Flucht über die Nordsee 87. Befreit Alina

ahorn

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Befreit Alina

»Hier steckst du!«, schnaufte Svenja wie ein Marathonläufer nach dem Zieleinlauf und tappte auf Tami zu. »Ich habe dich bereits überall gesucht. Hier kann man sich glatt verlaufen.«
Tami unterbrach das Striegeln. »War kurz ausreiten!«
Svenja blieb im sichereren Abstand vor dem Pferd stehen. »Du reitest?«
»Du nicht?«
Svenja zog ihren rechten Mundwinkel empor. »Ich kann Pferde nicht ausstehen.«
Tami beugte sich herab, nahm eine Bürste aus dem Putzkasten und hielt diese ihrer Freundin unter die Nase. »Komm, hilf mit! Dann bin ich schneller fertig.«
Die Augen aufgerissen, wisch Svenja einen Schritt zurück.
»Mayfair beißt nicht«, winkte sie Svenja heran. »Meine Hose steht dir.«
Svenja sah an sich herab. »Na ja! Vielleicht gewöhne ich mich daran«, keuchte sie. Dann trat sie zögerlich näher und übernahm die Bürste. »Ich wollte dich zum Frühstück holen!«
»Habe bereits in der Gruppe gefrühstückt.« – »Ich bleibe!«
»Wie?«
»Ist toll hier! Die Mädchen sind gut drauf und«, sie hob die Schulter, dabei klopfte sie auf das Ross, »ich kann reiten, eine riesige Schwimmhalle, Sportplätze …«
»Aber?«
Tami winkte ab. »Mit meiner Mutter habe ich gesprochen, die hält mich für verrückt …«
»Äh!«
»Herr van Düwen ist einverstanden. Na ja, der Platz war eh an dich vergeben.« Sie lachte und stieß ihrer Freundin in die Seite.
Tami hob den rechten Zeigefinger.
»Mit Mädchen komme ich zurecht, war ja eh auf einem Mädchengymnasium und die haben hier echt krasse Schicksale. Nicht alle! Laufen auch Normale herum.« Sie biss auf ihre Unterlippe. »Autsch! Meine, welche nicht aus Kriegsgebieten, solche wie du und ich.«
Svenja senkte den Kopf und zupfte an ihrem Ohrläppchen. Sie hatte ebenfalls mit ihrer Mutter Klara telefoniert, obgleich der Gedanke sie Mutter zu nennen sie belaste.
Svenja hatte Klara vorgeschlagen, bei ihrer Mutter zu leben, sowie auf Tamis Schule zu wechseln. Die Idee erbaute Klara kaum, aber sie versicherte, mit ihrer Mutter zu sprechen. Sie versprach Svenja, dass sie am Nachmittag bei den Düwens ankäme, dann könnten sie über alles, wobei sie alles betonnte, reden.
Bevor sie das Telefonat beendet hatte, erzählte ihr Klara sachlich, als gehe es ihr nichts an, dass Karl sie benachrichtigt hätte, Bärbel sei im Krankenhaus verstorben.
Keine Trauer keimte in ihr, Svenja auf, derart fremd war die Tante ihr geworden.

»Außerdem kann ich ein Jahr eher mein Abitur bauen. Richtig international und so.«

Svenja verkniff sich Tamis Euphorie, durch ihre Pläne zu bremsen. »Dein Freund?«
»Ach der. Der findet eine andere – Männer halt. Wollte eh im Herbst in Leipzig studieren.«
Svenja legte die Bürste zurück. »Ich geh dann erst mal Frühstück«, murmelte sie und wandte sich ab.
»Wir sehen uns später«, rief Tami ihr hinterher, dabei kraulte sie die Mähne des Pferdes.

Svenja stöberte. Wie ein Museum war Seraphine Zimmer. Als wäre die Zeit stehen geblieben, mit ihrem Tod eingefroren, ihre Puppen, ihre Teddybären standen in Reihe und Glied auf einem Regal. Ihre Schulbücher, ihre Schreibutensilien ruhten geordnet auf dem Schreibtisch. Die Poster von Agnetha, Frida, Benny sowie Björn hingen, überragt von einem Banner mit der Aufschrift ABBA an der Wand. Die Bravo-Hefte vor dem Bett, in denen Svenja in der Nacht geschmökerte hatte, deren Texte abwichen von dem, was sie in modernen Mädchenzeitschrift gelesen hatte, obwohl die Naivität, der Botschaften sich glichen. Keine Frage, ob oder wie sie ihren Freund Oral befriedigen solle, beziehungsweise ein Zungenpiercing die Lust steigerte, dafür die erflehend Frage, ob ein Girl von einem Zungenkuss schwanger wurde.

Zum Schlafen kam sie eh nicht. Dass Nahne gern Seemannsgarn spann, kannte sie, aber er seine Geschichten aufgeschrieben und unter einem Pseudonym veröffentlichte hatte, verwunderten sie. Dann las er ihr, Svenja die Abenteuer von Thorben Raubein vor. Die war für sie zu viel des Guten.
Sie grübelte darüber nach, was alles aus seiner Feder stammte. Ihr Smartphone konnte ihr nicht weiterhelfen, der Akku war leer und das Netzteil ruhte auf der Sophia.
Prinzessin Shila war ein Kandidat für sie. Immer wieder las er ihr die Abenteuer vor. War nicht in jeder Seemansgeschichte ein wahrer Kern.
Allein bei dem Gedanken daran lief ihr ein Schauer über den Rücken. Der Admiral Gerana und sie Shila, welche die Tante und Mutter besiegt hatte.

Mehr als die Gedanken an Nahne quälten Svenja die dauernden Überschneidungen ihrer Vita und ihren Nächsten mit dem Haus van Düwen.

Nachdem Joos fluchtartig das Esszimmer verlassen hatte, klärte Svenja Herrn van Düwen auf, wer sie in Wirklichkeit war. Kein Wort des Zorns kam über seine Lippen, sondern nur ein kindliches Schmunzeln, begleitet von einem Streicheln über Tamis Wange.
Ihre Freundin sengte daraufhin verschämt ihr Gesicht, erklärte Svenja, dass sie nicht das erste Mal auf dem Anwesen war. Nie hätte sie Svenja in ein fremdes Haus geführt. Mit ihrer Mutter war sie gelegentlich hier gewesen, sie war meist bei den Pferden, den Olgas Interesse waren beruflicher Natur.
Aaron van Düwen erzählte, dass Maria Olgas Freundin vor grauer Zeit eine Liaison, wie er es bezeichnete, mit seinem Sohn Joos hatte. Dieser Bund war nicht auf Dauer. Nach seinen Worten war Joos verbissen der Ansicht, dass Klara seine Tochter war.
Erstaunen zeigte sich in seinem Gesicht, nachdem Svenja ihm berichtete, wer der Vater ihrer Mutter war.

Svenja streifte sich ein luftiges kurzes Sommerkleid über, dessen Farbenfreude den Schuluniformen nahestand, schlang einen handbreiten Ledergürtel um ihre Taille, setzte sich auf das Bett und schlüpfte in die Sandaletten der ehemaligen Bewohnerin.
Herr van Düwen hatte es ihr gestattet, die Kleider seiner Tochter zu tragen. Er hatte sie, Svenja in ihrem Festtagsgewand am gestrigen Abend mit einer Träne im Auge begrüßt.
Sie storchte zum Schreibtisch, verfluchte kurz die Wahl der Schuhe. Mit hochhackigen Festtagsschuhen zu schreiten gelang ihr, aber auf Konservendosen ähnlichen Plateausohlen, eine passable Figur abzugeben, etwas anders.
Es war die Mode der Zeit, in der Seraphine mit dreizehn Jahren die Welt verließ, wie Nicolette ihr gesagt hatte.

Svenja legte eine Kassette in den Walkman, welchen sie jungfräulich verpackt gefunden hatte, ein Gerät, das Seraphine nie gesehen hatte.
Sie fasste an ihr Ohrläbchen, öffnete erneut den Kleiderschrank, zupfte an ihrer Nase. Der gesamte Inhalt typisch Mode Ende der siebziger. Sie schritt zum Bett, durchwühlte die Mädchenzeitungen, studierte die Erscheinungsjahre. Datumsangaben der Siebziger, Achtziger, Neunziger des vergangenen, sowie welche des jetzigen Jahrtausends erblickte sie. Ein weiteres Mal erforschte sie die Musikkassetten Modern Talking ebenso Robbie Williams las sie.
Sie zuckte mit den Schultern und nahm sich vor dieses Paradoxon später mit Tami zu besprechen.

Das historische Abspielgerät, für das sie am Abend Batterien gesucht hatte, klickte sie an den Gürtel, klemmte den Kopfhörer über ihren Kopf und drückte die Starttaste.
»Dancing Queen. Feel the beat from the tambourine«, sang sie den Titel mit, tapste in den Flur, tänzelte anschließend in die Küche, in der das Frühstück seit geraumer Zeit auf sie wartete.

Svenja biss in ihr Marmeladenbrötchen, sang die Evergreens, welche sie aus dem Radio kannte mit und Glück umspülte sie. Die vielen widersprüchlichen Nachrichten, die sie in den letzten Monaten empfangen hatte, verblassten.
Es kam ihr vor, als säße sie nicht das erste Mal an diesem Küchentisch. Der Geist der Villa hatte sie mitgenommen auf eine Reise, eine Exkursion in die Vergangenheit.
Nicht ihre, dies war ihr bewusst. Es war die Aura von Seraphine, welche von ihr besitz nahm, sie umschlag, in sie eindrang.
Die Worte ihrer Freundin, hier an diesem Ort, die nächsten Jahre zu wohnen, klangen in ihr wieder. Hatte Klara nicht jahrelang die Realität einer anderen geführt. War zu ihr geworden?
Was sprach dagegen, wenn sie losließ und sich zu Seraphine verwandelte. Es war ihr Leben, ein Dasein voller Lügen.
Was ging ihr der Admiral an, egal wer sie einmal war. Die Schwester, die ihr, Svenja verschwieg, dass sie ihre Mutter war. Ein Erzeuger, welcher aus dem Nichts aufgetaucht war, dann von ihr Besitz ergriffen hatte.
Herr van Düwen würde sie schätzen, begreifen, denn sie beide hatten etwas Gemeinsames. Keine lebenden Vorfahren begleiteten sie.


Schatten flogen an der geöffneten Küchentür vorbei, spiegelten sich an den Küchenfenstern. Svenja schaute über die Schulter, nahm den Kopfhörer ab.
Stimmengewirr schlug ihr entgegen. Sie stand auf, schritt in den Flur. Die Stimmen drangen aus der Bibliothek.

Svenja verdeckte ihren Mund. »Herr van Düwen!«
Der alte Mann saß, lag im linken Klubsessel, ein Arzt gab ihm eine Spritze und zwei Sanitäter bereiteten eine Trage vor.
Nicolette kniete vor ihm und hielt seine Hand. »Sie haben sich zu sehr aufgeregt«, murmelte sie, wandte ihre Gesicht Svenja zu und sah sie unversöhnlich an.
Svenja schlich näher.
Nachdem Aaron van Düwen sie erkannte, winkte er sie zu sich. »Seraphine!«
Sie kniete sich zu seinen Füßen nieder, Nicolette zu ihrer Rechten, der Arzt über den Alten gebeugt.
»Ein Herzanfall«, zischte Nicolette.
Svenja schaute zu van Düwen herauf. »Ich heiße Svenja!«
»Ich bin nicht senil«, flüsterte er, dabei hechelte er nach Luft. »Du gleichst ihr nur so.« Er überreichte ihr einen Briefumschlag. »Habe ich gefunden! Ganze Nacht gesucht!«, stöhnte er.
Svenja faltete den Umschlag. »Sie müssen wieder gesund werden«, flüsterte sie und steckte den Umschlag hinter ihren Gürtel.
»Wie damals!«, ächzte van Düwen. »Alina entführt!«

weiter zum nächsten Teil 88. High Noon mit dem Marshall
 
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