre es eine Freude, jemanden etwas in den Körper zu stecken. Unter Umständen machte es dem Mann Spaß, denn es erleichterte ihn. Er empfand es stimulierend, wenn er mit prall gefüllten Darm die Toilette aufzusuchen, um seine Exkremente in die Schüssel zu schleudern.
Ein für Weiblein nicht zutreffender Verhalten, zumindest klagte Bärbel andauernd über ihre Verstopfung. Bei diesem Wort rann ihm ein Schauer über den Rücken. Er dachte daran, wie der Admiral ihm ein Zäpfchen in den Achtern gesteckt hatte. Freude kam bei ihm nicht auf, höchstens bei Bärbel, die ihm lachend mitteilte, er solle sich nicht jungenhaft anstellen.
Er zupfte an seinem Ohrläppchen. Empfanden Frauen anders als Männer. Die Tante war eine Dame, zwar eine alte, jedoch weiblichen Geschlecht. Allein die Fantasie, ein Kerl versuchte, sein Glied ihm hineinzustecken, schockte ihn.
Er raufte sich die Haare. Matthias! Nicht, dass er es jemals gesehen hatte, eher ertastet.

In der Sattelkammer geschah es. Ihm segelten die Bilder durch das Gehirn.
Er erschien später als Matthias, hatte sich frisch gemacht, Lippenstift, Lidschatten, Parfüm, sogar Rouge hatte er sich aufgelegt. Was er im Bad gefunden hatte. Warum wusste er nicht mehr? Ihm war danach gewesen. Natürlich hatte er nicht vergessen, das Abendkleid gegen einen Rock sowie ein T-Shirt zu tauschen. Sogar ihm war es klar. Mit einem Abendkleid zu den Pferden zu gehen, kam nicht einmal ihm in den Sinn.
Matthias saß, wartete in einen der beiden verschlissenen Sessel. Er hatte sich umgezogen, trug einen blauen Bundeswehr-Trainingsanzug, den er vermutlich von seinem Vater geerbt hatte. Lächerlich sah er aus. Er zeigte es ihm. Matthias nahm es mit Humor.
Trotz Strumpfhose fror er, die Zehen vom Tragen der Pumps ermattet, schmerzten. Matthias bot ihm an, ihm die Füße zu wärmen. Er streckte ihm die Beine entgegen. Matthias zog ihn, die Augen verschämt verdrehend, die Schuhe aus und massierte ihn.
Was er dann sah, verwunderte ihn zwar nicht, jedoch zog das Schauspiel ihn in seinen Bann.
Jedes Mal, wenn sein Fuß an den Innenseiten von Matthias Oberschenkeln entlangstrich, dann zuckte es. Was dort passierte, war für ihn eindeutig, jedoch nicht bewiesen. Im täglichen Leben fehlten ihm eben die geeigneten Studienobjekte. Interessant war es allerdings.
Er fand es gar witzig. Wenn er mit seinem großen Zeh das Ding antippte, dann schien es zu wachsen.
Erst als Matthias Wangen mit seinem roten Haar einen Wettstreit ausfochten, erklomm ihm ein Gefühl wie Pein.
Sein Gegenüber nahm seine Scham, nach seiner eigenen Annahme, aufgrund des Rouges auf seinen Wangen nicht wahr, dafür schloss Matthias seine Augen und kein Wort kam mehr über seine Lippen. Worauf er seinen Fuß weiter streckte und diesen zaghaft bewegte. Einzig das Surren von Matthias Atem säuselte ihm entgegen, bis Matthias ihn anlächelte und er für einen Moment die Sattelkammer verließ. Weshalb er sich eine andere Hose übergestreift hatte, verwundert war er nicht, womöglich hatte Matthias bemerkt, dass er nicht auf Militärlook stand.

Toni beugte sich über Tamis Schamlippen und faste sich unbemerkt an den Schritt. Waren es nicht höllische Schmerzen, wenn eine Frau ein Kind gebar? Ein Kopf wuchtig wie eine Pampelmuse sich durch die winzige Öffnung zwängte. Sie mussten anders empfinden, zu mindestens in jenem Arial. Schuld die weiblichen Hormone, die, war er der Ansicht, ihre Nerven in einer Weise stimulieren, damit Schmerz zu Ekstase mutierte. Seine Gedanken schwebten von Jenni und Sabine zu Tanja und Aishe. Was für einen Sinn hatte die geschlechtliche Fusion zweier Frauen, sündhaft nach der Bibel. Konnte man es überhaupt Geschlechtsverkehr nennen? Er zupfte am Ohrläppchen, runzelte die Stirn. Zwischen Männer offensichtlich. Er spürte den Schmerz, das Zäpfchen im Po. Ekelig!
Er definierte den Akt der Damen als intime Berührung. Die Maßstäbe gesetzt, schaute er auf das Bild in seinem Kopf. Aishes Finger glitten erneut unter Tanjas Slip. Ihr Becken schwang vor und zurück. Sie schloss die Augen und lehnte ihr Haupt an ihren Nacken. Er sah förmlich die dämonische Lust auf ihren Lippen. Aber Aishe, was hatte sie davon. Tanja umspielte nicht ihre Schamlippen. Sie stand hinter ihr.
Toni betrachtete seine Hand. Er tippte mit dem Zeigefinger gegen jede Kuppe. Seinen Homunkulus kannte er, die Macht der Hände im Gehirn. Der Gedanke war absurd, fern der Wissenschaft. Trotzdem stellte er die These auf, dass bei Lesben eine Art Nervenverbindung zwischen dem Gebiet der Finger und der Vulva bestand.
Ein kurzes Lächeln flog über sein Gesicht. Sein Herz beschleunigte sein Schlagen. Eine Röte stellte sich auf seinen Wangen ein. Stetig näher kam sein Finger Tamis unter dem halb gerafften Segel verborgenen Lippen.



Erwachen

Mit einem Ruck zog er seinen Arm zurück, da eine Hand auf seine Finger schlug.
„Lass das!“, zischte sie.
Er legte sich neben ihr aufs Bett, stütze den Kopf auf und strich über ihre Nylons. „Warum?“
„Erstens habe ich keine Lust und zweitens meine Tage. Mache dir keine Hoffnung, ist ohnehin besetzt.“ Sie kicherte.
Seine Finger zupften an ihrem Straps, liebkosten das enge Korsett, das ihre wespenartige Taille einschnürte.
Sie griff in sein angerautes Haar. „Besorgst du mir das kleine Geschenk?“
Er küsste ihren Oberschenkel und brummte: „Schätzchen. Wozu brauchst du eine Knarre?“
„Ich arbeite in einem gefährlichen Gewerbe“, wetterte sie und zog an seinen Schopf.
„Aua! Dann besorge ich dir Pfefferspray!“
Sie hielt Daumen und Zeigefinger gespreizt, im Abstand einer Zigarettenschachtel, vor seinem Gesicht. „Eine Kleine. Eine Walter THP passt in jede Handtasche.“
Er nickte. „Macht jedoch die gleichen Löcher wie eine Große. Vergiss es!“
Zur Antwort stieß sie einen Seufzer aus.
Er kniete sich hin, drückte ihr einen Kuss auf ihre perlrubinroten Lippen. „Du könntest mir jedoch einen Gefallen erfüllen.“
Sie klimperte mit ihrer pechschwarzen künstlichen Wimper und hauchte: „Jeden.“
„Ich habe in den nächsten Tagen wenig Zeit. Bin beruflich eingespannt.“
Die Augen verdrehend, boxte sie ihm in die Flanke. „Sprich schon!“
Die rechte Oberlippe heraufgezogen, kratzte er seine Wange. „Du müsstest auf den Hof.“
Ihre Augenbrauen hochgezogen, richtete sie sich auf. „Wenn mich jemand sieht?“
„Mich kennen mehr. Es ist zu gefährlich. Dich kennt nur die Gertrude.“
Sie kicherte. „Katastrophal genug. Die ist verrückt und Bekloppten kann man nicht trauen.“
Joos‘ Hand berührte ihre Wespentaille. „Ich vertraue dir doch gleichermaßen.“
Erneut zog sie ihre Augenbrauen hoch und stemmte ihre zierlichen Fäuste gegen ihr ausgeprägtes Becken. „Behauptest du etwa, ich habe nicht alle Tassen im Schrank?“
Er sah zur Zimmerdecke. „Ich liebe dich, egal, welchen Gemütszustand du hast.“
Ihre Faust schnellte gegen seinen Oberschenkel, woraufhin ein breites Grinsen seine Wangen verformten. „Die Testberichte sind eingetroffen, Tanja.“
Sie sprang auf, fiel ihm um den Hals und schrie „Das erwähnst du so nebenbei.“
„Sage mir, was soll ich verüben?“
Er hüstelte. „In Voiles Zimmer befindet sich eine lederne sepiabraune Manuskriptmappe. Er hat sie mir letztens gezeigt.“
Sie stieß ihn zur Seite. „Wann warst du bei ihm?“
Er zuckte mit den Schultern. „Am Tag seines Todes.“
Ihre Stirn gerunzelt, die Augen verengt, wich sie zurück.
Seine Hände abweisend vor dem Oberkörper, lächelte Joos sie an. „Er hat gelebt, bevor ich mich verdrückt habe. Entkräftet, aber am Leben. Der Dickkopf wollte mir die Mappe nicht aushändigen. Niemanden stünde sie zu, nur Nahnes Enkelkind. Das hätte er ihm versprochen.“
Ihre Lippen spannten sich von Ohr zu Ohr. „Deswegen soll ich sie holen?“
Er tippte an seine Schläfe. „Der Alte war senil, nicht doof. Enkel und Enkelin vermochte er zu unterscheiden.“
Ihre Augen verengten sich zu schlitzen. „Dann möchtest du sie meiner Tante aushändigen, dem Luder. Was ist da überhaupt drin?“
Joos leckte seine Lippen und zählte mit den Fingern. „Ersten. Nein. Ich brauche sie für einen Fall. Zweitens. Wie der Name sagt, ein Manuskript, und drittens, wenn alles geklappt hat, werde ich die Mappe deinem Bruder aushändigen.“

