Flucht über die Nordsee 6: Tami

ahorn

Mitglied
Zum Klappentext
zurück zu Anker eingeholt


Das Hochzeitsgeheimnis

Tonis Gebet wurde erhört. Sonja stieß mit ihrer über der Armbeuge baumelnden Handtasche gegen Tanja, schreckte auf und pflaumte sie an. Das war die Gunst der Stunde. Wie ein Aal schlüpfte er zwischen Geländer und der Schwester vorbei, sodass Sonja ihn höchstens von Achtern sah.
Er blieb mit schwabbligen Beinen stehen. Alle Passanten schienen ihn anzuglotzen. Tanja schloss zu ihm auf.
Tanja schüttelte den Kopf. „Die war ja unverschämt.“
Mit zitternder Stimme erwiderte er: „So ist sie immer!“
Tanjas Hand zeigte in die Richtung, in der Sonja verschwunden war.
„Du kennst das Mädchen?“ Zärtlich nahm sie ihn in die Arme. „Du zitterst am ganzen Leib.“
„Lass uns nach Hause fahren“, schluchzte er und deutete auf Sonja. „Ich will nicht, dass mich noch jemand aus meiner Klasse sieht!“
Tanjas Augen strahlten. „Warum? Du bist ein wunderschönes Mädchen. Dir fehlt Selbstbewusstsein, das ist alles.“
Er zog die Augenbrauen zusammen. Wollte sie ihn auf den Arm nehmen, oder hatte der Einkaufsrausch sie benebelt?
Ihr Zeigefinger wies zur Balustrade, von der die Rolltreppen abgingen, auf der ein Eiscafé Sitzgelegenheiten gestellt hatte. Auf einem der Stühle thronte Sonja mit direktem Blick auf die Fahrtreppen.
„Toni, Probleme muss man entgegen schreiten.“ Sie kniete sich vor ihm nieder. „Komm, wir gehen zu ihr, dann stellst du mich deiner Freundin vor. Scheint eine nette Deern zu sein. Von ihr kannst du eine Menge lernen.“
Den Mund halb geöffnet, stierte er sie an. Entweder war es ihm entgangen und er war, aus ihm unbekannten Gründen, in ihren Augen zu einem wahren Mädchen mutiert, oder sie stand unter Unterzuckerung, oder war dehydriert.

„Haben die jungen Damen etwas zum Essen gewählt?“, erkundigte sich hüstelnd ein Kellner, dessen kindliches Gesicht sein Alter widerspiegelte.
Toni zeigte auf die Speisekarte. Sein Blick schweifte zum Nachbartisch. An diesem saß ein Junge und verschlang sichtlich mit Genuss eine Currywurst mit einer riesigen Portion Pommes.
Toni jedoch bestellte sich einen kleinen Salat mit Hähnchenstreifen und blinzelte seiner Schwester zu.
Tanja griff zu ihrem Proseccoglas. „Auf uns!“
Er konterte mit seiner Cola.
Die Bedienung stellte die Salate ab. Toni besah sich das Häufchen Grün, rümpfte die Nase, begriff, warum die Mitschülerinnen bei derartiger Kost verblödeten. Eine Herde Kühe trottete durch sein Gehirn.
Mit der Gabel stocherte er im Essen herum, suchte nach den Hähnchenstreifen, die auf der Speisekarte ihn verlockt hatten, das Gericht zu bestellen.
Tanja spießte ein Salatblatt auf. „Toni, hat Bärbel bereits mit dir gesprochen?“, fragte sie und biss in den Salat.
Er stach in ein gefundenes Fleischstück, grinste, hielt sogleich Ausschau nach dem nächsten und hauchte: „Ja.“
Sie umklammerte ihre Gabel. „Wann?“
„Heute Morgen, du warst dabei!“, antwortete er, ohne aufzusehen.
Mit schiefen Lippen starrte sie ihn an und hob die Augenbrauen. „Dass du ins Internat sollst?“, murmelte sie.
Die Gabel rutschte ihm aus den Fingern. Sie fiel in den Salat. Salatdressing spritze auf sein Top. Sie schnappte eine Serviette und wischte den Flecken ab.
„Pass endlich mal auf!“
Er sperrte Mund und Augen auf. „Wie Internat?“

