Flucht über die Nordsee 69. Seemannsgrab

ahorn

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Liebe molly,
danke für deine Berichtigungen.

Sie zog an der Pfeife, zündete den Knaster an und blies den nach Kirsche und Tannennadeln riechenden Rauch in Richtung der Kinder.!!!
Muss sie nicht erst anzünden, bevor sie an der Pfeife zieht?
Ich gebe dir recht. Ich habe das KOMMA und das "und" vertauscht. ;)

Sie zog an der Pfeife und zündete den Knaster an, blies den nach Kirsche und Tannennadeln riechenden Rauch den Kinder entgegen.

Liebe Grüße
Ahorn
 

ahorn

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69. Seemannsgrab

Es war ein Riese, nein, eine Riesin schrie Toni an. Eine Frau hoch gewachsen, kantiges, faltiges Gesicht. Ihr Oberkörper eingehüllt in eine tiefschwarze Wachsjacke, die eine durchschnittliche Frau als Mantel trug. Ein anthrazitfarbener Filzhut, wie von einem Schäfer, bedeckte ihr schulterlanges, zerzaustes steingraues Haar.
Ihren wuchtigen Körper stütze sie auf einen Krückstock ab, der von einem Künstler bearbeitet sein früheres Leben als Treibholz verbrachte. An den Fingern ihrer linken Pranke baumelte ein Weidenkorb.
Nur ihr bodenlanger, schwerer mausgrauer Popelinerock und der fehlende Vollbart trennten ihr Aussehen von Rübezahl.

Tami schälte ihren Kopf aus dem Schlafsack, klopfte auf Tonis Nachtlager. »Warum stehst du in der Nacht auf und schreist!«, schnaufte sie und schob die Nase zurück in den Sack.
Die derbe Alte fuchtelte mit ihrem Stock. »Raus!«, befahl sie und trat auf die Glut des Abends. »Feuer hab ihr gemacht! Offenes Feuer ist verboten!«
Mit geschlossenen Augen kroch Tami aus ihrer Schlafstätte. Toni atmete auf. Zum Glück hatte sie den dicken Norweger anbehalten und ihre Socken im Schritt. Toni zupfte an seinem Ohrläppchen. Warum erfreute ihn Besagtes?

Die Krücke der Frau zeigte auf sein Boot. »Ihr Bengel hab die Jolle geklaut und euch hier versteckt was!«, bellte sie, ihre finsteren Augen zusammengezogen, Tami an.
Toni überkreuzte die Arme, legte die Finger auf sein Schlüsselbein. »Wir haben das Boot nicht gestohlen. Sophia gehört mir!«
»Ja!«, druckste Tami.
»Wollt ihr eine alte Frau belügen!«
»Wir kommen von ...«, stotterte Tami.
»Juist«, vervollständigte er ihren Satz. »Haben die Tide unterschätz und ...«
»Seit aufgelaufen. Ihr Diebe!«, komplettierte die Alte mit ihrer Logik.
Die rechte Faust geballt, stampfte Toni mit den linken Fuß ins Dünengrass. »Ich bin kein Verbrecher. Die Sophia gehört mir, mir. Mir!«, kreischte er.

Die Riesin stellte den Weidenkorb ab, hinkte zum Fensterladen.
Tami sprang an Tonis Seite. »Wo warst du?«, flüsterte sie, ihre Stimme vibrierte.
»Pinkeln!«
Mit einem Ellenbogen schlug die Frau gegen den Riegel, nahm die Sperre vom Laden, öffnete den Holzschutz und lächelte. »Kommt ihr Lausbuben! Frühstücken!«

Die Vogelwarte war kaum größer als ein Bauwagen. Am Fenster ein Klapptisch umringt von zwei klapprigen Stühlen, einen Hocker. Ein Regal mit Akten an der einen Stirnseite, eine Liege an der anderen. Dem Fenster gegenüber ein Schreibtisch mit Bürostuhl, links daneben eine Art Miniküche In der Ecke zwischen Küche und Klappliege befand sich ein Kanonenofen.
Die Grauhaarige schritt, ihr linkes Bein nachziehend, zum Bürotisch stellte den Korb ab, warf ein Handtuch über eine museumsreife, mechanische Schreibmaschine. »Tee?«
»Welchen?«, brummelte Tami, zog ihre Schultern zusammen und überschlug die Hände vorm Schritt.
Die Frau schleuderte wie ein junges Mädchen ihren Filzhut auf die Liege, fischte eine Brille und eine Packung aus dem Korb, setzte sie auf ihre kantige, schrumplige Nase. »Malve-Apfel«, grummelte sie und wies zum Tisch. »Hinsetzten!«, kommandierte sie und legte die Sehhilfe ab.

Tami nahm auf dem Stuhl, nahe dem Ausgang platzt, Toni hockte sich auf den Hocker und schielte sie über die Schulter an.
Die Alte füllte einen Kessel und stellte ihn auf den Gaskocher. Langsam ging sie zum freien Sitzplatz und setzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht hin.