Sie schlug an ihre Stirn. „Ich habe keinen Bruder mehr. Der ist tot!“
Selbstsicher nickte er. „Das weißt du?“
Die Augen zur Decke gerichtet, schüttelte sie ihren Kopf und zischelte: „Ihr Männer vermögt nicht logisch zu denken“, dabei klatschte sie in die Hände. „Du hast es mir gesagt.“
Er tippte an die Schläfe. „Ja. Ja.“
Sie riss ihre Augen auf und näherte sich seinem Gesicht bis auf eine Handbreit. „Wer hat damals das Feuer überlebt?“
Die Schultern zuckend, kratzte er sich am Hals. „Nur Simon, aber der war ja in der Stadt.“
Sie lehnte ihren Kopf zur Seite. „Erzähle mir bitte, wie ein Säugling hätte fliehen können?“
Er schürzte die Lippen. „Habe ich mir bis jetzt keine Gedanken drüber gemacht.“
„Ich aber! Ich hatte genug Zeit und Beweise habe ich überdies.“
Sie schilderte ihm ihre Annahme, dass Klaras Tochter anstatt ihres Bruders gemeinsam mit Bärbel Südafrika verlassen hätte. Woraufhin er amüsiert lächelte und ihr einen Vogel zeigte. Er hielt nichts von Verschwörungstheorien, stützte seine Ergebnisse auf Fakten und Indizien. Dennoch lauschte er gespannt. Alle steckten unter einer Decke, Klara, deren Mutter, Bärbel und ihre Großeltern. Er lachte, gab ihr zu verstehen, es sei an den Haaren herbeigezogen. Wie wäre es möglich, ein Mädchen für einen Jungen auszugeben? Immerhin müssten Kinder zu Vorsorgeuntersuchungen.
„Welchen Beruf hat Klaras Mutter?“, trötete sie, als wäre die Frage ein Sechser im Lotto.
„Kinderärztin“, gab er mehr als Nachfrage zur Antwort, bemerkte sogleich, wie er ihre These unterstützte.
In die Falle getappt zu sein, konterte er mit Untersuchungen für den Kindergarten und die Schule. Sie gab zu, dort sei die Achillesferse ihrer Hypothese. Aber wer war nicht bestechlich, argumentierte sie.
„Deine Großeltern“, schoss er nach.
Ihre Großmutter liebte Kinder und war nicht ein fremdes Enkelkind besser als ein Totes, das sie nie gesehen hatte. Der Großvater hätte es nicht mit Kinderpflege gehabt, erklärte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Diese Aussage zu widerlegen, fiel ihm schwer. Okkultismus war nicht sein Element.
Er stand auf, marschierte durch den Raum und hob die Arme. „Das ergibt keinen Sinn. Wozu das Ganze?“
„Klara ist verschollen.“
Die Augen geschlossen, schüttelte er den Kopf und wetterte: „Aber das Kind nicht.“

Alles stichhaltige Argumente, Indizien, trotzdem zu absurd für ihn. Er fragte sie aus, wie sie das Kind im Sport- oder Schwimmunterricht, Klassenfahrten oder Freizeiten tarnten. Sie antwortete ihm, er solle ein wenig Fantasie an den Tag legen. Seine Einbildungskraft beschränkt, erahnte er, was sie meinte, sie auf jeden derartigen Einwand, wie aus der Pistole geschossen, begründet konterte.
Er setzte sich zu ihr aufs Bett. „Du hast das Kind vergessen. Es muss doch wissen, ob es ein Boy oder Girl ist.“
Er hatte ihre Indizien geknackt.
Sie strich über seine Wange. „Natürlich weiß es, dass es ein Mädchen ist. Was stellen Gören nicht alles an, aus Liebe oder Abhängigkeit?“
Sie brauchte nicht weiterzuerzählen. Er wusste es. Wie oft hatte er Kinder vor sich, die für ihre Eltern stahlen, betrugen, im Extremen für sie mordeten. Er ballte eine Faust und seine Halsschlagadern schwollen, sich prostituierten!
Joos holte zum letzten, entscheidenden Schlag aus.
Er streichelte ihren Busen. „Kleine Mädchen werden zur Frau, bekommen eine Brust.“ Die Finger glitten über die Korsage, verharrte zwischen ihren Schenkeln. „Kriegen ihre Tage.“
Sie schob seine Hand beiseite, richtete sich auf und wütete: „Genau das ist ihr Problem. Sie können sie nicht weiter verstecken.“
Er hatte sie, wo er sie hinhaben wollte. In einer Sackgasse steckte sie in ihrer Geschichte fest. Triumphierend verschränkte er die Arme.
Ein Grinsen von einem Ohr zum anderen verzerrte sein Gesicht und gluckste: „Huch! Wir haben uns geirrt, unser Bursche ist ein Fräulein“.
Sie schlug an seinen Kopf, keuchte: „Du nimmst mich nicht Ernst. Hast du noch nie von Jungen gehört, die Mädchen sein wollen. Merkwürdig, der Gedanke gibt es aber“. Sie kehrte ihm den Rücken zu.
Ein ihm bekannter Sachverhalt. Dennoch in diesem Fall schwachsinnig. Nach ihrer Theorie war sie ja weiblich.
Er klopfte sich ans Genick. Die Frau machte ihn wahnsinnig. Sein Gehirn hatte aus dem Jungen ein Mädchen werden lassen. Solange es keine stichhaltigen Beweise gab, war er ein er, nicht eine sie.

„Für Derartiges braucht man Gutachten“, stellte sie fest. Diesmal grinste sie und verschränkte ihre Arme. „Welchen Beruf hat Marias Lebenspartner?“
Er nickte. „Ich sehe es dir an. Du hast deine Hausaufgaben gemacht.“
„Jemand hat für mich Informationen eingeholt. Die Antwort auf meine Frage!“
Die Achseln zuckend, verdrehte er seine Augen. „Sage es mir. Ich weiß es nicht.“
Sie spitzte ihre Lippen. „Gynäkologe!“, triumphierte sie. „Josephine?“
Er wandte sich ab. „Lass sie da heraus!“
„Los, antworte.“
Er senkte den Kopf, knabberte an den Fingernägeln und flüsterte „Psychologin“.
Sie klatschte in die Hände, erhob beide Daumen wie ein Formeleins-Rennfahrer nach seinem Sieg. „Außerdem habe ich sie in der Kirche gesehen, eindeutig ein Mädchen, und kein Junge an ihrer Seite.“
Wenn sie recht hatte, er ging davon nicht aus, dann hätte er einen Fehler gemacht. Er musste der Sache nachgehen.

Gehen? Das Wort rannte, stolperten durch sein Gehirn. Er war ein weiteres Mal in der Wohnung gewesen, erinnerte er sich. Zu kurz, um Beweise zu finden. Bärbel kam heim. Er vermochte ungesehen zu fliehen. Mit rasselndem Atem verblieb er im Hausflur, wie lange wusste er nicht mehr.
Nachdem er in seinen Wagen gestiegen war, fuhr ab und erblickte Klara. Er konnte sich nicht von ihrem Anglisten lösen, dann das Kindergesicht, schreiend. Nie war ihm Derartiges passiert, er hielt sich für einen ausgezeichneten Autofahrer. Dieses verstörte Gesicht hatte seine Erinnerung überlagert. Das Kind trug einen Rock. Somit war es zweifellos ein Mädchen. Die Sinne schwanden ihm.
Er sah Carel, wie er ihm drohte, er solle dem Kind nichts antun. Was glaubte er, wer er war, ein Ganove? Er hatte sich mit ihm einen Spaß erlaubt, ihn gefoppt.
Ein Auge zugekniffen, schaute er sie an. Sie puderte ihr aristokratisch, bleiches Gesicht, wie an diesem Abend.
Er hatte sich wie immer im Streit von Carel verabschiedet. Sie saß im Volvo. Luft musste er sich schaffen, es treiben mit ihr. Eine kurze, erleichterte Nummer schieben. Wieder vergnügt den Rückweg antreten.
Jedoch sie puderte nur ihre Wangen, während er seinen Wagen über den asphaltierten Waldweg steuerte. Nieselregen verwandelte die Fahrbahn in eine Rutschbahn. Rechtzeitig blieb er vor dem alten Saab stehen.
Carel hing über dem Lenkrad. Er war nur bewusstlos. Wie in ihrem Kinderspiel ’wie du mir, so ich dir’ rief er einen Rettungswagen, mehr nicht. Sie? Sie saß im Auto, puderte ihr Gesicht, ihr bleiches, geisterhaftes Antlitz.
Ihr Anstupsen holte ihn aus den Gedanken.
Sie zwinkerte ihm zu, dabei zog sie ihren Slip aus. „Nah komm!“
Joos stotterte: „Ich dachte, du?“
Ein Auge zugekniffen, verdeckte sie ihren Mund. „Glaube nie einer Frau!“ Sie lehnte ihren Kopf zur Seite und spreizte die Beine. „Ich hatte einfach kein Bock.“
Er kroch zwischen ihre Schenkel, roch ihr Verlangen, schmeckte ihre Lust.