Sie erklärte ihm, dass er im nächsten Schuljahr auf eine Internatsschule wechseln solle. Seine Tante hätte mit Onkel Karl, ein Freund der Familie, geplant für zwölf Monate in einer Mission in Afrika zu arbeiten.
Karl kümmerte sich seit Jahren um ihn, mehr noch, er war sein Vormund, Priester und wohnte in Vechta.
Er zeigte ihr einen Vogel: „Das kann der Admiral nicht machen!“
Tanja schüttelte den Kopf, hielt ihre Gabel vor seine Nase. „Wenn sie mit Karl aussteigt, ist das ihre Sache.“
Er stieß in den Salat, traf eine Cocktailtomate, die getroffen, in Tanjas Mahl flog. Sein Blick folgte der Frucht.
Toni senkte die Schulter. „Das meine ich nicht“, raunte er. „Sie kann machen, was sie will.“ Er stützte sein Kinn auf seine Hand ab, stocherte im Essen und nölte: „Warum?“

So alt war die Tante nicht, um unbedingt vor seinem achtzehnten Geburtstag ihre Güte auszuleben, fand er.
Sie nahm Tonis Hand. „Versteh die beiden, sie werden nicht jünger.“ Sie blinzelte, überschlug ihre Beine, drehte mit einem Finger Locken in ihr Haar. „Alina geht auch in ein Internat. Ihr gefällt es dort.“
Er zog die Hand vom Tisch. „Wer ist Alina?“
Ihre Augenlider aufschlagend, legte sie den Kopf auf ihre Fäuste. „Alina ist Stephens Schwester“. Sie neigte den Oberkörper näher an ihn heran und flüsterte: „Halbschwester.“
Toni überkreuzte ebenfalls die Beine, streifte seinen Rock glatt. „Was geht mir diese Alina an? Die kann hingehen, wo sie will.“
Es schien ihm, als würde sie die Tante in Schutz nehmen. Sie erzählte ihm, sie vermutete seit Langem, dass Bärbel und Karl etwas miteinander hätten. Ihre Heimlichtuerei, ihre gemeinsamen Ausflüge, wann immer Tanja zu Hause verweilte, um auf ihn aufzupassen, legten den Verdacht nahe. Toni hatte des Öfteren ähnliche Gedanken. Das gespielte Verhalten beider, wenn er in der Küche oder im Wohnzimmer erschien. Es war ihre Sache. Warum zogen sie ihn damit hinein? Er hatte nichts dagegen, würde nicht zum Bischof laufen, ihn verpetzen.

Toni klopfte mit einer Faust auf den Tisch. „Ich gehe in kein Internat!“
„Das will ich auch nicht.“ Sie strich ihm durchs Haar. „Ich habe Bärbel vorgeschlagen, dass du für diese Zeit zu uns nach Bayern kommst, dann sind wir endlich eine richtige Familie.“
Er überlegte, ob er ihr ein Glas Wasser bestellen sollte, damit sie wieder klar im Kopf wurde. Schulisch hatte er nichts dagegen, für ein Jahr auf eine andere Schule, wenn nötig in Niederbayern, zu gehen. Schlimmer, als in seiner Jetzigen konnte es nicht werden. Außerdem hatte er gehört, dass man in Bayern mehr lernte. Aber, mit ihrem Zukünftigen, den er nicht kannte und den die Schwester erst vor Kurzem kennengelernt hatte, in einer Unterkunft zu leben, ging ihm zu weit. Die Vorstellung, mit dieser Person allein zu sein, während Tanja auf irgendeiner Exkursion verschwand, fand er widerwärtig. Nie hatte er mit einem Kerl gewohnt.
Er zupfte an seinem Rock, starrte dabei Tanja an und schluckte. Sie schien seine Gedanken zu lesen.
„Dort gibt es bestimmt auch Piraten.“
Ihr sicherlich gut gemeinter Satz beruhigte ihn nicht. Um sich abzulenken, seine Besorgnis nicht weiterzuspinnen, schob er diese beiseite und konzentrierte sich auf Tanja.
Seit Monaten hatte er sich gewundert, dass sie ihn gleich heiratete.
„Bist du etwa …“
Tanja unterbrach ihn, drehte den rechten Zeigefinger an ihrer Stirn. „Nein!“
Er zuckte mit den Achseln, zupfte an seinem Ohrläppchen. „Warum willst du ihn heiraten?“
Sie nahm einen kräftigen Schluck, legte ihr Haar hinters Ohr, senkte den Blick und malte mit den Fingern Muster auf dem Tisch. „Der Typ ist mir egal.“
Seine Verwunderung stieg ins Unermessliche. Sie war nicht schwanger, der Macker ihr schnuppe, trotzdem heiratete sie ihn.
Sie rutschte nervös auf ihrem Stuhl. „Gut. Aber das bleibt unter uns“, zischte sie, pochte mit ihrem Zeigefinger auf den Tisch. „Versprochen?“ Ihre Augen glühten. „Auch kein Wort zu Bärbel.“
Er hob seinen Zeige- und Ringfinger. „Ich schwöre!“
Tanja atmete durch, dann sprudelten ihr die Sätze aus dem Mund.