Die Alte befüllte einen Kessel, stellte ihn auf einen zweiflammigen Gaskocher. Sie ergriff eine Pfeife, die neben einer Blumenvase mit vertrocknetet Wildblumen lag. Das Gesicht auf die beiden Jugendlichen gerichtete, klopfte sie die Tabakspfeife in einen einem Aschenbecher aus, stopfte aus einer Dose Tabak hinein, steckte sie zwischen ihre verdorrten Lippen. Sie zog an der Pfeife und zündete den Knaster an, blies den nach Kirsche und Tannennadeln riechenden Rauch den Kindern entgegen.
Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme, ohne ihre Rechte vom Pfeifenkopf zu lassen. »So mee Deerns! Was macht ihr wirklich hier?«

»Wir sind keine Mädchen«, zeterten die Ausreißer unisono.
Eine blaue Wolke aus ihren Mund blasend, zog sie Toni die Mütze vom Schopf. Das sandblonde Haar segelte auf seine Schultern.
»Er ist ein Junge!«, stand Tami ihm bei.

»Egal!«, donnerte die Alte. »Ich bin bei abfließenden Wasser rüber. Einkäufe! Bin im Klabautermann versackt.« Ihre Pupillen flirrten. »Kein vernünftiger Segler fährt dann auf dieser Inselseite dicht an Memmertsand vorbei. Es sei denn ...« Sie fixierte Tami, Toni. »Er ist Pirat.« Die Stirn in Falten zog sie an der Pfeife. »Schmuggler!«

Wie nach dem Ziehen des Stöpsels in der Badewanne sprudelten die Worte über Tamis Lippen. Sie erzählte die Geschichte ihrer Fahrt. Toni verschloss die Lider vor Angst, sie berichtete mehr, als ihm lieb war.
Die Frau zog an ihrer Pfeife, verdrehte die Augen, bis der Wasserkessel pfeifend Tonis Redeschwall unterbrach.

»Ich bin die Elisabeth«, sagte die Alte und klopfte auf den Tisch. »Meine Freunde nennen mich Else.
Tami wies auf Toni. »Thorben,« dann auf ihr Brustbein, »Tami.«
Else beugte ihren Oberkörper vor. »Deck den Tisch!«. Sie zeigte auf den Küchenschrank. »Teller, Besteck. Aufschnitt, Marmelade und Rundstücke im Korb und gieß den Tee auf. Das Gepfeife macht mich wirr.«
»Warum ich?«
»Weil du ein Mädchen bist!« Else wandte sich Toni zu. »Und wir alten Seebären uns ungestört unterhalten wollen.«
Das Wort Seebär ging Toni runter wie Öl. Die Alte wurde ihm sympathisch.

»Reife Leistung«, lobte Else und ergriff Tonis Hand. »Erst recht für einen Jungen mit solch zarten, kleinen Fingern.«
Er zog die Hand aus ihrer Umklammerung. »Danke!«

»Hatte früher eine Hanse-Jolle«, schwärmte Else. »Stolzes Boot. Bei wenig Wind behäbig. Aber!«. Sie hob den Zeigefinger. »Bei harten Steam: wendig, schnell, fast giftig!« Sie blickte aus dem Fenster. »Hab sie an einen alten Freund verhökert.« Tief einatmend, klopfte sie auf ihr linkes Bein. »Rheuma. Es ist nicht erquicklich, alt zu werde.«

Den Kopf in den Nacken werfend, schleuderte Tami die Teller auf den Klapptisch.
»Sie kommen aus Hamburg?«, versuchte Toni von der Peinlichkeit, dass seine Freundin den Tisch deckte, abzulenken.
»Du«, zischte Elisabeth. »Seeleute duzen sich.«
»Du kommst aus Hamburg?«, berichtigte er.
»Aus was schlussfolgerst du das?«
»Rundstücke!«
Else lächelte. »Du bist ein aufmerksames Kerlchen.«
»Was machst du dann hier«, warf Tami ein und die Lebensmittel auf den Tisch.
»Ausspannen! Wie sagt ihr heutzutage: Chillen. Auf den Tod vorbereiten.«

»Wie!«, riefen die Kinder.
Else winkte ab. »Der Trubel der Stadt, die neureichen hochnäsigen Nachbarn gehen mir auf die Nerven.« Sie strich über ihr Gesicht. »Wist ihr Kinder! Ich wollte wie ihr von zuhause ausbüchsen.«

Sie war in Tonis, Tamis Alter, begann sie ihre Erzählung. Elisabeth war, wie man früher sagte das Nesthäkchen. Ihre älteste Schwester verheiratet, die andere an Typhus verstorben. Ihr Bruder lebte zu dieser Zeit bei ihnen. Ein ausgezeichneter Segler, wie sie schwärmte. An der Olympiade 1936 hätte er es fast auf das Treppchen geschafft. Er erzählte ihr von seinen Segeltörnen. In ihren Gedanken segelte sie mit, nahm den Nachbarsjungen mit auf ihre Reise. In ihrem gemeinsamen Versteck brachten sie die Fantasien zu Papier. Sie schrieb. Er zeichnete die Landschaften, die Inseln, die Schiffe. Eines Tages berichtete ihr Freund, dass seine Eltern und er wegzogen.