Gefangen in Unschuld

Wie die Venus-Fliegen-Falle ihre fleischigen Blätter um ihre Beute legte, umschlangen ihre Beine einen Teil von ihm. Er war nicht alleinig gefangen, sondern zu allem Überfluss quetschte sie ihre Hand zwischen ihre Schenkel und presste seine Finger in eine Tabuzone. Sein Herz raste, drückte das Blut in seine Wangen. Seine zuckenden Befreiungsversuche erreichten das Gegenteil von dem, was er sich ersehnte. Die Sehnsucht, sich zu befreien, ohne ihr Erwachen herauszufordern. Dem Schreien nahe, gab es für ihn einen Ausweg, sich so lange dem Schicksal zu ergeben, bis sie im Schlaf die Falle freigab. Er musste an etwas anders denken, sich ablenken.

Toni schaute auf das Foto der Eltern, Franziska Worte erklangen in seinem Gehirn.
Er war wüten gewesen, dem Platzen nah, warf er ihr das Unrecht an den Kopf. Ein Mädchen wollte sie haben, ihr Gewissen beruhigen wie scheinheilig. Erst gibt sie ein Kind weg, dann nach Jahren flehte sie auf Ersatz.
Franziska schloss ihre Augen. Sie sprach eher zu sich, als zu ihm. Ein Märchen, eine Lüge, hatte sie erzählt. Mit der Zeit hätte selbst daran geglaubt, um ihre Gertrud zu schonen. Sie umfasste seine Hände, lächelte ihn an.
Alles fing mit einem Friedenscamp an. Sie war halbwüchsig, nicht erwachsen, eher ein Kind, da kamen sie in ihr Dorf. Setzte sie, soweit sich Toni daran erinnerte, ihren Bericht fort. Den Frieden verkünden, war ihr Wunsch. Von überall erschienen sie, schlugen Zelte auf, bauten Hütten. Es waren unterschiedliche Gruppen heranwachsender Leute. Alle mit gleichem Ziel, vereint in der Kraft, Neues zu schaffen. Der Welt ein friedlicheres Gesicht zu geben, nicht wie ihre Eltern es durch Krieg zu zerstören.
Aufgeputscht von den Freiheitskämpfen in Süd- und Mittelamerika rollten Möchtegern Che Guevaras, den Weltkommunismus auszurufend, ihre Bauwagen auf das Feld.
Hippies in bunten Gewändern tanzten ausgelassen durch den Schlamm. Tonis Großmutter, wie Franziska sie bezeichnete, und ihr Freund tummelten mit den Verrückten. Ein Schatten flog über ihr Gesicht, bevor sie den nächsten Namen nannte. Amisha! Wie eine Zigeunerin gekleidet, verhexte sie die Burschen.
Eine Gruppe katholischer Christen schlugen, das heiliges Kreuz in die Furche, angetrieben der Erneuerung, die Johannes Paul I verkörperte. Ihre Schwester und Gertrud lockte die Verkündigung aufs Feld. Ihr wäre alles andere als begeistert, Vater gewesen, trachte danach, das zu unterbinden. Gertrud, stur, ignorierte seine Anweisung.
Franziskas Ex-Mann und Vale im Bann des Alten beabsichtigten dem Treiben, ein Ende zu bereiten. Sie trieben ihre Gefolgsleute zusammen und planten, das Camp von innen zu zerschlagen. Franziska verliebt in Anton an seiner Seite.
Der Plan schien aufzugehen. Sie waren nicht die größte, dafür die lauteste Gruppe. Bereits beim Namen des Camps setzten sie sich durch. Obwohl die Mehrzahl „Peace and Freedom“ favorisierte, schafften sie es, mit Gegröl der Zeltlandschaft den Slogan „Freiheit für Deutschland“ aufzudrücken. Denn sie hatten, was die anderen nicht besaßen. Einen Führer, einen Patron an der Spitze, der entschied, auf keine Diskussion angewiesen war, sich nie einer Abstimmung unterwarf. Anton.
Bloß an eins hatten sie nicht gedacht. An die Macht des Weibes. Die stärker jeder Ideologie den Mann in seinen Bann schlug. Er getrieben von den Hormonen, hing sich an Amishas Rockzipfel, buhlte wie ein räudiger Hund um eine Berührung. Anton kam zum Erfolg, vereinigte sich mit ihr. Sie schwärmte vom Kamasutra, von der freien Liebe in Indien.
Trauer und Resignation trieben Franziska in den Abgrund. Dabei wollte sie ihm in ihrer Naivität nur zeigen, wie es ist, wenn das Herz zerreißt. Im ganzen Dorf verbreitete sie, dass sie mit Valentin ihrer Unschuld ein Ende bereitete. Mit Antons besten Freund, den sie damals verachtete, in der väterliche Scheune die Nacht zu verbringen.
Am Schober angekommen, stellten beide fest, dass sie waren nicht allein. Tonis Großmutter vergnügte sich mit ihrem Freund.

Am gestrigen Morgen hätte ihn der Satz außer Fassung gebracht. Jetzt, wo er das Foto seiner Eltern betrachtete, hatten die Worte eine andere Dimension. Er kramte alles zusammen, was er von ihnen wusste. Viel war es nicht, die Großmutter schwärmte verklärt und die Tante hüllte sich meist in Schweigen.
Die Mutter hatte ihn im Krankenhaus kennengelernt, sie im Studium, er Stationsarzt. Gleich nach ihrem Examen waren sie ausgewandert. Ein Widerspruch. Denn entweder vermochten sie in Malaysia zu sein oder in dem Friedenscamp, es wäre den, es war ein Zwischenstopp. Wo war in diesem Fall sein Vater? Franziska hatte ihn nicht erwähnt. Es gab eine plausible Antwort. Sie hatte sich geirrt. Bärbel und seine Mutter eineiige Zwillinge, eine Verwechslung vorprogrammiert.
Wie ein Blitz traf in die Erkenntnis. Die Eltern Heiligen näher, ruhten, seitdem er dachte, wie Ikonen an seinem Bett. Ohne es zu erstreben, wurden sie zu Menschen aus Fleisch und Blut, die ihren Trieben nachgingen. Klar! Auch er wurde gezeugt, aber die rein biologische Tatsache, der Akt an sich, was anderes, als der Bericht einer für ihn fremden Person.
Die beiden Menschen auf dem Bild küssten sich, in seiner Fantasie, umschlangen ihre Körper. Bei diesem Gedankenspiel erfühlte er die eigene Lage. An die wohlige Wärme am Finger hatte er sich längst gewöhnt. Die Feuchte war neu. Gab es eine Verbindung zwischen den Gedanken und seinem Zeigefinger?

Um herunterzukommen, lauschte er wieder Franziskas Worte.
Valentin, angetrieben von dem, was er sah, hörte er Franziskas Stimme, als würde sie und nicht Tami neben ihm sitzen, stürzte sich auf sie, aber sie konnte nicht, nicht mit ihm.
Franziska senkte ihr Haupt und Tränen kullerten über ihre Wangen. Er hatte ihre Hand ergriffen, schaute ihr mitfühlend in die Augen.
Über sie hergefallen war er, der Freund der Bärbel. Er hätte sich über den Vale lustig gemacht, danach ihr die Unterhose vom Leib gerissen und … echoten ihre Worte in seinem Kopf.
Der Vater auf dem Sockel fiel ins Bodenlose. Er ein widerwärtiger Vergewaltiger. Ein Mann, der sich auf die Fahne geschrieben hatte, den Menschen zu helfen, bei ihnen zu sein, Trost zu spenden, eine Bestie?
Franziska war eine Frau, damals bestimmte eine aparte Frau, strömte Begierde aus, kokettierte mit den Männern, wie Tanja. Ihr Gedächtnisse sicher durch die vergangene Zeit getrübt. Dennoch? Hatte sie nicht erwähnt, sie wäre halbwüchsig, nicht erwachsen, eher ein Kind gewesen? Wie alt war sie in jenen Tagen?