Sie heirate ihn nur, erzählte Tanja ihm, damit seine Mutter Franziska den Hof, den sie bewirtschaftete, von ihrem Vater erbte. Es war so einfach und dennoch kompliziert. Der Großvater von Tanjas Verlobten hatte sein Testament geändert, nachdem seine Tochter ihren Valentin geheiratet hatte. Vale ihr zweiter Ehemann und ihr Vater Alfons hassten sich. Er, überzeugter Sozialist und Anhänger naturnaher Landwirtschaft und er, Ewig-Gestrige, der sich nach dem Führer sehnte. Dieser Alte hatte sein Testament derart ausgelegt, dass die Tochter den Hof nur erbt, wenn Stephen, den Tanja in einer Woche ehelichte, vor seinem Tot heiratete. Ansonsten fiel das Erbe an eine Vereinigung. Ein Umstand, den nicht nur Franziska, sondern das ganze Dorf sauer aufstieß.

Toni hing an ihren Lippen und zupfte an seinem Ohrläppchen. „Was hast du mit denen zu schaffen?“
Tanjas Augen leuchteten. „Jannette!“
Er hob die Schultern. „Jannette?“ Er betastete den Kragen seines Tops, als suchte er eine Kette, an der er sich festhalten konnte.
Sie legte abermals das Kinn auf die Hände. Schmunzelnd schaute sie nach oben. „Meine Freundin.“
Sie erzählte ihm, sie hätte Jannette im Studium kennengelernt.
Damals hätte sie sich nie vorgestellt, wie eng ihre Romanze würde. Erst bei der Windelparty von Josephines Kleinem sprang der Funken über. Seit diesem Abend waren sie ein Paar. Die glühenden Augen und das zarte Lächeln seiner Schwester erahnten, welchen Kontakt sie zu ihrer Freundin Jannette pflegte.

Die Frage war ihm peinlich, trotzdem verlangte sein Verstand nach Gewissheit.
Toni bedeckte den Mund und flüsterte. „Tanja, bist du …“
Die Schultern seiner Schwester sausten hinab. Sie warf den Kopf in den Nacken, grinste.
„Ja!“
Toni war brüskiert. Nicht aus dem Grund, weil sie Frauen liebte. Eher, dass sie ihn nicht in ihr Vertrauen gezogen hatte. Sie waren Geschwister. Gut, vom Altersunterschied hätte Tanja seine Mutter sein können, aber er glaubte, sie vertraue ihn in derselben Art, wie er es tat.
Er vermutete, warum sie es ihm nicht gebeichtet hatte. Sie wollte ihm einen Loyalitätskonflikt ersparen. Bärbel! Seine Tante, obwohl sie zweifelsfrei eine moderne Frau war, hielt nichts von solchen Romanzen. Manchmal übermannte sie ein religiöser Wahn, der ihn nervte. Dennoch ergab er sich in sein Schicksal.
Die wöchentliche Bibelstunde oder der sonntägliche Kirchenbesuch perlten an ihm ab. Wenn sie wüsste, welch sündhafte Liebschaft ihre Tanja pflegte . Beim Gedanken daran lief ihm ein Schauer über den Rücken.

Ein Widerspruch schoss ihm durch sein Gehirn, der nichts mit der Schwester an sich, sondern eher ihn einschloss. Oder gab es eine Verbindung? Seine Tante hatte Tanja erlaubt, ihn in ein echtes Mädchen zu verwandeln, damit er auf ihrer Hochzeit die Wette gewinnen konnte.
Dieses widersprach ihren Prinzipien. Er hatte es in den Bibelstunden gelernt. Dabei war ein Kleid als solches nichts Verwerfliches, Messdiener trugen gleichfalls welche. Wenn er der Tante bei Anproben half, schlüpfte er des Öftern in diese. Da spielte es keine Rolle, ob er Jungen- oder Mädchenkleider anzog. Bloß in der Verbindung mit einer Wette, wie ein Mädchen auf der Straße flanieren und zur Krönung derart gekleidet, auf einer gesegneten Trauung zu erscheinen, machte die Krux aus. Wetten waren Sünde, somit vom Teufel in die Welt gebracht.
Es musste mehr dahinterstecken, als ein Spaß auf ihrer Hochzeit, denn seine Tante kannte nicht die Hintergründe der Vermählung. Oder doch?

„Deine Freundin findet es cool, dass du ihn heiratest?“, nahm er das Gespräch wieder auf.
Sie schluckte den letzten Rest Prosecco herunter. „Ersten weilt sie zurzeit in den Staaten und zweitens hat sie seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie.“
Er überschlug seine Beine, beugte sich vor und ergriff ihre Hand. „Der Alina gefällt es im Internat?“
Sie spitze den Mund. „Ich glaube schon. In einem modernen Internat können sich die Schüler richtig entfalten.“
Toni senkte den Blick, zupfte an seinen Rock. „Meinst du mich?“
Sie nickte. „Las uns das in Bayern besprechen. Vielleicht kann ich den Admiral umstimmen und bei mir hast du immer ein Zimmer“, hauchte sie mit einem Lächeln auf den Lippen.

