Flucht über die Nordsee 66. Die Sünderin klagt an

ahorn

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Die Sünderin klagt an
Tanja saß am Küchentisch, drehte eine Visitenkarte und blickte zum Fenster. Eine Frau stand vor diesem, sah in die Nacht, als erwartete sie den Morgen. »Du kannst ihm vertrauen. Er ist verrückt, durchgeknallt aber ehrlich«, sprach sie. »Er wird euch helfen.« Die Frau schlug auf die Fensterscheibe. »Wie konnt ich nur meine Erlaubnis geben!«
Tanja senkte den Kopf und warf die Karte auf den Tisch. »Sie ist alt genug.«

»Ein Kind!« Der Schädel schlug gegen die Scheibe. »Nur Unheil verbreitest du. Verführst meinen Mann, schläfst mit ihm und den anderen bringst du um.«
Tanja richtete ihren Oberkörper auf. »Ja! Das mit Anton gebe ich zu. Ich habe nie verheimlicht, was ich getan habe. Gelitten die ganzen Jahre habe ich. Versteckt. Aber Doc!« Sie schüttelte den Kopf. »Nein!«
Erneut klirrte das Glas. »Lüg nicht, gesteh! Erwischt hab ich euch!« Ihre Fingernägel kratzten über den Fensterrahmen, wie Kreide auf einer Schultafel kreischte es. »Gebeten hatte er dich, dass endlich Schluss sei. Er in Unterhose. Du nackt auf deinem Bett. Die Beine gespreizt. Die Finger ...«
Tanja schlug auf den Tisch. »Deswegen hast du mich in Stich gelassen, wegen eines Missverständnisses. Weiß Gott, nie hatte ich etwas mit Doc, war eher wie ein Vater für mich.«
»Las den Allmächtigen heraus!«

»Wieder auf den Weg der Tugend brachte mich Doc.« Tanja stützte den Kopf ab. »Mit unzähligen Kerlen hab ich geschlafen aber nie mit ihm.« Sie zog ihre dünnen Augenbrauen zusammen. »Spaß hat es mir gemach. Geld gab es obendrein!«

Die Frau griff in ihre Haare. »Willst du damit sagen ...«
»Anschaffen!«, überlagerte Tanja ihren Satz. »Nenn es beim Name! Heute sehe ich dieses genauso.«
Ihr Gesicht gegen an Fensterrahmen gepresst, drehte die Frau am Fenstergriff. »Warum? Des Geldes wegen? Du hastest eine gute Stelle im Krankenhaus.«
Tanja legte ihre Unterarme auf den Küchentisch und blickte zur Seite. »Weil es mir Spaß gemacht, mich bereits beim ersten Mal angetörnt hat. Er war nett, machte mir Komplimente. Dabei wusste ich gleich, was er wollte. Wir sind aufs Zimmer und besiegelten unseren Vertrag.« Sie biss auf ihre Unterlippe. »Du bist die Erste, der ich das beichte.«

»Die ganze Geschichte mit der Vergewaltigung gelogen!«
»Woher weißt du, die ...«, zischte Tanja.
»Die Spatzen pfeifen sie von den Dächern!«
»Ja gelogen!« Sie schlug mehrmals auf den Tisch. »Konnte niemanden die Wahrheit sagen. Dabei hatte ich aufgehört. Gebeteten hatte er mich, auf den Knie gerutscht war er.«

Die Frau klopfte mit der flachen Hand gegen die Fensterscheibe. »Also doch!«, grummelte sie. »Deswegen wollte ihr nach Deutschland.«
»Von was sprichst du?« Tanja verdrehte die Augen und drehte sich eine Locke. »Ach! Du meinst. Ich habe dir gerade gesagt, dass Doc nichts damit zu tun hatte. Er wollte nach Hamburg und mir hat er einen Studienplatz in Göttingen besorgt.« Sie beugte sich vor. »Anton war es!«

»Beschuldige keine Unschuldige. Versuch deine Tat, nicht zu rechtfertigen!«
Tanja tippte an ihre Stirn. »Unschuldig! Der Clubbesitzer war Antons Kumpel. Er wusste, was ich tat, verlangte für sein Schweigen, dass ich mit seinem Geschäftspartner ...«
»Mord bleibt Mord!«

»Es war ein Unfall! Ja! Ich dachte, er war es gewesen, zählte eins und eins zusammen. Erst sein Verlangen, dann die Schatulle mit dem Segelbootmotiv aus Muscheln – das er der Entführer war.«
»Wieder eine von deinen Märchen – Nutte!«
»Mutter!«

»Ach! Anton war ein großherziger Mensch. Nie hätte er dich zu so etwas gezwungen!« Sie zupfte an der Gummidichtung des Fensters. »Außerdem«, sie sah zu Boden, »war er dein Vater.«
Tanja schluckte.
»Enttäuscht! Warst der Ansicht, Doc wäre es gewesen!«
In diesem Momente dachte Tanja an nichts.
»Doc habe ich geliebt, denn einzigen Mann in meinen Leben, dem ich verfallen war. Er konnte keine Kinder bekommen!« Sie presste die Stirn an Glas. »Hab ich später erfahren!«

Die Gedanken kreisten in ihrem Gehirn. »Tanja, Stephen und Franziskas erstes Kind!«
»Franziskas Kind, welches sie abgetrieben hat«, konterte die Frau.
»Ja!«, antwortete Tanja knapp.
»Hat nie existiert - Fantasie. Franziska lügt, wenn sie den Mund aufmacht.« Sie lachte. »Soll ich dir die Wahrheit erzählen?«
Tanjas Unterkiefer sank, gefolgt von ihren Schultern, herab. »Bitte!«


»Irgendwie waren wir alle Freunde. Nicht wie du vielleicht denkst. Jedenfalls nicht am Anfang«, begann sie ihre Geschichte.

Sie hatte sich von ihrem Freund getrennt, liebte einen anderen. Doc! Das er längst in festen Händen, ihr bewusst. Sie gestand ihm ihre Sympathie. Für ihn kein Problem sein Herz war groß – er liebte die Menschen. Er arbeitete als Assistenzarzt im Krankenhaus und sie hatte ihr Studium absolviert. Fast eine Woche kamen sie nicht aus dem Bett – alle Drei. Am Wochenende erschien Anton, zog sich aus, legte sich dazu.
»Da wurdest du gezeugt.«
Anton hatte die Schnauze voll von Alfons. Seine Nazi-Ansichten, das Dorfleben kotzten ihn an. Raus wollte er in weite Welt – nach Indien. Die Drei begeistert, schlossen sich ihm an. Vorher wollte er es ihnen zeigen. Wie er es schaffte, konnte sie nicht mehr sagen, nur dass die Idee vom Friedenscamp neben Alfons Hof auf seinem Mist gewachsen war.

Die Sache lief aus dem Ruder. Franziska schwänzelt um Anton herum. Erzählte allen, die es nicht Wissen wollten, dass sie beide versprochen waren.
»Dabei war sie minderjährig. Ein Kind!«, stöhnte sie. »Ich stellte fest, dass ich schwanger war.« Sie griff in ihr Haar. »Beichten wollte ich. Beim Pfarrer – blöde Idee.«
Ihr Ex-Freund erschien in der Kirche, machte ihr keine Vorwürfe. Er flüsterte ihr ins Ohr, sie solle tun, als zeugten sie auf dem Altar ein Kind.
»Dabei habe ich ihm nichts gesagt.«

Aufgestachelt von Alfons trieb sie der Mob aus dem Dorf. Sie flohen. In einem Hotel in Passau verbrachten sie die ersten Tage. Ihr Ex-Freund erschien mit Franziska im Schlepptau, seine Verantwortung tragen. Sie verschwieg ihm, dass er nicht der Vater war. Die anderen zogen weiter und sie mit ihm zusammen.
»Auf den Senkel ist er mir gegangen mit seiner heilen Familienwelt, dabei war er verheiratete, hatte selbst ein Kind. Habe die Verrückte gespielt und er hat das Weite gesucht. Na ja schlecht war er nicht.«

Wie oft hatte Tanja diese Geschichte gehört. Jedes Mal anderes erzählt, aber im Kern gleich und mit demselben Ergebnis. Sie hatte es satt. Keiner berichtete die Wahrheit, alles gelogen oder von der Zeit verfremdet. Wie ihre Märchen, welche sie spann. Zu ihrer Entlastung verkündete sie, dass damit Schluss sei. Endlich ein neues Leben beginn - ohne Lügen.

»Tanja, Stephen«, fing sie ihre Frage wieder auf.
»Tanja! Doc ihr Vater! Anton ihr Erzeuger!«. Die Frau strich über den Fenstergriff. »Blieb in der Familie.«
»Wie?«
»Doc und Anton waren Brüder! Wusstest du das nicht?«

»Nein!« Tanja schloss die Augen. »Stephen?«
»Soweit ich weiß Valentins Junge.« Sie atmete tief ein. »Anton war ein Guter. Er hat sich Franziskas angenommen, ihr ein Heim gegeben. Sie nie berührt. Valentin war regelmäßig bei ihr und teilte mit ihr das Bett.«

Tanjas Lungenflügel entließen ihren Inhalt.
Das Fensterglas vibrierte. »Anton hätte dich nie zur Prostitution gezwungen. Deine Schuld abwälzen auf ihn – Schande. Geh! Las mich allein!«

Tanja ging ohne ein Wort des Abschiedes. Die Frau am Fenster brach zusammen, versengte ihren Kopf zwischen ihre Knie und schluchzte.

Tanja japste, rang nach Luft, zerrte an ihrem weißen rotgepunkteten Kleid. Sogar dieses schnürte sie ein, obwohl Aishe kräftiger um die Taille. Sie senkte den Kopf, drehte den weinroten Pumps auf seinem Absatz, ihr Fuß quoll heraus. Nichts passte ihr mehr. Bald sähe sie wie das Michelin-Männchen aus, dabei war sie bei ihrer ersten Schwangerschaft bis auf ihren Melonenbauch schlank geblieben. Sie lehnte sich mit dem Rücken an einen Pfeiler, welcher mit seinen Kumpeln das Dach der S-Bahn-Station trug. Mit zitternden Fingern öffnetet sie ihre weiße Handtasche, ohne diese von ihrer Armbeuge zu nehmen und fischte die vergilbte Visitenkarte heraus.
»Joos van Düwen Chief Inspector ...«, murmelte sie, drückte ihre rechte Hand auf Mund und Nase. Ein Brechreiz überkam sie. Sie würgte, beugte sich zur Seite und spie ihr Abendessen auf die gezackten Pflastersteine. Zum Glück war sie allein.
All die Jahre hatte jeder sie als verrückt hingestellt. Die Geiselnahme für einen dummen Mädchenstreich gehalten, obwohl?
Tränen quollen aus ihren Augen, rannen über ihre mit Rouge bedeckte Wangen.
Ob dieser Joos van Düwen, dieser verrückte aber ehrliche Kerl, das Schwein war, die Gestalt, welche sie verfolgte, konnte sie nicht beweisen. Der Schlüssel war er, dem war sie sicher.
Das Fahrlicht der heranrasenden S-Bahn erhellte den Bahnsteig.
Sie steckte die Visitenkarte in ihre Handtasche. »Ich habe ihn!«, schrie sie der Bahn entgegen und presste ihren Rock, den der Fahrwind lüpfte, gegen ihre Oberschenkel, warf ihren Kopf zurück und stöckelte zum haltenden Zug.

weiter zum nächsten Teil 67. Flucht über die Nordsee
 



 
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