Sie hatte Zeitpfähle eingeschlagen. Die er mit Erinnerungen aus den Erzählungen der Großmutter verbinden konnte.
Johannes Paul I, sinnierte er. Er war der Erste, denn Franziska hatte ihm gesagt, danach weihte man den Polen zum Papst. Damit begrenzte sich der Zeitraum der Tat auf einen Monat.
Er erinnerte sich an die verklärte Geschichte der Großmutter. Ihre Hochzeitsreise, nicht die Richtige, sondern die, die sie zur Silberhochzeit vom Großvater geschenkt bekommen hatte. Florenz, Mailand und Rom waren ihre Ziele gewesen. Dort in Rom hatte sie ihn gesehen, den lächelnden Papst.
Den Hochzeitstag der Großeltern vergaß er nie.

Es war das erste Mal geschehen, dass er in einem Kleidchen in einer Kirche einer Frau mit einem Knicks ein Strauß Blumen überreicht hatte. Die Dame, die Großmutter, die Traukirche, der Ort von Josephines Hochzeit. Sein Opa schwankend, hatte zuvor einen alten Freund getroffen. Der Kön hatte ihm gemundete. Er bekam nichts mit. Dafür hatte Toni die Last, musste den Torkelnden nach Hause begleiten und zum Dank spie er seinen Mageninhalt auf sein wunderschönes Kleid.
Die Großmutter alles andere als dankbar über den Ausbruch ihres Mannes, hätte diesen fast erschlagen und er weinend in der Ecke, ihr flehend den besudelten Stoff gezeigte. Tanja verpasste ihm den grässlichen, karierten Rock und eine Rüschenbluse, beides aus einem Fundus vom Boden, beiderlei alles andere als hippe Mode.
Trauer schwemmte ihn in die Seele, Trübsal über den Verlust der geliebten Oma. Wie gerne, egal wie peinlich, hätte er ihr zu ihrer Diamanthochzeit einen Strauß Blumen überreicht, in einem blütenweißen Kleid mit Rüschen und Spitze.

Er schlug mit der freien Hand auf seinen Kopf. Wie dumm war er. Der Tag wäre in diesem Jahr. Die Freude der Großmutter, ihn zu erleben, mit ihrem Kapitän eine Weltreise zu starten.
Bärbel erfüllte ihren Wunsch, warum sonst standen im Wohnzimmerschrank die Flakons mit einem Teil beider Aschen neben dem Hochzeitsfoto.
Das war ein Thema für die Zukunft! Er benötigte Fransiskas Alter.
In Gedanken versunken, Zahlen und Zeiten jonglieren, nahm er nicht wahr, wie Tami dem Land der Träume den Rücken zukehrte, ihr Becken schwang, ihr Atem keuchte und ein Teil von ihm weiter versank.
Er hatte keinen Anhaltspunkt. Er schätze sie auf Anfang sechzig, in Bärbels Alter. Für ihn waren alle Menschen, die älter als Tanja, uralt.
Er wusste nicht mehr, wann es war. Das Wochenende für ihn zog sich daher für ihn eher wie eine Ewigkeit hin.
Er hatte die Küche betreten, da saß Franziska am eichenden Tisch und stickte. Ein braves Mädchen, wie er war, schritt er auf sie zu, bewunderte ihr Werk. Sie hatte ihn gefragt, ob er stickte. Er verneinte, Stricken gab er an, was eine Lüge war. Denn an einem Abend konnte auch er die Kunst nicht erlernen. Es würde langsam Zeit, trieb sie ihn an. Nicht, dass er, wie seine Schwester ohne vernünftige Aussteuer, den Zukünftigen ehelichte.
Das wäre ja ein wenig früh, feixte er. Worauf sie mit ernster Miene entgegnete, dass dies schneller geschehen könnte, als es ihm lieb sei. Sie machte ihm Angst. Der Satz klang wie eine Drohung. Um die Atmosphäre zu lockern, frage er sie, ob Alina es könne. Sie stand auf, schritt zum Küchenschrank, holte mit den Worten, Alina hätte ihr dieses im letzten Jahr zum Geburtstag geschenkt, ein Geschirrtuch hervor. Auf dem Tuch war eine Fünfzig gestickt.
Der Rest differenzieren, mit einem für ihn erschreckenden Ergebnis.
Toni murmelte er: „Sechzehn.“
Bleich wie er war, entging ihm, Tamis erwachte. Sie gähnte und streckte ihre Arme. Er kannte nicht viele Mädchen in diesem Lebensjahr. Sonja. Oft machte sie sich zurecht, ging als achtzehn durch. Trotzdem war sie in dem Alter. Ein Brechreiz schoss in seinen Hals. Er stellte sich vor, wie der Mann auf dem Foto, zu dem er bis vor Minuten heraufgeschaut hatte, sich auf Sonja stürzte. Von Freiwilligkeit konnte keine Rede sein.

Tami gähnte. „Bin ich eingeschlafen?“
Erst in diesem Moment erkannte er seine Lage. Sein Finger berührte nicht mehr ihre Haut. Dafür schoss ihm das Blut in den Kopf. Ruckartig zog er den Zeigefinger aus der Umklammerung und versteckte mädchenhaft, verschämt, grinsend ihn hinter seinen Rücken.
Sie hob ihr Becken und richtete schmunzelnd ihren Tanga. „Wie spät ist es?“
Er streckte den Hals, schaute auf seine Schreibtischuhr. „Kurz vor eins.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, sprang sie vom Bett, hüpfte wie ein aufgeschrecktes Huhn durchs Zimmer. Erst nachdem sie wieder aufs Bett gefallen war, schien ihre Stimme erwacht. „Das schaffe ich nie mit dem Bus.“
Toni zupfte an seinen Ohrläppchen, dachte an ihr schnittiges Rennrad, schmale Reifen, einundzwanzig Gang. „Bis du nicht mit dem Fahrrad da?“
Sie deutete mit beiden Zeigefingern auf ihr Kleid. „Fährst mit kurzem Rock Rad?“
„Nein“, bestätigte er.
Es war nicht einmal gelogen. Er hatte niemals, weder mit einem kurzen, noch mit einem langen Rock auf einem Fahrrad gesessen.
Seine Antwort unterschlagend, hob sie ihren Rocksaum bis zur Brust und betrachtete ihren Schritt und schnarrte: „Da schauen die geilen Böcke dir nur zwischen die Beine“, dabei schüttelte sie sich und ließ den Saum fallen.

Er murmelte: „Oder etwas Schrecklicheres“, sogleich ergriff er den Fotorahmen und legte in, mit dem Glas nach unten auf den Schreibtisch.



Neuer Freund

Tami sprang auf, legte ihre rechte Hand auf Tonis Schulter und sah ihm tief in die Augen. „Leist mir dein Fahrrad?“, fragte sie ihm wie der Pate, der einem Ganoven einen Mordauftrag befahl.
„Das Rad meiner“ – „Großtante ist kaputt und ich habe nur ein altes Herrenrad“, antwortete er wie der Halunke, der seinen ersten Auftrag bekam.
Sie schwang um neunzig Grad auf ihren Fersen herum, legte ihre kurzen Finger auf die Türknöpfe seines Kleiderschrankes. Zum Eingreifen zu spät, zum Beten keine Zeit verharrte er wie eine Kleiderpuppe. Die rechte Tür flog auf und ihr Kopf schwang.
„Borgst mir’ne Hose? Willst du verreisen?“ Sie kicherte und schmetterte ihm eine blaue Reisetasche mit einem grünen Anker vor die Füße, die er, ohne ein Wort zu verlieren, unter seine Koje kickte. Sie schmiss seine Hosen aufs Bett. „Hast keine Legging oder zumindest’ne coole Dreiviertel?“
Erleichtert hüpfte er auf seine Matratze. „Nö!“
Sie stieg in eine der Jeans, griff an ihr Genick, zog das Kleid hoch, öffnete den Reißverschluss, bis sie nicht mehr weiterkam, schnappte den Stoff an ihrem schmächtigen Gesäß, zerrte ihn abwärts und vollendete ihr Werk.
Wie graziös, schwärmte Toni. Hatte mit Sicherheit ihre Mutter ihr beigebracht? Dagegen musste er es sich selbst beibringen. Er verfluchte Tanja, die ihn unvorbereitet in sein Schicksal geworfen hatte.
Sie streifte sich die Spaghettiträger von ihren stabilen Schultern und ihr luftiges Kleid flatterte wie ein gelöstes Fock zu Boden.
Die Finger an ihrem Rücken, drehte sie sich zu ihm um und klagte: „Hast nur helle T-Shirts“, während sie ihren schwarzen, mit Spitze besetzten Büstenhalter öffnete und diesen von ihrem Körper schüttelte.
Der Anblick errötete ihn. Ihr Busen kaum imposanter als Alinas, dennoch in einer Form, wie er es von Tanja kannte. Obwohl er unabhängig davon einen Körperteil von ihr bereits bestaunt hatte, kehrte er ihr seinen Rücken zu.
„Leist mir das Mal aus?“
„Erst nehmen, dann fragen“, zischte er mit einem ironischen Unterton und wandte sich um.
Sein Herz blieb stehen. Sie schaute ihn grinsend an, hielt das marineblaue Partykleid mit der Rechten, das eisblaue Etuikleid mit der Linken vor ihren Körper. Es war vorbei. Sie hatte es herausgefunden. Die Blase der Lügen, die er aufgepumpt hatte, zerplatzte.
Die Augen aufgerissen, starrte er sie an und stotterte: „Das sind Alinas“.
Sie schien ihn nicht zu hören, seine Erklärung prallte an ihr ab.
Dafür legte sie die Kleider auf sein Bett, ergriff die Pumps mit den Glitzersteinen und schwärmte. „Wow. De sind geil“, dabei versuchte sie in diese hineinzuschlüpfen. Sie zuckte mit den Achseln und säuselte: „Zu kleen. Deine Freundin lebt auf schmalen Fuß.“
Ein Stein fiel ihm von den Schultern, zerschmetterte auf seinen Zehen. Trotzdem runzelte er die Stirn, kniff die Augen zusammen und zupfte an seinen Ohrläppchen. War der Samstag mehr Traum als Realität gewesen? Er hatte ihre Schuhe an den Füßen getragen. Waren es nicht ihre gewesen? Er hatte nach dem Wochenende die Wohnung abgesucht, fand weder die rostbraune Kombination noch die Pumps. Erst am Tag der Hochzeit hatte er das Schuhwerk wiedergesehen. Sie fühlten sich anders an. War ihr Absatz nicht breiter und höher? Oder lag es daran, weil er am Vortag den ganzen Tag hochhackige Galoschen getragen, sein Körper sich angepasst hatte. Gerne wäre er zum Schuhschrank gerannt, hätte ihr sie in die Hände gedrückt. Eine Idee, die jedoch in diesen Moment eher kontraproduktiv wäre.
Wieder blinkte eine Verwunderung in ihm auf. Die Pumps von der Hochzeit hatte der Admiral am gestrigen Abend zu den Schuhen in den Garderobenschrank gestellt. Nicht zu dem weißen Kleid oder zu den anderen Mädchensachen in seinen Kleiderschrank.