Tanja sah auf ihre Armbanduhr. „Toni, wir müssen!“, brach sie die Plauderei ab.
Toni fiel es wieder ein. Er besaß zwischenzeitlich Garderobe für den Abend und fürs Standesamt, aber ein weißes Kleid steckte nicht in einer der Taschen.
Die Finger schlaff, schüttelte er die Hände. Er äffte sie nach, wie es aussah, wenn sie sich auf ein Rendezvous vorbereitete, dabei vor ihrem Kleiderschrank hüpfte. „Stimmt. Ich habe kein weißes Kleid.“
Sie stand, ohne ihn anzusehen, auf. Dafür musterte sie seine Füße. „Nein! Du hast keine Schuhe oder willst du barfuß gehen.“
Seufzend reckte er sich empor. Er vermochte nicht zu behaupten, ob er oft mit ihr in Modegeschäfte die Zeit vergeudet hatte. Dennoch stand fest, Tanja war eine Frau und wie alle ihre Geschlechtsgenossinnen hatte sie zwei Leidenschaften.
Ihre rot bemalten Fingernägel berührten seinen nackten Oberarm. „Ich habe mir etwas überlegt. Ich habe letztens mein altes Firmungskleid gefunden, das aus Spitze in Altrosa. Das Kleid müsste dir passen.“ Dann zupfte sie, wie es Mütter an sich haben, an seinem Top. „Bärbel muss es sicherlich ein wenig ändern, denn ich hatte in deinem Alter mehr Busen.“ Sie kicherte, dabei lüpfte sie ihre Brüste.
Toni streifte ihre Hand vom Oberkörper, überkreuzte die Arme.
Er zog die Mundwinkel herunter. „Ich brauche doch nicht deine Kleider auf!“ Er neigte den Kopf zur Seite und griente. „Ich will ein Neues haben!“
Er wartete auf das Lachen der Schwester. Stille!
Dafür ergriff Tanja seine Hand und zupfte mit dem Zeigefinger an ihrer Unterlippen. „Ich habe eine Idee, wo wir ein weißes Kleid für dich bekommen.“ Sie kratzte versunken an ihrem Grübchen. „Aber zuerst muss ich telefonieren.“



Tami

Tanja riss an seinem Arm. „Toni! Vorsicht!“
Er flog zurück und prallte an ihren Körper. Eine pechschwarze Limousine bog mit quietschenden Reifen um die nächste Ecke.
Ihre Finger fest an Tonis Oberarmen starrte sie ihm in die Augen. „Kannst du nicht gucken, wenn du über die Straße gehst!“
„Aber?“
Tanja zischte und ergriff seine Hand. Dann steuerten sie, nachdem sie die Fahrbahn überquert hatten, auf ein Brautmodengeschäft zu.

Ein Schwall kühler Klimaanlagenluft strömte beim Eintreten an Tonis Gesicht. Die Luft duftete nach Rosen, vermischt mit Lavendel. Ein junges Mädchen in seinem Alter mit einem über ihrer Brust baumelnden karamellfarbigen Zopf trat ihnen entgegen. Sie trug einen knielangen rostbraunen Rock und eine gleichfarbige ärmellose Bluse. Der enge Rock behinderte sie, sodass sie mit ihren Pumps trippelte. In ihren Händen balancierte sie mehrere Bügel mit feinen Dessous.
Sie legte ein Lächeln auf und wisperte: „Was kann ich für sie tun? Kann ich ihnen behilflich sein?“
Bevor Tanja eine Antwort gab, erschien eine Frau in einem schlichten lavendelfarbenen Kleid mit tiefem Ausschnitt. Mit ihren weiblichen Rundungen wälzte sie an dem Mädchen vorbei. Ihr taillenlanges rehbraunes Haar streifte der Kleinen über den Kopf.
Tanja schubste ihn mit einem Hüftschwung zur Seite, streckte den Hals. „Wir waren vor ein paar Wochen schon bei ihnen.“
Die Braunhaarige wiegte ihr Haupt. „Ja. Ich erinnere mich.“ Sie schwang ihr Haar über die Schulter. „Gerne zeige ich ihnen das Kleid noch einmal“,
Tanja winkte ab. „Danke. Aber ich habe mich entschieden, das Brautkleid meiner Mutter zu tragen.“ Sie kraulte Tonis durchs Haar, sah ihn herablassend über die Schulter an. „Ich suche ein exquisites, dennoch modisches blütenweißes oder pastellfarbenes Kleid, ohne Chichi, trotzdem mädchenhaft, nicht in der Art Prinzessin, eher nobel, für meine Tochter“.