»Wir sind getürmt«, murmelte sie.
Tami beugte sich über den Tisch. »Hab ihr es geschafft?«
Else schüttelte, den Mund zu einem Lächeln verzogen, den Kopf. »Nein! Auf Neuwerk war Schluss.«
»Wieso?«, fragte Toni.
»Die Ascheimermänner haben uns gefangen.«
»Ascheimermänner?«, wiederholten die Kinder.
Else lächelte. »Meine Mutter nannte die von der SA so, weil sie in ihren braunen Uniformen aussahen wie die Männer, die die Ascheimer leerten.«
»Dein Bruder war stolz auf dich?«, wollte Toni wissen.

»Glaube! Oft hat er uns nicht besucht.« Sie senkte den Blick. »Er hatte sich freiwillig gemeldet. In den Krieg ziehen –« Sie ballte eine Faust. »Das Vaterland verteidigen. Dem Führer folgen, dienen.« Die Hand an der Stirn, schloss sie die Lider. »Ich habe ihn nie wieder gesehen. Ich weiß nicht einmal, wo sein Grab ist.«
Tränen kullerten aus ihren Augen. Sie nahm ein Taschentuch, tupfte sich die Trauer ab.
»War er nicht bei der Marine. Ich meine als Segler?«, harkte Tami nach.
Else grinste. »Natürlich! Bei den ganz Verwegenen in einer Sardinenbüchse«, schnaufte sie. »Bis zum Kaleun hatte er sich hochsalutiert.«
Tami Stirn faltete sich. »Kaleun?«
Toni verdrehte die Augen. »Der Kapitän auf einem U-Boot«, zischte er.

Der Krieg fast vorbei, fuhr Else mit ihrer Geschichte fort. Eine Ehre war es für ihn gewesen, wie sie es aus seinem letzten Brief erfahren hatte, die Errungenschaften des Reiches vor den Untermenschen in Sicherheit zu bringen.
Elisabeth schlug auf den Tisch. »Quatsch. Irgendwelche Nasis wollten sich und ihre Beute ...«, schrie sie. »Es war nicht das einzige U-Boot, was am Ende des Krieges auslief« – »Irgendwo im Atlantik soll geschen sein.« Sie fasste an ihre Nase. »Manchmal hoffe ich, dass er geschafft hat. In Argentinien oder Bolivien lebt eine große Familie um sich gescharrt. Wenn ich ihm nur ein Seemannsbegräbnis schenken könnte.«

Toni vermochte nicht mehr seine Gefühle zu verstecken. Else gab ihn ein Taschentuch, mit dem er die Tränen abtupft. Sogar Tami wischte sich mit dem Ärmel des Pullovers die Wangen trocken.
»Aber er hat doch ein Seemanns ...«
Die Augen tupfend, stieß Toni ihr seinen Ellenbogen in die Seite. »Seeleute werden dem Meer übergeben und nicht verschlugt«, zischelte er.

»Jetzt siehst du aus wie ein richtiger Junge«, frohlockte Else und legte die Schere beiseite. »Na ja. Ich finde Buben mit langen Schopf verwegener, wie Piraten. Hättest dir die Haare nicht abschneiden müssen.« Sie wandte sich Toni zu. »Und nun zu dir!«
Er umfasste seine Pracht. »Die Bleiben wie sie sind«, zickte er.
Elisabeth klatschte in die Hände. »Bleibt bis morgen!«

Für Toni klang es verlockend, gerne hätte er ihr zugehört. Ihre Geschichten, wie die von seinem Großvater. Die Ähnlichkeit! Bei ihm hörten sich die Schilderungen wie Märchen an. Fantastische Legenden gesponnen aus Seemannsgarn. Bei ihr? Nein! Er hatte keine Zeit zu verlieren, sich vorgenommen Tami abzuliefern und sein Ziel anzusteuern, egal wie lange es dauerte.

Else strich über Tamis Schulter. »Zieh den Pullover aus! Er ist voller Haare!«
Die Freundin fasste an den Saum, zog den Norweger über ihren Kopf, und Elses Hand bedeckte ihren Mund. »Du bist ja ein Mädchen!«
Tami zog ihre Augenbrauen zusammen. »Na klar! Was dachtest du!«
Die alte Dame blickte von einem Kind zum anderen.


»Hier!« Frithjof hielt Bernadette ihren Zopf entgegen. Tränen rannen über ihre Wangen. »Ey, mit den langen Haaren siehst du aus wie ein Mädchen.«
»Bin ich!«, schniefte sie.
»Wenn dich verstecken willst, musst dich tarnen«, erklärte er. »Oder weinst wegen deiner Eltern. Ich wäre froh, wenn meine weg wären.«
Aus ihrem Wimmern wurde Heulen. Er nahm sie in die Arme. »Entschuldige! Deswegen bin ich abgehauen.« Er fischte ein grau-weiß karierte Taschentuch aus seiner Büx und tupfte ihr die Tränen vom Gesicht, wie es früher die Mutter getan hatte.
Sie stieß ihn von sich und steckte die Zunge heraus. »Bleib mir mit dem alten Lappen weg, der ist ecklig.« Sie rieb die letzten Tränen von ihrer Wange. »Was meinst du«, sie wies durch den Raum, »wie lange müssen wir hier ausharren?«
Frithjof beugte sich über den Tisch, der kaum größer als eine ausgebreitete Tageszeitung war und stierte aus dem Fenster. »Bis der Sturm durch und sich das Wetter wieder gelichtet, ein zwei Tage.«