„Haste Mal ein Haargummi“, schreckte ihn Tamis Stimme auf. Sie hielt ihre Mähne umschlungen und wedelte auffordernd mit ihren Haaren.
Toni sprang vom Bett, stürzte auf seinen Schreibtisch zu, fischte aus seiner Schatulle mit den Haarspangen und Bändern ein Zopfgummi samt Büste.
Wieder an ihrer Seite umfasste er ihre Mähne. „Bist du blond oder schwarzhaarig?“
Sie strich durch ihr Haar und verdeckte ihre Lippen, unterdes sie kicherte. „Zwei Tage Hausarrest!“
Er drehte ihr einen Dutt, zupfte keck ein paar Strähnen heraus.
Sie betastete das Kunstwerk und jammerte: „Du brauchst partout einen Spiegel“, gleichzeitig eilte sie in die Diele. Dort angekommen, hockte sie sich hin. Ohne zu fragen, schlüpfte sie in seine verschließenden Treter und stopfte die Schnürsenkel in die Schuhe.
Er schnappte seine Basecap, drückte diese ihr auf den Kopf und verbarg seinen Mund. „Du siehst aus, wie ein Junge, der mit dem Gesicht in einen Farbeimer gefallen ist“. Er kicherte.

Sie sprang auf, stellte sich vor den Garderobenspiegel und zog ihre Wangen hinunter. „Wo ist das Bad?“
Toni deutete auf die Badezimmertür. „Dort!“
Tami schnellte zur Tür. Er folgte ihr, schaltete für sie, bevor sie eintrat, das Licht an.
Sie öffnete den Wasserhahn, spritze Seife auf ihre Handflächen. „Weißt du, was meine Mutter mehr hast, als schicke Kleider?“ Sie zerrieb den Schaum auf ihrem Gesicht. „Wenn ich mich schminke.“
Er lehnte sich mit der Schulter an die Türzarge. „Wie der Admiral!“
Sie nahm die Hände von ihren hervorstehenden Wangenknochen und starrte ihn an. „Wie bitte“.
Die Lippen zu einem Grinsen verformt, winkte er ab. „So nenne ich meine … Großtante“
Tami spülte die Seife ab. „Kann ich mir den Spitznamen ausleihen?“
„Gerne“, gluckste er, die Arme vor der Brust verschränkt.
Ihre Finger tasteten über die Ablage unter dem Waschtischspiegel. „Wo hast du deinen Nagellackentferner?“
„Was?“
Sie verdrehte ihre Augen und wedelte mit gespreizten Fingern vor ihrem Gesicht herum. „Das Zeug, mit dem man Nagellack von den Nägeln wisch.“
Er hob die Schultern. „Was soll ich den damit?“
Sie stampfte auf ihn zu, ergriff seine Hand und klopfte mit ihren weinroten Fingernägeln auf den hellrosa Lack.

Toni hätte sich in den Boden versenken können. Die bemalten Nägel hatte er total vergessen, hatte sich irgendwie daran gewöhnt. Er hörte nochmals die Stimme der Tante, als sie am Morgen die Wohnung verließ, sie wolle nach der Arbeit Nagellackentfernen besorgen.
Anker werfen oder volle Fahrt voraus. In diesem Moment ihrer Hektik versuchen, ihr alles zu erklären, schied aus. Sie würde ihn missverstehen. Segel setzen.
Toni schritt zum Hochschrank, den Tanja für sich beschlagnahmt hatte, in der Hoffnung, die eine oder andere Reserve zu entdecken. Denn das Bad hatte Bärbel in ihrem Aufräumwahn nicht mit eingeschlossen. Er öffnete die oberste Schranktür, zog ein Paket Damenbinden heraus und gab sie Tami in die Hand.
„Meine Tage habe ich nicht“, zischelte sie.
„Halten!“, entgegnete er kurz.
Hinter den guten Badetüchern entdeckte er ein regelrechtes Arsenal. Lotionen, Nagellack, Lippenstift und die gesuchte Essenz. Ihm ein knappes Danke entgegenschleudernd, schnappte sie sich das Fläschchen.

Ihr Entengang die Treppe hinab amüsierten ihn zuerst, dann fiel es ihm wie Schuppen von den Haaren. Sie hatte es gewusst, war die ganze Zeit im Bilde gewesen. Klar! Der Nagellack hatte ihn verraten, trotzdem hatte sie ihn gewähren lassen. Ihn nicht ausgelacht oder sich belustigt.
Die Turnschuhe passten ihr nicht. Hatte er nicht ihre Pumps getragen? Ein Verdacht zuckte durch sein Gehirn. Hatte Tanja im Gewusel der Anprobe, wissentlich die Schuhe vertauscht oder war Tami es gewesen?
Tami hielt mit einer Hand sein Fahrrad, mit der anderen verdeckte sie ihren Mund. „Jetzt hast du mir keine Nachhilfe gegeben.“
Er winkte ab. „Dann treffen wir uns später. Wie wär es mit Donnerstag nach der Schule?“
Sie strich mit ihrem Zeigefinger über einen Wangenknochen und murmelte: „Nee. Gleich danach ist schlecht“, wobei ihre Hand auf seiner Schultern ruhte. „Besser um halb drei.“
Toni öffnete die Haustür. „Abgemacht!“
Tami schob das Fahrrad auf den Gehweg, schwang sich wie ein Junge auf den Sattel und streifte beim Beschleunigen Bärbel.

Die Tante sah ihr nach und schritt auf ihm zu. „Weshalb fährt der Bursche mit deinem Fahrrad?“, raunte sie und betrachte ihn von Fuß bis zum Schopf. „Warum bist du im Schlafanzug?“
Das Auftauchen von Bärbel spülte ihn wieder in die Wirklichkeit. Plötzlich hatte er drei Probleme. Das Buch, das in ihrem Bad lag, Tamis Kleider vor seinem Kleiderschrank und ihre Sandalette in der Diele.
„Ich gehe mich duschen“, trällerte er eher aus Verlegenheit und hechte die Treppenstufen herauf, warf, um Zeit zu gewinnen, die Wohnungstür hinter sich zu.
Mit zitternden Fingern ergriff er ihre Schuhe, rannte in sein Zimmer, schnappte sich ihre Sachen und beförderte alles in seinen Kleiderschrank. In dem Vertrauen, dass Bärbel nicht als Erstes den Schrank inspizierte.
Ein Anmeckern wegen des Buches in kauf nehmend verschwand er im Bad.