Toni hätte seiner Schwester in ihren Achtern treten können. Tochter! Dass manche Personen ihn als ihr Kind ansahen, war verständlich bei ihrem Altersunterschied. Das eine oder andere Mal hatte er das ausgenutzt.

Toni erinnerte sich an die Sache mit Sören, ein ekliger Typ. Er besuchte die fünfte Klasse, nur geschubst hatte er, Toni ihn, das sah die Lehrerin anders. Jedenfalls hatte sie die Erziehungsberechtigten einbestellt. Tanja war bei der Paukerin aufgekreuzt, hatte diese in einem herablassenden Ton aufgeklärt, dass ihr Sprössling nie in einer Schlägerei verwickelt war, ein Umstand, der für Sören außer in diesem Fall nicht zutraf. Die Lehrerin, damals neu an der Schule glaubte deshalb Tanja, dass ihr Spross nie in seinem Leben je einer Fliege Leid zugefügt hätte. Sie hatte ihn nicht gefragt, warum er das Vergehen ausgeübt. Er hatte es ihr niemals erzählt.
Er war froh, keine Eltern zu haben. Es klingt hart, aber er hatte sie nie kennengelernt, erfuhr nur von Schulkameraden, wie jene nervten. Väter und Mütter unterdrückten ihre Kinder, sausten wie ein Helikopter um sie herum, um ihre Brut zu beschützen. So, nahm er es wahr. Er hatte Tante Bärbel. Sie passte auf ihn auf, mehr als ihm meistens lieb war, aber sie erdrückte ihn nicht.

Die Verkäuferin beugte ihren Oberkörper. Ihre Haare glitten an ihren Schultern hinab, schlossen sich wie ein Vorhang um ihn.
„Was hast du dir vorgestellt?“, drang ihre Stimme durch den Schleier, den sie beschwingt mit einer Hand öffnete und hinter ihrem Ohr befestigte.
Er stand starr. „Weiß!“
Eine blödere Antwort gab es nicht. In einem Modegeschäft, in dem fast ausschließlich Brautkleider hingen, sagte er Weiß. Er hätte ebenfalls aus Stoff oder zum Anziehen sagen können. Die Aussage wäre dieselbe gewesen. Oder hatte sein Unterbewusstsein weiß nicht geschrien. Egal, die Damen wandten ihm ihren Rücken zu.
„Weiß, mit einem ausgestellten Rock und ein paar Rüschen!“, hörte er, bevor Tanja mit der Geschäftsfrau in die undurchdringliche Wildnis der Brautmoden entschwand.

Er glotzte das Mädchen an.
„Ich muss dann!“, stotterte sie.
Sie trat einen Schritt vor, knickte um, worauf ein Teil der Wäsche segelte zu Boden. Er sprang ihr zur Seite, zögerte, faste an sein Ohrläppchen. Die Kleidung verbat es ihm, den Oberkörper vorzubeugen, um die feinen Stoffe ihr zu überreichen. Als könne sie seine Gedanken lesen, zwinkerte sie ihm zu, presste die Knie aneinander und kniete nieder. Er tat es ihr gleich. Ganz nah kam er ihr. Ihr Duft kroch ihm in die Nase. Ein ihm bekannter Geruch nach Lavendel und Zitrone. Es kam ihm vor, als legte das Aroma ihrer Haut einen Schalter in seinem Kopf um.

Sonjas Fete, zu der er im letzten Herbst eingeladen war, schoss ihm durch seine Hirnwindungen. Warum sie ihn damals einlud, war ihm das bewusst gewesen? Sie brauchte einen Idioten, den sie vor ihren Freundinnen erniedrigte. Trotzdem kreuzte er auf. Die ersten Minuten bewiesen ihm, er war nur ihr Hampelmann. Ihre Mutter hatte alles mitbekommen, zog ihn aus der Bredouille, indem er ihr im Haushalt behilflich war, bis sich die Lage für ihn beruhigte. Sie kannte ihre Tochter, wusste, dass ihre Sticheleien schnell wieder verflogen.
Da hatte er sie gesehen. Sie hatte am Buffet gestanden, richtete die Speisen her. Wer sie war? Ob Sonjas Cousine oder wer anderes hatte er sie nicht gefragt. Auch ihr Name blieb für ihn unbekannt. Er hatte vergessen, was sie trug, welche Farbe ihr Haar hatte. Nur ihr Parfum aus Essenzen von Lavendel und Zitrone hatte sich in seinem Gehirn verankert. Sowie ihre kleinen Grübchen, die sich bei ihrem Lächeln modellierten, waren ihm nicht aus dem Sinn gegangen.
Das Mädchen im Brautmodengeschäft verschwand, wie der Klabautermann, der am Mast hing, kurz lachte, schließlich sich verflüchtigte.