Weiterhin auf dem Hocker sitzend schaute sich Bernadette in der Hütte um, die gerade die Maßen einer Kapitänskajüte besaß und, die dicken Schichten des Staubes bewiesen, seit längerem unbewohnt. Ein Feldbett, ein Kanonenofen in der Ecke und ein klappriger Schreibtisch, dem Fenster gegenüber, waren die einzigen Einrichtungsgegenstände.
Bernadette stand auf, ergriff einen Besen und hielt ihn Frithjof entgegen. »Lass uns klar Schiff machen!«
Er werte ab. »Bin ich etwa ein Mädchen?«
Sie strich durch ihr geschorenes Haar. »Ich etwa?«
»Wie zuhause!«
Sie ergriff einen Putzlappen. »Bist du deshalb von daheim weg, weil du putzen musstest.«
Kopfschüttelnd zeigte er ihr einen Vogel. »Weil mein Alter mich verprügelt hat!«
Bernadette verschloss ihren Mund.
»Als er noch wie alle anderen Arbeit auf der Werft hatte, war er anders. Dann fing er das Saufen an. Grölte, wenn der Führer die Macht ergreift, wird alles besser.«, fuhr Frithjof fort.
»Der Führer?«
»Der Hitler!«
»Kenn ich nicht!«
»Interessiert dich nicht für Politik?«
»Nein!«
Er stampfte mit dem Besen auf. »Sollteste! Seitdem mein Alter mit den braun Uniformierten rumhängt, wurde es noch schlimmer.«
»Du meinst die Ascheimermänner, meine Mutter«, sie senkte ihr Haupt, »sagte immer die vergehen wieder.«

Der Staub wirbelte am Besen auf. »Dann ist meine Schwester mit einem Schauspieler nach England. Musst wissen, sie ist Tänzerin. Ich sollte bei der Hitlerjungen mitmachen. Er wollte beweisen, das wir anständige Deutsche.«
Sie runzelte die Stirn. »Weil deine Schwester mit einem Schauspieler abgehauen ist.«
»Er ist Jude!«
Bernadette zog ihren Mundwinkel herauf. »Und?«
»Weist wirklich nichts«, schnaufte er. »Die Juden sind Volksfeinde!«
Sie tippte an ihre Schläfe. »Meine Eltern haben« – »hatten mehrere gute Freunde jüdischen Glaubens.«
»Rate mal warum ich zu meiner Schwester will?«


Tami legte ihre Hand auf Tonis Schultern und reichte ihm ein Glas Wasser. »Das die Else mich für einen ...« Sie schüttelte sich, verzog das Gesicht, als verschluckte sie einen Frosch. »Dich für ein Mädchen?«
Toni zuckte mit den Achseln. »Matrose nicht sabbeln, ab zur Fock«, befahl er. »Wir ankern vor Schiermonnikoog!«
Sie schaute in den Himmel. »Ist hell. Warum ankern?«
Kopfschüttelnd, wies er zum Horizont. »Das Wetter gefällt mir nicht. Außerdem schaffen wir es heute eh nicht mehr ans Ziel. Morgen haben wir einen ganzen Seetag.«

Der Sturm hatte sich über nacht gelegt und die Ausreißer hissten früh die Segel. Die See rau, der Wind stramm. Toni fror. Mehrmals hatte er Tami gebeten, ihm einen Pullover zu geben. Sie verkroch sich in der Kajüte.
»Tami«, schrie er. »Mir ist kalt!«
Seine nassen Finger umgriffen das Ruder, hielten das Seil.
Die Kajütentür flog auf. Sie sprang, ihren Mund verdeckt, hervor, warf ihm den Rucksack zu.
Ob er das Kommando ‚klar zur Halse‘ gegeben hatte, wusste er nicht mehr. Wie in Zeitlupe schwebte der Sack an ihm vorbei. Tami trat aufs Deck, Sein rechter Arm drückte das Ruder, die linke Hand gab das Sicherungsseil frei. Er schrie. Der Baum schwang backbord. Die Sophia neigte sich und Tami verschwand.



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Seemannsgrab
Es war ein Riese. Nein! Eine Riesin schrie Toni an. Eine Frau mannshoch gewachsen mit kantigen, faltigen Gesicht. Ihren in eine tiefschwarze Wachsjacke, die eine durchschnittliche Frau als Mantel trug, eingehüllten Oberkörper, stützte sie mit einem Stock ab. Einem Krückstock, der von einem Künstler bearbeitet war, indessen sein früheres Leben als Treibholz nicht verleugnete. Auf ihren Schädel thronte ein breitkrempiger anthrazitfarbener Filzhut, wie der eines Schäfers. Dieser bedeckte ihr schulterlanges, zerzaustes steingraues Haar.
Schier ihr bodenlanger, mausgrauer Popelinerock, der fehlende Vollbart, sowie, der an ihrer linken Pranke baumelnde Weidenkorb, trennten ihr Aussehen von Rübezahl.

Tami schälte ihren Kopf aus dem Schlafsack, klopfte auf Tonis Nachtlager. »Warum stehst du in der Nacht auf und schreist!«, erboste sie sich und schob die Nase zurück in den Sack.
Die derbe Alte fuchtelte mit ihrem Stock. »Raus!«, befahl sie und trat auf die Glut des Abends. »Feuer hab ihr gemacht! Offenes Feuer ist verboten!«
Mit geschlossenen Augen kroch Tami aus ihrer Schlafstätte. Toni atmete auf. Zum Glück hatte sie den dicken Norweger anbehalten und ihre Socken im Schritt. Toni zupfte an seinem Ohrläppchen. Warum erfreute ihn Besagtes?

Die Krücke der Frau zeigte auf sein Boot. »Ihr Bengel hab die Jolle geklaut und euch hier versteckt was!«, bellte sie, ihre finsteren Augen zusammengezogen, Tami an.
Toni überkreuzte die Arme, legte die Finger auf sein Schlüsselbein. »Wir haben das Boot nicht gestohlen. Sophia gehört mir!«
»Ja!«, druckste Tami.
»Wollt ihr eine alte Frau belügen!«
»Wir kommen von ...«, stotterte Tami.
»Juist«, vervollständigte Toni ihren Satz. »Haben die Tide unterschätz und ...«
»Seit aufgelaufen. Ihr Diebe!«, komplettierte die Alte mit ihrer Logik.
Die rechte Faust geballt, stampfte Toni mit den linken Fuß ins Dünengrass. »Ich bin kein Verbrecher. Die Sophia gehört mir, mir. Mir!«, kreischte er.

Die Riesin stellte den Weidenkorb ab, hinkte zum Fensterladen.
Tami sprang an Tonis Seite. »Wo warst du?«, flüsterte sie.
»Pinkeln!«
Mit einem Ellenbogen schlug die Frau gegen den Riegel, nahm die Sperre vom Laden, öffnete den Holzschutz und lächelte. »Kommt ihr Lausbuben! Frühstücken!«

Die Vogelwarte war kaum größer als ein Bauwagen. Am Fenster stand ein Klapptisch umringt von zwei klapprigen Stühlen, einen Hocker. Ein Regal mit Akten lehnte an der einen Stirnseite, eine Liege an der anderen. Dem Fenster gegenüber weilte ein Schreibtisch mit Bürostuhl, links daneben eine Art Miniküche. In der Ecke zwischen Küche und Klappliege befand sich ein Kanonenofen.
Die Grauhaarige schritt, zog dabei ihr linkes Bein nach, zum Bürotisch stellte den Korb ab, warf ein Handtuch über eine museumsreife, mechanische Schreibmaschine. »Tee?«
»Welchen?«, brummelte Tami, zog ihre Schultern zusammen und überschlug die Hände vorm Schritt.
Die Frau schleuderte wie ein junges Mädchen ihren Filzhut auf die Liege, fischte eine Brille und eine Schachtel aus dem Korb, setzte sie auf ihre kantige, schrumplige Nase. »Malve-Apfel«, grummelte sie und wies zum Tisch. »Hinsetzten!«, kommandierte sie und legte die Sehhilfe ab.

Tami nahm auf dem Stuhl visavis der Tür platz. Toni hockte sich auf den Hocker und schielte über die Schulter zur Frau.
Die Alte füllte einen Kessel und stellte ihn auf den Gaskocher. Dann hinkte sie zum freien Sitzplatz und setzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht hin.

Sie ergriff eine Pfeife, die neben einer Blumenvase mit vertrocknetet Wildblumen lag. Ihr Gesicht auf die beiden Jugendlichen gerichtete, klopfte sie die Tabakspfeife in einen einem Aschenbecher aus, stopfte aus einer Dose Tabak hinein. Ihren Blick abwechselnd von Tami zu Toni wendend, klemmte sie das Mundstück der Pfeife zwischen ihre verdorrten Lippen. Sie zog an der Pfeife, zündete den Knaster an und blies den nach Kirsche und Tannennadeln riechenden Rauch den Kindern entgegen.
Die Augen geschlossen, lehnte sie sich zurück, verschränkte die Arme, ohne ihre Rechte vom Pfeifenkopf zu lassen. »So mee Deerns! Was macht ihr wirklich hier?«

»Wir sind keine Mädchen«, zeterten die Ausreißer unisono.
Eine blaue Wolke aus ihren Mund blasend, riss sie Toni die Mütze vom Schopf. Das sandblonde Haar segelte auf seine Schultern.
»Er ist ein Junge!«, stand Tami ihm bei.

»Egal!«, donnerte die Alte. »Ich bin bei abfließenden Wasser rüber. Einkäufe! Bin im Klabautermann versackt.« Ihre Pupillen flirrten. »Kein vernünftiger Segler fährt dann auf dieser Inselseite dicht an Memmertsand vorbei. Es sei denn ...« Sie fixierte Tami, sodann Toni. »Er ist Pirat.« Die Stirn in Falten zog sie an der Pfeife. »Schmuggler!«

Wie nach dem Ziehen des Stöpsels in der Badewanne sprudelten die Worte über Tamis Lippen. Sie erzählte die Geschichte ihrer Fahrt. Toni verschloss die Lider vor Angst, sie berichtete mehr, als ihm lieb war.
Die Frau zog erneut an ihrer Pfeife, verdrehte die Augen, bis der Wasserkessel pfiff und dieser Tonis Redeschwall unterbrach.

»Ich bin die Elisabeth«, sagte die Alte und klopfte auf den Tisch.»Meine Freunde nennen mich Else.
Tami wies auf Toni. »Thorben,« dann auf ihr Brustbein, »Tami.«
Else beugte ihren Oberkörper vor. »Deck den Tisch!«. Sie zeigte auf den Küchenschrank. »Teller, Besteck. Aufschnitt, Marmelade und Rundstücke sind im Korb und gieß den Tee auf. Das Gepfeife macht mich wirr.«
»Warum ich?«
»Weil du ein Mädchen bist!« Else wandte sich Toni zu. »Und wir alten Seebären uns ungestört unterhalten wollen.«
Das Wort Seebär ging Toni runter wie Öl. Die Alte wurde ihm sympathisch.

»Reife Leistung«, lobte Else und ergriff Tonis Hand. »Erst recht für einen Jungen mit solch zarten, kleinen Fingern.«
Er zog die Hand aus ihrer Umklammerung. »Danke!«

»Hatte früher eine Hanse-Jolle«, schwärmte Else. »Stolzes Boot. Bei wenig Wind behäbig. Aber!«. Sie hob den Zeigefinger. »Bei harten Steam: wendig, schnell, fast giftig!« Sie blickte aus dem Fenster. »Hab sie an einen alten Freund verhökert.« Else klopfte auf ihr linkes Bein. »Rheuma. Es ist nicht erquicklich, alt zu werde.«

Den Kopf in den Nacken werfend, schleuderte Tami die Teller auf den Klapptisch.
»Sie kommen aus Hamburg?«, versuchte Toni von der Peinlichkeit, dass seine Freundin den Tisch deckte, abzulenken.
»Du«, zischte Elisabeth. »Seeleute duzen sich.«
»Du kommst aus Hamburg?«, berichtigte er.
»Aus was schlussfolgerst du das?«
»Rundstücke!«
Else lächelte. »Du bist ein aufmerksames Kerlchen.«
»Was machst du dann hier«, warf Tami ein und die Lebensmittel auf den Tisch.
»Ausspannen! Wie sagt ihr heutzutage: Chillen. Mich auf den Tod vorbereiten.«

»Wie!«, riefen die Kinder.
Else winkte ab. »Der Trubel der Stadt, die neureichen hochnäsigen Nachbarn gehen mir auf die Nerven.« Sie strich über ihr Gesicht. »Wist ihr Kinder! Ich wollte wie ihr von zuhause ausbüchsen.«

Sie war in Tonis, Tamis Alter, begann sie ihre Erzählung. Elisabeth war, wie man früher sagte das Nesthäkchen. Ihre älteste Schwester verheiratet, die andere an Typhus verstorben. Ihr Bruder lebte zu dieser Zeit bei ihnen. Ein ausgezeichneter Segler, wie sie schwärmte. An der Olympiade 1936 hätte er es fast auf das Treppchen geschafft. Er erzählte ihr von seinen Segeltörnen. In ihren Gedanken segelte sie mit, nahm den Nachbarsjungen mit auf ihre Reise. In ihrem gemeinsamen Versteck brachten sie die Fantasien zu Papier. Sie schrieb. Er zeichnete die Landschaften, die Inseln, die Schiffe. Eines Tages berichtete ihr Freund, dass seine Eltern und er wegzogen.

»Wir sind getürmt«, murmelte Else.
Tami beugte sich über den Tisch. »Hab ihr es geschafft?«
Else schüttelte, den Mund zu einem Lächeln verzogen, den Kopf. »Nein! Auf Neuwerk war Schluss.«
»Wieso?«, fragte Toni.
»Die Ascheimermänner haben uns gefangen.«
»Ascheimermänner?«, wiederholten die Kinder.
Else lächelte abermals. »Meine Mutter nannte die von der SA so, weil sie in ihren braunen Uniformen aussahen wie die Männer, die die Ascheimer leerten.«
»Dein Bruder war stolz auf dich?«, wollte Toni wissen.

»Glaube! Oft hat er uns nicht besucht.« Sie senkte den Blick. »Er hatte sich freiwillig gemeldet. In den Krieg ziehen –« Sie ballte eine Faust. »Das Vaterland verteidigen. Dem Führer folgen, dienen.« Die Hand an der Stirn, schloss sie die Lider. »Ich habe ihn nie wieder gesehen. Ich weiß nicht einmal, wo sein Grab ist.«
Tränen kullerten aus ihren Augen. Sie nahm ein Taschentuch, tupfte sich die Trauer ab.
»War er nicht bei der Marine. Ich meine als Segler?«, harkte Tami nach.
Else grinste. »Natürlich! Bei den ganz Verwegenen in einer Sardinenbüchse«, erzählte sie und blies eine blaue Wolke in den Raum. »Bis zum Kaleun hatte er sich hochsalutiert.«
Tami Stirn faltete sich. »Kaleun?«
Toni verdrehte die Augen. »Der Kapitän auf einem U-Boot«, zischte er.

Der Krieg fast vorbei, fuhr Else mit ihrer Geschichte fort. Eine Ehre war es für ihn gewesen, wie sie es aus seinem letzten Brief erfahren hatte, die Errungenschaften des Reiches vor den Untermenschen in Sicherheit zu bringen.
Elisabeth schlug auf den Tisch. »Quatsch. Irgendwelche Nasis wollten sich und ihre Beute ...«, schrie sie. »Es war nicht das einzige U-Boot, was am Ende des Krieges auslief« – »Irgendwo im Atlantik soll geschen sein.« Sie fasste an ihre Nase. »Manchmal hoffe ich, dass er geschafft hat. In Argentinien oder Bolivien lebt eine große Familie um sich gescharrt. Wenn ich ihm nur ein Seemannsbegräbnis schenken könnte.«

Toni vermochte nicht mehr seine Gefühle zu verstecken. Else gab ihn ein Taschentuch, mit dem er die Tränen abtupft. Sogar Tami wischte sich mit dem Ärmel des Pullovers die Wangen trocken.
»Aber er hat doch ein Seemanns ...«
Toni stieß ihr seinen Ellenbogen in die Seite. »Seeleute werden dem Meer übergeben und nicht verschlugt.«

»Hier!« Frithjof hielt Bernadette ihren Zopf entgegen. Tränen rannen über ihre Wangen. »Ey, mit den langen Haaren siehst du aus wie ein Mädchen.«
»Bin ich!«, schniefte sie.
»Wenn du dich verstecken willst, musst du dich tarnen«, erklärte er. »Oder weinst wegen deiner Eltern. Ich wäre froh, wenn meine weg wären.«
Aus ihrem Wimmern wurde Heulen. Er nahm sie in die Arme. »Entschuldige! Deswegen bin ich abgehauen.« Er fischte ein grau-weiß kariertes Taschentuch aus seiner Büx und tupfte ihr die Tränen vom Gesicht, wie es früher die Mutter getan hatte.
Sie stieß ihn von sich und streckte die Zunge heraus. »Bleib mir mit dem alten Lappen weg, der ist ecklig.« Sie rieb die letzten Tränen von ihrer Wange. »Was meinst du«, sie wies durch den Raum, »wie lange müssen wir hier ausharren?«
Fiete-Frithjof beugte sich über den Tisch, der kaum größer als eine ausgebreitete Tageszeitung war und stierte aus dem Fenster. »Bis der Sturm durch und sich das Wetter wieder gelichtet, ein zwei Tage.«

Weiterhin auf dem Hocker sitzend schaute sich Bernadette in der Hütte um, die gerade die Maßen einer Kapitänskajüte besaß und, die dicken Schichten des Staubes bewiesen, seit längerem unbewohnt war. Ein Feldbett, ein Kanonenofen in der Ecke und ein klappriger Schreibtisch, dem Fenster gegenüber, waren die einzigen Einrichtungsgegenstände.
Bernadette stand auf, ergriff einen Besen und hielt ihn Frithjof entgegen. »Lass uns klar Schiff machen!«
Er werte ab. »Bin ich etwa ein Mädchen?«
Sie strich durch ihr geschorenes Haar. »Ich etwa?«
»Wie zuhause!«
Sie ergriff einen Putzlappen. »Bist du deshalb von daheim weg, weil du putzen musstest.«
Er zeigte ihr einen Vogel. »Weil mein Alter mich verprügelt hat!«
Bernadette verschloss ihren Mund.
»Als er noch wie alle anderen Arbeit auf der Werft hatte, war er anders. Dann fing er das Saufen an. Grölte, wenn der Führer die Macht ergreift, wird alles besser.«, fuhr Frithjof fort.
»Der Führer?«
»Der Hitler!«
»Kenn ich nicht!«
»Interessiert dich nicht für Politik?«
»Nein!«
Er stampfte mit dem Besen auf. »Sollteste! Seitdem mein Alter mit den braun Uniformierten rumhängt, wurde es noch schlimmer.«
»Du meinst die Ascheimermänner, meine Mutter«, sie senkte ihr Haupt, »sagte immer die vergehen wieder.«

Der Staub wirbelte am Besen auf. »Dann ist meine Schwester mit einem Schauspieler nach England. Musst wissen, sie ist Tänzerin. Ich sollte bei der Hitlerjungen mitmachen. Er wollte beweisen, das wir anständige Deutsche sind.«
Sie runzelte die Stirn. »Weil deine Schwester mit einem Schauspieler abgehauen ist.«
»Er ist Jude!«
Bernadette zog ihren Mundwinkel herauf. »Und?«
»Weist wirklich nichts«, schnaufte er. »Die Juden sind Volksfeinde!«
Sie tippte an ihre Schläfe. »Meine Eltern haben« – »hatten mehrere gute Freunde jüdischen Glaubens.«
»Rate mal warum ich zu meiner Schwester will?«


Toni legte das Buch zur Seite, ergriff die Angel, dessen Leine sich straffte. Er drehte an der Kurbel, zerrte an der Angel, bis der Kopf des Fisches die Wasseroberfläche durchstieß. Beide Hände fest am Griff zog Toni den Fisch an Land, schlug daraufhin hinter dessen Kopf, bis er nicht mehr zappelte.
Ein Prachtexemplar war er nicht, aber für ein Abendessen ausreichend. Denn Toni hatte sich vorgenommen, bis Sonnenuntergang zu segeln und erst am Ziel mit Tami eine warme Mahlzeit einzunehmen.
Er verstaute seinen Fang unter Deck, kletterte aus der Kajüte, sprang über die Reling und machte sich auf den Weg zurück zur Vogelwarte.


»Jetzt siehst du aus wie ein richtiger Junge«, frohlockte Else und legte die Schere beiseite. »Na ja. Ich finde Buben mit langen Schopf verwegener, wie Piraten. Hättest dir die Haare nicht abschneiden müssen.« Sie wandte sich Toni zu. »Und nun zu dir!«
Er umfasste seine Pracht. »Die Bleiben wie sie sind«, zickte er.
Elisabeth klatschte in die Hände. »Bleibt bis morgen!«

Für Toni klang es verlockend, gerne hätte er ihr zugehört. Ihre Geschichten, wie die von seinem Großvater. Die Parallelen! Bei ihm hörten sich die Schilderungen wie Märchen an. Fantastische Legenden gesponnen aus Seemannsgarn. Bei ihr? Nein! Er hatte keine Zeit zu verlieren, sich vorgenommen Tami abzuliefern und sein Ziel anzusteuern, egal wie lange es dauerte.

Else strich über Tamis Schulter. »Zieh den Pullover aus! Er ist voller Haare!«
Die Freundin fasste an den Saum, streifte den Norweger über ihren Kopf, und Elses Hand bedeckte ihren Mund. »Du bist ja ein Mädchen!«
Tami zog ihre Augenbrauen zusammen. »Na klar! Was dachtest du!«
Die alte Dame blickte von einem Kind zum anderen.

Tami legte ihre Hand auf Tonis Schultern und reichte ihm ein Glas Wasser. »Das die Else mich für einen ...« Sie schüttelte sich, verzog das Gesicht, als verschluckte sie einen Frosch. »Dich für ein Mädchen?« Sie tippte an ihre Schläfe. »Die Alte war total durchgeknallt, sollte mal lieber zu einem Augenarzt gehen.«
»Über was habt ihr euch unterhalten, als ich angeln war?«
»Durchgeknallt! Spann herum, dass wir ein süßes Paar wären. Ich früh genug lernen solle, dass Frauen ihre Freiheit bräuchten und nie so werden solle, wie die anderen Kerle. Sie hätte ihre Erfahrungen gesammelt.« Tami kicherte. »Wie blöd die Alte geglotzt hat, als sie gesehen hat, dass ich ein Mädchen bin. Ich hatte gedacht, sie platz. Dann ihr blöder Spruch, dass wir Deern aufpassen sollen.« Sie tippte abermals gegen ihre Schläfe. »Du ein Mädchen! Total Blind die Alte.« Erneut kicherte sie. »Obwohl im Röckchen sahst du fast wie ein richtiges Mädchen aus.«
Toni kräuselte die Stirn.
»Hat mir bewiesen«, fuhr Tami fort, »dass du wirklich von deiner Mutter und«, sie stockte im Satz und räusperte sich, »gezwungen wurdes bei Olga die Kleider anzuprobieren. Dich dann geschämt hast und so getan als wärst du eins.« Sie erhob den Zeigefinger und grinste. »Ich bin dir auf die Schliche gekommen. Aber wir sind nur Freunde. Verstehst du!«

Toni zuckte mit den Achseln. »Matrose nicht sabbeln, ab zur Fock«, befahl er. »Wir ankern vor Schiermonnikoog!«
Sie schaute in den Himmel. »Ist hell. Warum ankern?«
Toni wies zum Horizont. »Das Wetter gefällt mir nicht. Außerdem schaffen wir es heute eh nicht mehr ans Ziel. Morgen haben wir einen ganzen Seetag.«

Der Sturm hatte sich über nacht gelegt und die Ausreißer hissten früh die Segel. Die See war rau, der Wind stramm. Toni fror. Mehrmals hatte er Tami gebeten, ihm einen Pullover zu geben. Sie verkroch sich in der Kajüte.
»Tami«, schrie er. »Mir ist kalt!«
Seine nassen Finger umgriffen das Ruder, hielten das Seil.
Die Kajütentür flog auf. Sie sprang, ihren Mund verdeckt, hervor, warf ihm den Rucksack zu.
Ob er das Kommando ‚klar zur Halse‘ gegeben hatte, wusste er nicht mehr. Wie in Zeitlupe schwebte der Sack an ihm vorbei. Tami trat aufs Deck, Sein rechter Arm drückte das Ruder, die linke Hand gab das Sicherungsseil frei. Er schrie. Der Baum schwang backbord. Die Sophia neigte sich und Tami verschwand.


weiter zum nächsten Teil 70. Der Täter fehlt
 



 
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