„Die Küche hast du auch nicht aufgeräumt“, erboste sich Bärbel.
Toni, mit Badetuch um den Oberkörper und einem Handtuch, das er wie ein Turban um seinen Kopf geschlungen hatte, erkannte die Gunst der Stunde. „Ich leihe mir deinen Föhn aus“, rief er durch die Diele und wetzte in Bärbels Bad.
Das Buch lag dort, wo er es hingeworfen hatte. Er nahm es auf, rannte in sein Zimmer, kniete sich vor dem Bett nieder und fischte den Haartrockner aus der Reisetasche.
Bärbel trat, die Stirn gerunzelt, in sein Reich. „Wo hast du denn den gefunden?“, schrie sie Gene den Lärm an.
Er stellte den Föhn ab, griff durch sein curryfarbenes nasses Haar. „Wie bitte?“
Sie deutete auf das Gerät. „Den habe ich gestern Abend gesucht.“
Toni verdrehte seine Augen. „Lag in deinem Bad“, log er, ohne zu erröten.
Ihre hageren Schultern zuckend, stellte sie ein Flakon auf seinen Schreibtisch und stöhnte: „Ich werde alt“, dabei wies sie auf die Flasche. „Hier der Nagellackentferner, sei sparsam!“
Kopfschüttelnd schritt sie zur Zimmertür. „Zieh dir was über. Ich habe uns Salat zum Mittag mitgebracht.“
Er atmete aus, sank zusammen. Die Lippen zu einem Grinsen verformt, richtete er sich wieder auf, stellte den Föhn an und frisierte sich.
Davon gekommen, dachte er. Die Sache mit den rostbraunen Pumps ging ihm jedoch nicht aus dem Sinn. War es ein Spiel gewesen oder weilte mehr dahinter? War alles von ihnen geplant? Warum? Wollten sie ihn davon überzeugen, er wäre nicht Torben Raubein?
Ein Unterfangen, welches ihnen missglücken musste. Denn er hatte, obwohl Torben weiterhin ein entschiedener Teil von ihm war, diesem bereits an Nagel gehängt. Eine neue Leitfigur, die sein Leben lenkte, benötigte er.
Er zupfte an seinem Ohrläppchen. Welche? Er ging auf die Knie, kroch unter sein Bett und schnappte sich Alinas Buch. Wieder hervorgekrochen, warf er dieses auf das Bett, tippelte zum Kleiderschrank, öffnete die rechte Tür und zog sich an. Zurück am Bett, setzte er sich im Schneidersitz auf dieses, nahm das Buch zu Hand und zupfte am Saum seines Rocks.



Mitochondrien

Er schnallte sich an, startete den Motor seines und schrie Volvos: „Warum?“
Weshalb hatte er es ihr nicht gesagt? Joos griff in seine Jacketttasche, holte den Zettel heraus. In einer für ihn unleserlichen Handschrift stand alles klar und deutlich. Sein Zeigefinger glitt über die Zeilen. „Probe A graues Haar gefärbt keine Verwandtschaft“, las er. Dahinter hatte er den Kommentar Bärbel gekritzelt. „Probe zu B naturblond, Verwandtschaft mütterlicher Seiten zu C“, flüsterte er. Seine Notiz Klara. „Probe C Verwandtschaft mütterlicherseits zu B“, mit einem stattlichen Ausrufezeichen der Name Tanja dahinter geschrieben.
Er schlug auf das Lenkrad. Er war ein Idiot, selbstverliebt. Warum hatte er den Pathologen nicht angewiesen, nach dem Geschlecht zu untersuchen? Zwei Frauen und ein Junge in einer Wohnung. Beide Damen mit langem Schopf, die, das war ihm klar, ihre Mähnen mit Haargummis und Spangen bändigten, an den oft Haare mit Wurzeln sich verfingen. Wie alle Frauenzimmer diese Utensilien in ihre Handtaschen stopften. Gut. Darauf allein hatte er sich nicht verlassen. Er hatte Proben aus den Bädern eingesammelt. Sein eigener Hochmut kotzte ihn an.

Ihre Theorie schmeckte ihm nicht. Sie hatte einen Haken. Wenn ihr Bruder beim Feuer ums Leben gekommen war, niemand fliehen konnte, wie gelang es Klara, sich in Sicherheit zu bringen. Dass sie lebte, war für ihn eine Tatsache.
Er setzte seine Gedanken auf null, nahm an, dass Doc Klaras Vater war. Für ihn eine schreckliche Überlegung, jedoch nach dem ersten Anschein nicht von der Hand zu weisen. Maria hatte vor seiner Wenigkeit ein Verhältnis mit ihm. Er trieb es mit jeder, die nicht flott die Beine zusammenpresste. Prahlte mit seinen Eroberungen. Jubilierte über jeden Spross, den er gezeugt hatte. Sogar Beth hatte er geschwängert, obwohl sie nicht in sein Beuteschema passte. Sie beschwingt darüber gewesen, in ihrem Alter überhaupt ein Kind zu gebären. Gut! Sophia war nicht bescheidener, hob gern ihren Rock, wenngleich sie früher eher zurückhalten und gehemmt war. Nicht wie ihre Zwillingsschwester, die in ihrer Jugend keinen Kerl ausließ.
Er strich die Hypothese Bärbel, als Genreverenz zu nehmen. Sie nicht als Mutter des Kindes einzusetzen. Er tippte an seine Schläfe.

Kopfschüttelnd nahm er seine Sonnenbrille ab, kaute auf dem Bügel. Das Kind war Klaras Sohn, Verwandtschaft klar. Ein wie ein Mädchen gekleideter Junge. Kein abstruser Gedanke, das gab es. Er hatte ihn in Mädchenkleid bei Josephines Hochzeit gesehen. Er ihn in weiblichen Outfit bei der Trauung in Bayern erspähte. Sie hatte ihren Bruder nie erblickt, wie sie es ihm berichtet hatte. Ihr Vater wollte immer einen Sohn, das wusste er.
Er lachte. Das Einfachste übersah er andauernd. Ob sie einen Bruder oder Schwester hatte, war total irrelevant. Der Säugling war in den Flammen umgekommen. Er war eine sie, wie sie vermutete, ihre Papiere in Ordnung, keine Intrige, obwohl das eigene Kind als Schwester auszugeben, kaum weniger verwerflich. Gern hätte er um Amtshilfe gebeten, zugegebenermaßen mit welcher Begründung. Er musste erneut in die Wohnung, neue Proben sammeln und die Ersten vernichtet. Diesmal diese zur Sicherheit, auf das Geschlecht untersuchen zu lassen.
Er legte den Gang ein. Später, wenn er Zeit dafür hatte. Jetzt oblag ihm die Pflicht, den Fokus auf seinen Fall zu lenken. Der Flieger landete am kommenden Morgen und er hatte genug Arbeit vor sich.
Er nahm sich vor, ins Büro zu fahren. Entschied bei der ersten Kreuzung sich um. Auf der Terrasse mit einem exzellenten Roten dachte sich besser.



Der Hölle nahe

„Wie gefällt es dir?“, fragte sie und streichelte ihren Oberschenkel, an den unentwegt Blasen perlten, wie in einer soeben geöffneten Sprudelflasche.
Aisha lehnte ihre Schulter an sie, strich über die Finger auf ihrem Bein und raunte: „Das fragst du, es ist himmlisch“, während sie die Nase rümpfte. „Es stinkt nur ein abscheulich, ekelerregend.“
Tanja schöpfte mit der Hand Wasser, bildete eine Faust und beobachtete, wie das Nass auf ihren Busen tropfte. „Das sind die Schwefeldämpfe. Sollen förderlich für die Haut sein.“ Ihre Finger berührten Aishes Bauch. „Wie geht es deinen Magen?“
Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Besser! Musstest du bei diesem stürmischen Wetter so zügig fahren? Da wird jedem übel.“
Tanja legte ihre Hand an ihren Augenwulst, spähte aufs Meer hinaus. „Die See ist spiegelglatt. Ein Motorboot fährt, ich segele. Im Übrigen hatte ich keine andere Wahl, da du zu spät kamst!“
Aishe verdrehte ihre Augen. „Ich habe meinen Flieger verpasst“. Sie hob die Arme. „Versuch du, kurzfristig einen Flug nach Catania zu ergattern. Ich habe die Zwischenlandungen nicht mehr gezählt.“
Zwinkernd legte Tanja ihren Arm um ihre Freundin. „Ein gutes hat es gehabt. Ich konnte für heute Abend ausreichend Proviant bunkern.“
Aishe steckte die Zunge heraus. „Wie bitte?“
Tanja schaute ihr in die Augen und berührte ihre Wange und zirpte: „Für unser Picknick Essen besorgen“, dabei hauchte sie ihr einen Kuss auf ihren himbeerroten Mund.