Er sah sich um. Nach einem Moment schaute er Tanja ins Gesicht, die mit der Verkäuferin am anderen Ende des Ladens weilte. Gedanken versunken, durchstöberten die beiden fachkundig prüfend mehrere Ständer mit weißen, teilweisen Rosa oder hellblaufarbenden Festgewändern. Er tappte auf Tanja zu, stellte sich direkt neben sie. Sie übersah ihn, obwohl er der Mittelpunkt des Tages war. Nach einer Zeitspanne veränderte sich ihr Verhalten. Sie schnappten Kleidungsstücke von den Kleiderständern, hielt diese an seinen Körper, musterten sie und hing es entweder kopfschüttelnd zurück, oder legten sie mit einem Lächeln auf Tonis linken Arm. Er stand wie eine Galionsfigur.
Nachdem mehrere Kleider auf dem Arm versammelt waren, stieß ihn Tanja an. „Möchtest du nicht langsam anprobieren gehen?“
Er starrte in Tanjas Gesicht, daraufhin in das der mondänen Verkäuferin.
Sie hob den Arm. „Die Umkleide ist da vorne links!“

„Komm, ich helfe dir!“, trällerte eine Stimme.
Wie aus dem Nichts erschien das Mädchen an seiner Seite, nahm ihm die Fracht ab, schob den Vorhang zur Kabine beiseite.
Er streifte ein Kleid nach dem Anderen über, dabei bedacht dem Mädchen nicht zu zeigen, was er war. Sie reichte ihm die Gewänder, schloss den Reißverschluss. Dann wandelte er, wie ein Mannequin im Training, durch das Geschäft, präsentierte die Kleidungsstücke der Schwester und der Verkäuferin. Sie musterten ihn, gaben Kommentare ab, beschäftigten sich erneut mit der Suche nach weiteren Kleidern.

Tanja befühlte ein seidiges, ausladendes Brautkleid.
„Das ist aber für deine Tochter zu groß“, lächelte die Verkäuferin.
Tonis Schwester schwenkte den Kopf und grinste. „Es ist das Kleid, welches mir letztes Mal so gut gefallen hatte!“
Olga stieß sie mit den Ellenbogen an. „Schlüpfe rein!“, ermunterte sie ihre Kundin. „Vielleicht kann ich dich überzeugen“.

Tami, hieß das Mädchen und er nutzte die Pause für einen Plausch. Sie schnatterte, er hörte zu.
Er erfuhr von ihr, dass sie im gleichen Jahr geboren war. Um ihr Taschengeld aufzubessern, arbeitete sie gelegentlich bei Olga. Ansonsten besuchte sie die sechste Klasse eines Mädchengymnasiums. Unweit der Schule, die er beehrte.
Mit Tränen in den Augen beichte sie ihm, dass es ihr letztes Schuljahr sein würde. Nach ihrer Aussage war sie eine gute Schülerin, nur in Mathematik und Physik kam sie nicht mit und zweimal hintereinander sitzenbleiben konnte sie nicht.

Tanja berührte Tonis Wangen. „Antonia. Das ist es!“
Ein Lächeln hüpfte über die Lippen der Verkäuferin, die mit Tanja das du ausgetauscht hatte. „Wirklich, die Suche hat sich gelohnt.“ Sie klopfte an ihre Nase. „Warte, ich habe da noch eine Idee!“ Olga wuselte davon.
Er stand vor dem Spiegel, wedelte mit den Armen und schwang die Hüfte. Sogar ihm gefiel das Kleid, wenn er nicht selbst drin gesteckt hätte. Es besaß einen ausladenden Rock, der hinten lang, vorn kurz die Knie freihielt. Den Bauch und die Taille umhüllte feine Seide, im Brustbereich umspielten Rüschen seinen Körper, sodass es den Anschein hatte, er habe einen Busen.
„Wau!“, kam es über Tamis Lippen, erstaunt.
Grazil, wie eine Elfe, schwebte Olga an Toni heran, umfasste seine Taille und band ihm einen rostbraunen Seidengürtel mit gleichfarbiger Schleife um.
Tanja schritt auf ihn zu, während sie ihre Wange rieb und rief: „Perfekt!“
„Gib Antonia deine Schuhe!“, befahl die Chefin daraufhin ihrer Aushilfe.
Das Mädchen zog aufatmend ihre Pumps aus. Toni musterte seine Schwester und die Schuhe im Wechsel. Die Absätze waren in der Höhe eines Weinkorkens und dünn wie ein Bleistift.
„Antonia nur einmal, ob sie zum Kleid passen“, munterte Tanja ihn auf.
Sie trug meistens hochhackiges Schuhwerk. Aber er? Mit Vorsicht an Tanja sich abstützend stieg er in die Pumps, traute sich nicht, einen Schritt zu gehen.
Unbeachtete der Unsicherheit griff die Schwester an seine Taille. „Olga, meinst du nicht, das Kleid könnte ein wenig figurbetonter sitzen.“
Die Angesprochene überprüfte den Stoff. „Ja. Da gebe ich dir recht.“ Sie zupfte an den Seitennähten. „Kein Problem, das kann … meine Schneiderin schnell abändern.“ Sie blinzelte Tanja zu. „Noch ein Gläschen Sekt?“.
Olga und Tanja gingen, ließen ihn weiterhin starr verweilend zurück; gleich einer Modepuppe, die ihren Zweck begafft, betatscht zu werden, erfüllt hatte und dann die Kundschaft das Interesse an ihr verloren hatte.

Toni kniff die Augenbrauen zusammen, lüpfte den Rocksaum und stierte auf seine Füße. „Du, wie geht man mit den Dingern?“
Tami runzelte die Stirn, schloss ihr linkes Auge. Ein Lächeln huschte über ihren schmalen Mund. Sie bedeckte ihre Unterlippe. „Ein Schritt vor den anderen?“
Toni stelze wie ein Storch auf dem Teppich. Sie überkreuzte ihre Beine, legte ihre Finger an ihre Hüfte.
Ein Glucksen drang aus ihrem Mund. „Wie eine Ballerina schreitest du nicht!“ Sie hob abwechselnd ihre Füße, wie Winzer im Herbst ihre Trauben quetschten. „Nicht so“, belehrte sie ihn. Sie berührte ihre Hüfte. „So“, hauchte sie. Dann schritt sie mit leichtem Hüftschwung auf und ab.
Er stampfe über den Teppich.
Tami rümpfte die Nase. „In diesem Kleid lernst du das nie!“
Sie drückte die Lippen aufeinander, kratze sich am Ohr und befahl: „Zieh meinen an.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, zog sie sich aus. „Dann musst du kleinere Schritte machen“, erklärte sie, wie eine Trainerin.
Tami öffnete Tonis Kleid, reichte ihm ihr Kleidungsstück. Er presste sein Gewand fest an seinen Körper.
Sie griff an den Ausschnitt, zog am Rock. „Komm, zieh aus. Es muss sowieso zur Schneiderin“, grollte sie.
Tonis Puls schlug, sein Herz raste. Ihm verlangte es nach einem Wiedersehen. Sich in seinem wahren ich zu zeigen. Wie sollte er ihr beim nächsten Treffen entgegentreten, wenn er sich bei ihrem ersten Beisammensein zu einer Witzfigur gemacht hatte?



Schrei in der Stille

Mit einem Ruck stürzte sein Schutz zu Boden. Blut stieg ihm in die Wangen. Er wandte das Gesicht von ihr ab. Tami schlug beide Hände an ihren Mund. Kicherte!
Der Segeltörn war gelaufen. Mit Würde untergehen! Einer der Sprüche seines Großvaters kam ihm in den Sinn.


Stürzt der Mast im Orkan,

dann marschiere zum Bug mit Elan.

Genieße die letzte Gischt,

die über Dich und der Reling bricht.


Mit rotem Kopf stieg er in den Rock. „Hast du ein Problem damit? Ich bin ein Mädchen, klar!“, gab er ihr erbost zu verstehen.
Sie drehte ihm den Rücken zu. Er hatte es vergeigt.
Tami knöpfte ihre Bluse auf. „Gibt mir bitte dein Top? Die Bluse passt besser zum Rock!“
Sie nur im Slip, verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Dann zeig mir, wie ein Mädchen schreitet!“

Ihr Kopf schnellte in die Höhe. Er schritt, tänzelte mit erhobenem Haupt wie ein Mannequin über die bordeauxfarbene Auslegeware. Sie lachte. Er stimmte mit ein.
„Ihr versteht euch ja prächtig.“
Unverhofft stand Olga neben den beiden. Mit einem Augenzwinkern forderte sie ihre Aushilfe auf, die Ware zur Schneiderin zu befördern.
Tami schnappte seine Sachen, zog sich an, ergriff Tonis Kleid und rannte aus dem Geschäft.