Die Lippen gepresst, ergriff sie ihre Hand und senkte den Blick.
„Du hast doch was?“, fragte Tanja.
Aishe faltete ihre Finger, drückte sie ans Kinn. „Du merkst alles.“
Tanja lächelte, umarmte sie und hauchte: „Du bist ich, ich bin du“.
Ihre Fäuste sausten ins Wasser. „Meine Schwester wurde verhaftet.“
„Deine Schwester! Weswegen?“
Tränen rannen aus Aishes Augen. „Sie ist eine Gute!“
Es war die einzige Chance, aus ihrem Gefängnis auszubrechen, begann sie schluchzend. Ihr Ehemann war ein Tyrann wie eine Sklavin hätte er sie gehalten. Bis der Bürgerkrieg ihn nach Syrien zog. Lange war er nicht am Kämpfen, die Hosen voll, hätte er sich in ein Flüchtlingslager verkrochen. Das war ihre Chance. Sie kümmerte sich um die Geflohenen, pflegte die Verletzten.
Tanja runzelte ihre Stirn. „Dafür wird man verhaftet? Wo wurde sie festgenommen?“
„In Antwerpen!“
„Was macht sie in Belgien? Hast du nicht soeben gesagt, sie war in Syrien?“
Aishe strich über ihre Schulter. „Lass mich erst einmal weitererzählen.“

Sie war für eine Wohltätigkeitsorganisation tätig. Kümmerte sich hauptsächlich um junge Mädchen, die in der Wirren der Flucht ihre Eltern verloren hätten. Da sie Österreicherin war, begleitete sie traumatisierte Mädchen nach Belgien. Den sitzt der Stiftung. Sie war nicht allein, mehrere Männer mit ihren jugendlichen Frauen wären ebenfalls am Board gewesen. Die Kerle kannte sie vom Sehen, lungerten mit Aishes Gatten und ihrem Cousin herum.
Kaum gelandet, wurde sie zusammen mit den Kerlen verhaftet. Nachdem sie Aishe angerufen hätte, wäre sie unverzüglich zu ihrer Schwester gefahren. Sie erlaubten ihr kurz, mit ihr zu sprechen. Ein Beamter bat Aishe, bei einem der Mädchen zu übersetzen. Da diese nur kurdisch sprach.
Tanja drückte den rechten Zeigefinger an ihre Wange. „Kurdisch! Ich denke, du bist Türkin?“
Aishe presste ihre Fäuste auf ihr Becken, senkte den Kopf und schielte sie an. „Ich bin Österreicherin. Meine Vorfahren sind Kurden, aber den Unterschied lernt ihr Deutschen nie.“
Nachdem sie mit dem Mädchen gesprochen hätte, fuhr Aishe fort, führte man sie zu einem anderen Beamten.
Den Kopf schwenkend, drückte Aishe ihre Augenbrauen zusammen. „Ein komischer Typ war das. Ein Zwischending zwischen Elwood Blues und Agent Kay aus Man in Black!“
Sie erzählte ihm, die Eltern des Mädchens wurden von einem Mann angesprochen, der ihre Tochter in Obhut bringen wollte. Sie müsste nur heiraten, den ihr zukünftiger hätte ein Visum in die Freiheit. Einen Obolus verlangte er für seine Auslagen. Sie wurde verheiratet, ihrem Ehemann übergeben. Zuerst war er nett, dann schlug er sie, als sie ihn nicht gewähren wollte. Auf dem Weg zum Flughafen peitschte er ihr ein, jedem zu erzählen, sie wäre schon sechzehn.

Aishe tupfte sich mit dem Zeigefinger Tränen vom Auge. „Sie war dreizehn!“
Tanja sah sie fragend an.
Aishe schüttelte den Kopf. „Das ist normal. In den Bergdörfern werden Kinder erst spät gemeldet. Mädchen werden älter gemacht, damit sie früher heiraten können und Jungen jünger, damit sie später zum Militärdienst eingezogen werden.“
Tanja strich über ihr Knie. „Deine Schwester hat damit was zu tun.“
Aishe schrie: „Nein. Sie arbeitet für den PFC eine angesehene mildtätige Stiftung.“ Sie atmete durch. „Es wurde komischer, der Beamte in seinem schwarzen Anzug, hörte nicht zu, fragte mich nach Friedl aus.“
Tanjas Unterlippe schob sich über die Oberlippe. „Friedl?“
Aishe hob ihre Arme. „Er ist im Stiftungsbeirat!“. Sie senkte ihr Haupt, zuckte mit den Schultern. „Er ist ein Schwein, Geldgierige, aber hat nichts mit Mädchenprostitution zu tun.“
„Warum glaubst du, dass die Kinder..?“
„Der Polizist hat mir das erzählt.“

Tanja stimmte ihr zu. Friedolin war Habgier. Machtversessen, aber zu tolerieren das Mädchen ..? Nein! Mit Kindern ging er liebevoll um, machte jeden Spaß mit, war eher selbst wie ein Kind. Von seinem Sexualleben hatte sie keine Kenntnis. Dabei malte sie sich oft aus, wie es wäre mit einem Mann freiwillig zu verkehren, obwohl sie sich vor ihnen ekelte. Er wollte ihr nie wehtun, säuselte er immerzu wie ein Kind. In ihren Träumen verlangte sie gewisse Härte. Er über sie herfiel, sich an ihrem Mund verging, sich auf sie warf, zustieß, bis ihr Atem stockte. Sie zum Höhepunkt peitschte. Aishe würde das nie verstehen. Mit ihr war es anders, zärtlicher, vertraulicher. Liebe eben. Keine blanke Lust.
Die Gedanken trieben mit ihr ab. Sie musste zum Thema zurück. „Hast du Stephen hinzugezogen?“

Aishe zog ihren linken Mundwinkel herauf. „Stephen?“
„Er ist Anwalt?“
Die Lippen geschürzt, stütze Aishe ihr Kinn ab. „Hast du Janets Freund auf Josephines Hochzeit gesehen?“
Die Schultern hochgezogen, zeigte sie ihre Handflächen. „Welchen?“
Aishe spitzte den Mund, wedelte mit ihrem gespreizten Finger vor dem Gesicht. „Denn sie am Anfang des Studiums hatte?“
Tanja stupste gegen ihre Taille. „Da kannten wir uns noch nicht?“
Aishe runzelte die Stirn.
„Janet und ich. Mein ich?“, zischte Tanja. „Ich erinnere mich wie heute daran. Als wir drei auf Josephines Hochzeit erschien“, sie kicherte. „Waren nicht einmal eingeladen. Ich hätte nie davon erfahren, wenn Nahne nicht am selben Tag seinen Hochzeitstag gehabt hätte.“
Aishe wedelte erneut. „Der Freund?“
Tanja verschränkte die Arme und kniff ein Auge zu. „Du kennst Janet länger. Wie ich sie einschätze, hätte sie ihn als Trophäe präsentiert.“ Sie hob den rechten Zeigefinger. „Bevor ich es wieder vergesse, beste Grüße von Janets Mutter.“
Aishe zuckte. „Wo hast du denn die getroffen?“
„Wir haben letztens telefoniert!“ Sie betupfte ihr eigenes Bein. „Wir telefonieren des Öfteren.“ Sie leckte über ihre Lippen. „Ich weiß, du magst ihre Eltern nicht.“
Aishe Mund verformte sich zu einem Strich. „Mögen? Türkenschlampe haben sie mich genannt.“
Tanja umarmte sie. „Da kannten sie uns nicht. Immerhin fanden wir in ihrem Hotel immer ein freies Zimmer.“
„Ja. Du hast ja recht. Wenn ich an unsere Ausflüge denke!“
„Du auf Amigo.“ Aishe strahlte.
„Du auf Keiko“, fiel Tanja in das Schmachten ihrer Freundin ein.
Tanjas Mundwinkel hingen. „Die arme Keiko“
„Sie war krank, zumindest hat es Amigo bei Janet gut.“
Tanja sah in den Himmel. „Wie wir frei dahinglitten?“
Aishe bedeckten ihren Mund und grummelte: „Unbekleidet“.
„Dass du das mir wieder aufs Butterbrot schmieren musst. Der Weg war deine Wahl!“
Aishe tippte an ihre Schläfe. „Konnte ich wissen, dass dieser nudistische Kegelclub die gleiche Idee hatte.“
Tanja kicherte. „Wir waren alle nackt.“
„Aber die saßen nicht mit gespreizten Beinen auf einem Pferd. Du musstest dich mit dem einen Kerl zu allem Überfluss unterhalten. Warum überhaupt?“
Tanja verdrehte ihre Augen, zuckte mit dem Kinn. „Er war ein Kunde.“
„Dem musstest du dich zeigen?“
Tanja blies eine Strähne von ihrer Stirn. „Und? Hat mich vorher bereits einmal nackt gesehen.“
„Was für ein Kunde war das?“, fragte Aishe nach und schielte sie an.
„Nicht was du denkst“, Tanja lachte. „Wir sind beim Segeltörn hüllenlos ins Meer.“
Aishe kehrte ihr den Rücken zu. „Trotzdem war es mir peinlich. Ich vergesse nie, wie die Kerle mir zwischen die Beine glotzen und ich ihre Erregung sah.“
„Ich empfand es als witzig. Sechs Macker“ Sie spreizte die Schenkel, schaute dazwischen. „Fünf Latten!“
Die Freundin rieb über ihren Nacken. „Fünf?“
Tanja senkte den Kopf und grinste. „Mein Gesprächspartner war nicht darunter.“

„Warum hast du mich eingeladen, du weiß, wie ich die Seefahrt hasse.“
Tanja sprang auf, richtete ihre Bikinihose. „Ich wollte mit dir allein sein.“
Aishe hob ihren Kopf, schaute in ihre Richtung. „Dich bedrückt etwas?“
„Ich bin schwanger.“
Die Freude, die sie im Herzen teilte, hatte die Sehnsucht in ihr geweckt.
Aishe sprang auf, umarmte sie. „Wer ist der Vater? Stephen ist es unbestreitbar nicht.“
Tanja malte mit den Zehen Figuren auf der Wasseroberfläche. „Wer wohl?“
Die Augen geweitet, bedeckte die Freundin ihren Mund. „Hubzi. Habt ihr nicht verhütet?“
„Du nimmst das gelassen hin. Er ist dein Gatte.“
„Aber nicht mein Liebhaber“, gluckste Aishe, küsste sie. „Der bist du.“
„Danke für das Kompliment. Ohne Kondom geht bei mir nichts. Es ist gerissen. Ich habe zweimal in meinem Leben ungeschützten Verkehr, beide Male Volltreffer.“
Aishe streifte mit dem Daumen über ihre Lippen. „In welchen Monat und wie hast du dich entschieden?“
Die Lider gesenkt, umspielte Tanjas Zunge den Daumen an ihrem Mund. „Mitte Zweiten und ich werde es austragen“. Sie tippte an ihre Schläfe. „Dein toller Gemahl hat mir den Vorschlag gemacht, ich könnte es euch zur Adoption freigeben, wenn ich nicht angäbe, dass er der Erzeuger ist.“ Sie strich über ihren Bauch. „Es ist mein Kind und bleibt mein Kind. Ein Baby zu verlieren, reicht mir.“ Sie verschränkte die Arme. „Warum glaubst du, habe ich ja gesagt?“
Aishe klopfte mit der flachen rechten Hand an ihre Schläfe. „Verstehe wegen des Erbes und dem Kind.“
„Du denkst nur an Geld. Nein! Damit es ein behütetes Elternhaus hat. Du willst mich ja nicht heiraten.“ Sie senkte ihren Kopf. „Ja. Mit dem Hof hat es ein wenig zu tun. Wenn alles gut geht, bekomme ich bald die Gunst, den Gasthof zu erwerben. Franziska und ich wollen dann gemeinsam …“
Aishe verzog ihre himbeerroten Lippen zu einem breiten Grinsen. „Du als Hoteldame?“
Tanja legte ihre Hand auf Aishes Schulter. „Wollen wir?“
„Wohin? Hier ist doch schön?“
Tanja nahm sie in die Arme. „Es gibt eine romantische Bucht, die man nur mit dem Boot erreichen kann. Mit prickelnden Gasquellen, die deinen nackten Körper liebkosen.“
„Nicht schon wieder!“
Sie blinzelte Aishe zu. „Ein fremdes Boot zieht man von weiten. Außerdem kann man von der Stelle, den nächtlich spuckenden Vulkan am besten genießen. Ein kleines Dinner, ein guter Rotwein.“
Aishe kniff ihre Augen zusammen. „Hallo, du bist schwanger!“
Tanja nickte und murmelte: „Für dich einen Rotwein für mich Traubensaft“.
„Hey. Bei deiner Hochzeit hast du Sekt getrunken.“
Tanja drückte ihren Mund an ihr Ohr. „Alkoholfrei!“

Aishe legte ihren Arm um Tanjas Taille. „Apropos Hochzeit. Warum war Janet eigentlich nicht auf deiner Feier.“
„Sie verweilt mit ihrer neuen Errungenschaft auf den Malediven“, brummte sie und steckte ihre Zunge heraus.
„War sie nicht erst ein halbes Jahr an der Cote à Sure? Wie macht sie das nur?“, zischte sie und schüttelte den Kopf.
„Den richtigen Partner finden!“
Sie hatte ihren Partner gefunden. In der kommenden Nacht würde sie ihr ihre tiefsten Wünsche preisgeben. Denn an dem Tag, an dem Alina kurzzeitig verschwunden war, wusste sie, sie war nicht bisexuell. Ihr Verlangen einen Menschen suchte, der sie akzeptierte, wie sie war, Mann wie Frau zugleich.
Die Seele eines Mannes, gefangen in einem weiblichen Körper. Falsch! Sie hatte ihren Laib angenommen, mit ihm seit Jahren Frieden geschlossen. Genoss sogar die Vorzüge, wenn es welche gab. Gentlemans hielten ihr die Tür auf, halfen ihr in den Mantel oder spendierten einen Drink. Mehr fiel ihr nicht ein. Höchstens ihr mitleidiges Grinsen, wenn sie im Hochsommer die vermummten in ihren schwarzen Anzügen schwitzend, keuchend durch die Stadt schleichen sah und sie in einem luftigen Kleid ihnen zuzwinkerte.
Wo Licht ist, ist auch Schatten, dachte Tanja. Sie erinnerte sich an einen Empfang auf Spitzbergen. Ein Mäzen mit Gefolge stattete einen Besuch ab. Ihr als einziger Frau wurde von ihrem Professor die Aufgabe der Bewirtschaftung zugeteilt. Im kleinen Schwarzen nur geschützt durch einen kaum längeren Mantel haarte sie bei frostiger Temperatur aus. Bis der Schnösel nach stundenlangen Händeschütteln sich endlich erweichte, den Sekt, in dem sich längst Eiskristalle wuchsen, von ihrem Tablett in Empfang zu nehmen. Männer waren Sadisten.
Trotzdem dürstete zeitweise ihr Innerstes danach, die Seiten zu wechseln. Seitdem sie Aishe mit dem Spielzeug bestiegen, welches sie zuvor beide im Sexshop erworben hatten. Sie Aishe stöhnend, grunzend, wie ein Eber in den Himmel der Lust getrieben hatte. Ihr Sabber auf Aishes Busen tropfte, hechelnd wie ein Rüde, mit hängender Zunge und aufgerissenen Augen ihr den finalen Stoß gegeben hatte, war ihr eins bewusst. Sie war ihre Frau.
Sie würde Aishes Mutter überzeugen. Friedl in die Flucht schlagen. Ihre Ehe auflösen und mit ihr vor den Traualtar treten. In einem Land, in dem es nicht verwerflich war.
Zuvor musste sie ihren eigenen Dämon besiegen, die Gestalt, die ihr Leben in diese Bahn geschleudert hatte. Wäre es nie gewesen, dann hätte sie seit Jahren den Partner gehabt, den sie ersehnte. Der Nachmittag mit Josephine hatte die Weiche gestellt. Die Freundin sie penetriert, sie entjungfert hatte.
Der Fahrplan geschrieben, alle Mitverschwörer eingewiesen. Nur eine Person musste sie überzeugen. Dieses war ihr schwerstes Unterfangen.



Totenglocke

Die Dame strich ihren wallenden pink-weiß gestreiften Rock über ihr Gesäß und kniete sich nieder. Den Kopf ruckartig bewegend, durchstöberten ihr blütenweiß behandschuhten Finger den Inhalt eines aus Eichenholz gefertigten Herrenschranks.
„Jannette!“
Ihre aristokratisch bleichen Wangen zuckten, bevor sie sich erhob, ein Lächeln auflegte und sich der Geräuschquelle zuwandte und zwitscherte: „Tante“. Sie trat auf die ältere Dame zu, schloss sie in ihre Arme und drückte ihr einen Kuss ans Ohr.
Gertrud umfasste ihre Unterarme. „Was machst du hier?“
Sie löste sich aus der Umklammerung, zupfte am gestärkten Kragen ihrer ärmellosen Rüschenbluse und wies auf die Alte. „Nicht auf dem Begräbnis?“
Eine Schulter hochziehend, winkte Gertrud ab und grantelte: „Da Pfarra redet eh grod bleds zeig“. Sie angelte den Griff eines Wischeimers, schleppte ihn zum Fenster. „Weis du wenn du tot bisd redn de Leid grod guads üba di.“ Gertrud stellte den Eimer ab, stieß die Fensterflügel auf, brummte: „Da Alfons war koa guada Mensch, warum guad vo eahm sprichn, wenn ea tot is“. Dabei bekreuzigte sie sich, wandte sich zum Bett, ergriff den dreibeinigen Schemel und stellte diesen unter das Fenster.
Sie schritt auf Gertrud zu, gab ihr die Hand. „Wart, ich helfe dir!“
Die Alte in ihrem langen tiefschwarzen, wallenden Rock, kletterte auf den Hocker. Übernahm den Putzeimer von der eleganten Dame und stieß mit diesem die Fensterflügel vollends auf. Sie griff in den Eimer, holte einen Schwamm hervor, streckte sich zum offenen stehenden Laden. Die Frau im Vintage-Look schritt zurück, ihre Augen gerichtet auf den Hintern der Alten, ihre Hände nah dem Gesäß. Ihr rechtes Bein schnellte vor, die Spitze ihres pinken Pumps presste den pechschwarzen Stoff des Rockes gegen die Sitzfläche des Schemels.
Gertrud riss die Augen auf und faste ins Leere. Ihr Oberkörper schwang über den Fenstersims. Nach einer gekonnten Pirouette sauste sie kopfüber aus dem zweiten Obergeschoss dem Erdboden entgegen, schlug mit dem Schädel auf und blieb reglos liegen.
Kopfschüttelnd schritt die Frau zum Herrenschrank und murmelte: „Gertrud, in deinem Alter Fenster putzen“, während sie niederkniete und sich eine lederne Manuskriptmappe schnappte.


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