Tanja betrachte hektisch ihre Uhr.
Olga schüttelte den Kopf und erhob ihre Arme. „Ich weiß nicht, wo Tami bleibt. Diese zwei Nähte sind flott gemacht“.
„Wir können nicht mehr warten. Mein Flieger geht bald und duschen, möchte ich mich außerdem.“
„Ich schicke Tami gleich vorbei, wenn sie kommt.“
Tanja wandte sich an Toni, der auf einem Sessel saß und veraltete Modezeitschriften durchstöberte.
„Komm, Antonia, wir gehen!“
Er schreckte auf, schmiss die Illustrierte auf den mickrigen Tisch, der neben seinem Polsterstuhl stand. „Aber Tami hat noch meine Sachen an?“
Tanja schielte zu Olga. „Du kannst gerne auf sie warten. Dann gehst du ohne mich nach Hause!“

Bei dem Gedanken in Mädchensachen ohne Begleitung seiner Schwester durch die Stadt zu marschieren, bekam er Herzrasen und weiche Knie. Wenn er jedoch blieb, würde er Tami wiedersehen und hätte die Gunst der Stunde, ihr alles zu erklären.

Das Klacken zweier Paar Damenschuhe halte über den menschenleeren Weg. Alte Weiden schluckten das letzte Licht der untergehenden Sonne, schlugen mit ihren Ästen Schatten, wie Fischernetze, die am Grund der See, ihre Beute fangen. Alle paar Meter sah sich seine Schwester um, drängte ihn zur Eile. Kein Vogel sang ein Lied, kein Kaninchen huschte über die Wege, nicht einmal ein Hundebesitzer führte sein Tier aus.

Er kannte den Bürgerpark, oft hatte er in ihm gespielt, ihn durchschritten. Das eine oder andere Mal zu später Stunde, nie empfand er ihn, in dieser Art. Der Roman Die Langoliers von Stephen King kam ihn in den Sinn, in dem der Schriftsteller, die Geschichte eines Fluges erzählt. Ein Teil der Passagiere gefangen in einem Zeitloch, auf einem Flughafen gestrandet, nur tote Gegenstände wahrnehmend, keine Geräusche, keine Gerüche, keinen Geschmack.
Tanja beschleunigte ihre Schritte.
Er blieb zurück und rief: „Nicht so schnell. Außerdem schmerzen meine Füße.“
Das Schreiten in dem Schuhwerk machte ihm keine Probleme mehr. Er nahm die hohen Absätze kaum wahr. Die Schuhe umhüllten seine Füße, als wären sie für ihn gefertigt, trotzdem brannten ihm die Zehenspitzen, ein Stechen, welches Meter für Meter anschwoll.
Er blieb zitternd stehen. Sie verweilte, streckte ihre Hände gen Himmel. Toni schaute sich um und streifte sich den leichten Pullover vom Vormittag über.
Tanja schüttelte den Kopf. „Ich habe dir nicht gesagt, dass du die Schuhe tragen sollst.“
Er stemmte die Fäuste in die Taille, pumpte Luft in die Lunge. „Aber?“
Sie deutete auf Tonis Füße, „Ich wollte nur sehen, ob geschlossene oder offene Schuhe besser zu deinem Kleid passen.“
Wollte sie ihn bestrafen? Es fuhr ein Bus. Seine Schwester meinte, der Weg durch den Park wäre kürzer, schneller zu gehen. Gehen! Mit Turnschuhen wäre er längst zu Hause. Der Rock bremste zusätzlich die Schritte.

Sie verließen die Grünanlage. Auch die Straße seiner Heimat lag einsam vor ihnen. Die Gedanken an Stephen King versetzte seine Beine in ein Zittern. Trotzdem war er froh über die Menschenleere, denn niemand sah ihn in den Frauenkleidern. Nur in der Ferne, auf Höhe ihres Heims, bestieg ein Mann sein Kraftfahrzeug.
Tanja erreichte den Überweg zur anderen Straßenseite. Zügig überquerte sie den Fahrweg. Als Toni an der Ampel ankam, leuchtete diese rot. Er blieb stehen.
Sie winkte ihm zu. „Komm rüber“, rief sie durch die Stille.
Er hob den rechten Zeigefinger, zeigte auf das Licht. „Es ist rot!“
Seine Schwester verdrehte die Augen, verschränkte ihre Arme vor der Brust, wippte mit einem Fuß.
Das Auto trieb voran, fuhr auf den Überweg zu. Die Ampelfarbe wechselte für ihn auf Grün. Er betrat die Fahrbahn. Auf Höhe der Fahrbahnmitte raste die dunkle Limousine auf ihn zu. Toni beschleunigte, der Rock eng, die graziösen Schuhe wackelig, knickte er um. Geblendet von dem grellen Scheinwerferlicht, verdeckte er die Augen. Schrie.


Weiter zu
Verdrehtes Fock
 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten