Flucht über die Nordsee 96. Flug über die Nordsee

ahorn

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(See)Wolf

Wie überheblich war er, arrogant und eingebildet von sich. Weil er nie gelernt hatte, für sich selbst zu sorgen, mit dem berühmten goldenen Löffel aufgewachsen war, meinte er, über andere zu richten. Dabei waren seine Stunden gezählt. Die Todesuhr tickte längst, als er hinter ihr stand, wie ein Gong zum Start den Spaten sausen ließ.
Bloß und dieses verzieh er sich nicht in diesem Moment, als er das Blut auf seinem Hemd, den Schmerz in seinem Leib verspürte, hatte er nicht abgedrückt, nachdem Joos aus seinem Loch gekrochen war.

Er legte seine Hand auf Joos Schulter und flüsterte: „Ich war immer der Ansicht, du seist ein redlicher Mensch. Wie ich mich in dir getäuscht habe. Eine Bestie bist du. Erst an dem Nachmittag in Lesotho ging mir das erste Licht auf. Stets warst du am Ort des Verbrechens.“
Denn ihn, welchen er für seinen Freund gehalten hatte, war eine Bestie. Auch diesmal kam er wieder zu spät.
Dabei war er sich sicher gewesen, ihn vor seiner Tat dingfest zu machen. Anton hätte schwören können, dass Joos es auf Antonia abgesehen hatte. Auf die Kleine, die bei Bärbel lebte, nicht auf Klaras Schwester. Bereits an dem Tag, als sie seine Schulter zertrümmerte, hätte er erwachen müssen. Das Opfer hatte sich mit dem Täter verbündet.
Joos öffnete den Mund zum Sprechen.
„Sag mir jetzt nicht, um eure Spielzeugkiste zu holen. Was wolltest du mit einer leeren Kiste?“
Wie er darauf kam, wusste er nicht. Vielleicht, weil er gerade an diesen Tag gedacht hatte.

Anton atmete durch. Er beobachtete, erzählte Joos, wie dieser die Kiste unter seiner Veranda versteckte hatte. Mit dem Krankenwagen hätte er sie nach Südafrika geschmuggelt, vermutete er. Joos antwortete mit einem Nicken. Er brach sie auf. Allein eine alte Spieluhr, verbeult, lag in ihr. In der Spieluhr ein Zettel, auf dem mit kindlichem Geschick eine Fratze gekritzelt war, welche die Zunge herausstreckte.
„Was klaust du meine Diamanten?“
Gleichwohl Anton das Lachen Schmerzen bereitete, hallte dieses in der Scheune wieder.
„Die Rohdiamanten hatte ich einem Typen in Namibia abgenommen“, erboste sich Joos.
„Erzähl das, wen du willst, aber nicht mir. Ich sage dir die Wahrheit. Josephine oder du, wer weiß, wer von euch, du weißt es besser. Jedenfalls einer von euch hat Jannette bei deinem Vater entdeckt. Ihr hattet eine Spur.“
Joos zuckte mit den Achseln. „Welche Spur? Mir war es bekannt, dass die Kinder bei euch waren.“
„Kinder? Als du den Krankenwagen verschenkt hast, war Jannette in Belgien. Woher wusstest du, wann sie entbinden?“
Joos zog seine Augenbrauen zusammen. „Keine Ahnung. Ich wusste nicht einmal das. Außerdem hatte sie noch gar nicht entbunden. Sie war hochschwanger.“
„Lüge mich nicht an.“

Joos zeigte Anton einen Vogel. „Ich erkenne doch, wenn eine Frau schwanger ist. Außerdem erzählte sie, dass du ihre Mutter verlassen hättest. Ich erinnere mich heute noch an jedes Wort. Sie hätte den Kühler repariert, das Kind nicht gewollte und die Schatulle erkannte.“
„Den Kühler hatte er repariert. Ich hatte ihn einmal geholt, ihm war langweilig. Er war genauso geschickt wie Klara.“ Er biss auf seine Unterlippe. „Das mit der Mutter? Ich hatte etwas mit ihr, wusste damals nichts. Lenke nicht von deinen Taten ab. Du hast meine Schrotflinte geladen und neben die Tür gestellt. Wissentlich zur Tat getrieben hast du sie, im vollen Bewusstsein, dass sie nie wieder aus dem Gefängnis kommt …“
„Deshalb habe ich sie zu Doc gebracht“, schnarrte Joos in an.
„Damit man sie dort hops nimmt. Du hattest noch einen Vorteil, konntest gleich die nächsten Zeugen erledigen. Unfall? Außer dir ist niemand weggekommen. Blöd für dich. Einer hat überlebt.“
„Du bist verrückt. Warum?“
„Habe dir vorhin gesagt, dass die Sache im Bunker kein Spiel war. Woher hast du sonst gewusst, wo sie ist, wenn du nicht der Täter und dann sie noch … du widerst mich an.“
Joos schüttelte den Kopf. „Weshalb dort, fragst du? Carel und ich haben als Kinder öfters dort gespielt. Wegen der Schatulle!“
Anton schloss kurz die Augen. „Nee. Ich gehe weiter zurück. Seraphina!“
„Lass meine Schwester aus dem Spiel.“
„Du hast mit ihr gespielt, aber ein Spiel, was sie nicht wollte. Ich kenne die Fotos von ihr. Sie war frühreif. Sie musste sterben, weil du dich an ihr vergangen hast. Oder warum warst du in Namibia.“
Anton zuckte vor Schmerzen zusammen und spuckte auf den Boden.
„Was redest du? Ich habe sie geliebt. Mein Leben hätte ich für sie geopfert“, schrie Joos.
„Dass sich so widerwärtige Typen wie du immer herausreden müsst. Was war mit deinem Kontakt zu Fridolin. Auch so ein Schwein wie du. Wolltest du von ihm Mädchen kaufen, ja oder nein?“
Bei dem Gedanken an Fridolin keimte in Anton Genugtuung auf. Von seinen Quellen hatte er erfahren, dass die Kollegen ihn verhaftet hätten. Weswegen genau konnten sie ihn nicht sagen. Irgendwie bestand ein Zusammenhang mit einem Mord in den Niederlanden.
„Ja. Aber nur, weil ich …“, stotterte Joos ihm entgegen, als steckte in dessen Bauch eine Kugel, und nicht, er befingerte seine Wunde, in seinem.
„Du gibst es zu. Hilft dir nichts mehr. Dass ich dir eine Falle gestellt habe, hast du in deiner Geilheit nicht mitbekommen. Wer hat veranlasst, dass du den Brief bekommen hast? Es sollte so sein wie damals. Sogar drei Mädchen zur Auswahl gaben wir dir. Ich wollte dich eigentlich in Flagrante erwischen. Leider kamen die Damen auf die Idee, ihr Ding am gleichen Wochenende durchzuziehen, an dem wir, die Mädchen übernehmen wollten.“
Joos zuckte und flüsterte: „Jetzt verstehe ich. Du willst mir euren Mädchenhandel in die Schuhe schieben.“
„Gut! Du hast die Mädchen befreit. Wouters zu den Bunkern geschickt, aber genau dies war deine Absicht. Ihr wusstet, dass ihr ein Maulwurf habt. Nur nicht wen? Er wäre aufgeflogen. Aber keine Angst, ich habe das bereits geregelt.“

Joos Mimik, seine Reaktion, wie er den Revolver fester umklammerte, die Mündung erneut an seinen Leib drückte, zeigte ihm, dass seine Worte ihr Ziel nicht verfehlt hatten. Der alte Zausel, das widerliche Schwein, schien ihm zu glauben. Anton presste vor Schmerz seine Lippen zusammen. Er hatte Joos nie einen Brief geschrieben, bis Aishe, oder wie sie hieß, ihm davon erzählt hatte, keine Ahnung gehabt.
**Für verrückt hielten sie ihn. Der kleine Streifenbulle, der einen Ring von Mädchenhändlern überführen wollte. Im Nachhinein gab er ihnen recht. Seine Annahme, dass van Düwens Internat die Schaltzentrale war, hatte sich als falsch herausgestellt. All die Jahre mit der durchgeknallten Franziska waren für die Katz gewesen. Erst in Lesotho kam er ihnen näher. Zu nah.
**Dabei hatte er zuvor wirklich vor, ein neues Leben zu führen. Die Vergangenheit hinweg zu spülen, nachdem sie ihm nahegelegt hatten, seinen Dienst niederzulegen.
**In diesem Moment seine eigene Waffe gegen sich gerichtet, wusste er, dass er recht gehabt hatte. Es war nie Zufall gewesen. Immer, er revidierte sich, da ihm die Beweise fehlten, oft, zu oft, wurde ein Mädchen missbraucht, verstümmelt, entsorgt, wenn die belgische Polizei bei einem Zugriff involviert war. Weshalb und dieser Annahme konnte er sich nicht entziehen, sollte einer von der Bande der Mädchenhändler ein fremdes Kind missbrauchen? Sie hatten genug. Jedoch, dass Joos, der gute Joos, dieses Chaos ausnutzte, seiner perfiden Neigung nachzugehen, damals abwegig für ihn.
**Alle Verbrecher machten Fehler. Er dachte an Aishe. Auch, wenn sie einmal Opfer waren. Sie hatte sich selbst verraten. Glaubte sie wirklich, dass er irgendwen traute. Keine Rehaugen konnten ihn ablenken. Ein Satz entlarvte sie als Lügnerin. Es war das erste Mal. Es war für sie nicht das erste Mal. Mit seinen eigenen Augen hatte er es gesehen. Die winzige Kamera in ihrem Hotelzimmer hatte alles aufgenommen. Er ging wahrlich nicht davon aus, dass sie und Joos nur kuschelten, dafür waren für ihn ihre Bewegung eindeutig. Sogar einen Ring hatte Joos ihr zum Dank geschenkt.
**Wenngleich er nicht mehr im Dienst war, hatte er weiterhin seine Quellen. Diese Quellen zeigten ihm auf, wo Joos Aishe kennengelernt hatte. Kennengelernt in einem Land, welches er weiterhin liebte. Den letzten Nagel in seiner Vermutung schlug Gunner. Nicht ihn sprach Gunner mit den Worten Den Jungen. Kollateralschaden! an, sondern sie.
Anton hörte, wie Joos den Abzug spannte.
„Wer wir? Gerade war ich noch ein Kinderschänder und jetzt …“, zischelte Joos.
Anton zog mit letzter Kraft einen Zettel aus seiner Gesäßtasche. „Der Beweis. Du wirst gleich sehen, wir wissen alles. Es ist nur ein Ausdruck, nicht das Original des Flugscheins.“ Er räusperte sich. „Miss Veronica Mükke und Mister Joos van Düwen Flug LH4728 von Brüssel nach London. Jetzt biste platt.“
Joos Wange zuckte.
Sein Bluff wirkte. Ein Einkaufszettel klebte an seiner blutverschmierten Hand. Er musste auf Zeit spielen. Wo blieb nur Igor? Es konnte nicht derart lange dauern, dieses arme Mädchen in Sicherheit zu bringen. Es zu versorgen. Sein Gewissen plagte ihn bei dem Gedanken an Alina. Weshalb kam er nicht eher auf diese alte Scheune? Er hätte sie vom Schlimmsten bewahren können.
**Igor hatte sie aus dem Loch geborgen. Das arme Kind, einzig bekleidet mit einem kurzen Rock, sonst nackt, nicht einmal an eine Decke hatten sie gedacht. Sie stammelte: Die anderen Mädchen, die anderen Mädchen. Dabei hätte er sie begleitet. Im Nachhinein war es für ihn nicht falsch gewesen, umzukehren, um die Luke zu schließen. Wo blieb Igor? Seine Sinne schwanden. Er versuchte, sich zu konzentrieren, eine Geschichte zu erzählen.
„Josephine hat uns das gestern verraten. Die Polizei hätte einen anonymen Hinweis bekommen, dass“, er suchte nach einem Namen, „Fridolin Stephen gequält und entführt hätte.“
„Josephine hat was?“
„Tu nicht so doof. Du hast herausbekommen, dass Stephen Klara ist.“
„Gerade hast du mir gesagt, ihr habt ihn aus den Augen verloren.“
„Richtig. Nicht Klara. Sie war die ganzen Jahre in Südafrika. Ich habe dir doch gesagt, einer hätte
überlebt.“ Anton umfasste den Lauf des Revolvers. „Ich möchte es abkürzen. Josephine hat ausgepackt. Sie hat gestanden.“

„Was willst du dann von mir, wenn sie gestanden hat? Ich hatte auch vermutet, dass sie dahintersteckt.“
„Ich habe dir, aber nicht gesagt, was sie ausgepackt hat. Sie hat zugegeben, dass sie dir, wie nannte sie es“, er überlegte, dachte an Fridolins Dummheiten, „dir Blind-Dates im Internat beschafft hat. Bei denen du ungestört, unbestraft, Mädchen vergewaltigt hast. Sie hat ausgepackt, dass sie dasselbe für Fridolin eingefädelt hatte. Du und er gemeinsam Klara im Bunker misshandelt habt. Er Klara …“
Joos erhob seinen Arm, legte diesen um Antons Hals. „Du widersprichst dir. Hast du mir nicht erzählt, Stephen sei Klara.“
Anton zog seinen Kopf aus der Umklammerung. „Höre genauer zu! Solange du noch kannst. Ich sagte, Josephine hat ausgesagt.“
„Klara ist tot?“
„Zum Glück nicht. Josephine hat Fridolin bekniet, sie zu befreien. Er hatte Mitleid, das Schwein. Er leugnet zwar noch, wie die Kollegen mir sagten, aber die Beweislast ist erdrückend. Sogar einen Unschuldigen hat er erwürgt. Nur, weil der Arme zur falschen Zeit am falschen Ort war. Dabei wäre Fridolin um ein Haar entkommen. Er hatte nur Pech, ein Kollege aus Hannover fuhr zu schnell.“ Obgleich es ihm schwerfiel, kicherte er. „Direkt in deine Karre. So ein Zufall. Obendrein hat Klara die Aussage bestätigt.“
Anton vergnügte die Vorstellung, jedenfalls traf das mit dem Kollegen aus Hannover zu.

Joos legte seinen Kopf auf Antons Schulter, seine Wangen zuckte, während er flüsterte: „Dann nehme mich fest.“
„Zeigst du endlich dein wahres Gesicht, wie nannte es dein Bruder, dein Dämon. Schweiß Beichtgeheimnis.“ Anton benetzte seine Unterlippe. „Eigentlich wäre es mir eine Freude. Ein Bulle und Kinderschänder im Knast, der hat es nicht leicht.“
Das Wort Beichtgeheimnis hallte in ihm wider. Niemand außer ihm selbst wusste über die Erkenntnisse, die er über Joos gesammelt hatte. Wenn Igor erst nach seinem Dahinscheiden erscheinen würde, dann hätte Joos die Möglichkeit seine Schandtaten zu verschleiern. Jedoch ein Täter, welcher der Annahm war, andere wüssten Bescheid, machte Fehler.
„Leider hast du unseren Transport platzen lassen und Müller will ich nicht ans Messer liefern.“
„Müller“, stotterte Joos.
„Eingeschleust haben wir ihn bei euch. Er wird sogar ganz offiziell unehrenhaft entlassen. Nur sein Willkommensgeschenk hat er nicht dabei.“
„Wir. Euch“, keuchte Joos.
Anton griente. „Ach, habe ich vergessen. Ich habe dir nicht gesagt, obwohl du es weißt, wo Josephine hinwollte? Nach London. Wo ist deine Schwiegermutter? Dreimal darfst du raten. Wo sollten die Mädchen hin? Familientreffen mit Anhang oder wie. Eigentlich wollten wir Aishe mit einschmuggeln. Du kennst ja die Tinette, gelehriges Kind. Opfer müssen gebracht werden. Kollateralschäden, würde Müller es nennen. Wir hätten dich damals gar nicht nach Lesotho schicken brauchen. Die Nute wäre ohnehin gestorben, bevor du sie befragen konntest.
**Sie wusste alles, war nicht dumm. Aishe hat es erledigt. Auftrag ist Auftrag! Schau nicht so doof. Stimmt. Ich wollte dir ja beichten, warum ich dich erschieße. Müller ist wohl schon auf dem Weg zum Flughafen, aber“, er holte Luft, das Atmen fiel ihm schwer, „er wird zugeben, dass er dich hingerichtet hat. Damit du sie nicht verpfeifen kannst, weil die Polizei dahintergekommen ist, dass du ein Mädchenschänder bist. Nachtrauern wird man dir nicht. Girls verkaufen gern, sich an sie vergreifen gegen die Ehre. Es gibt einen Zeugen geben, der alles bestätigt. Er hat einen guten Leumund in der Branche.“

Wie gern hätte er ihn festgenommen, den hiesigen Behörden ausgeliefert. Im Gericht mit Freude das Urteil vernommen. Vielleicht in Besuch, dann gefragt, ob er auf dem Weg der Besserung sei. Denn eines war ihm klar, dass nicht sein Selbst in trieb. Im Herzen war er ein Guter, sein Freund. Der Dämon in ihm, der Feind, den es galt auszulöschen. Joos war krank, trotzdem ein Verbrecher. Er war nicht der Richtige, um ihn zu richten. Nicht einmal in der Lage dazu.
**Denn kann ein Bruder gleich Kain die Hacke heben? Wäre er nicht genauso schuldig, hätte Blut an seinen Fingern. Selbstjustiz. Abscheulich. Aber war jenes, was er anstrebte, nicht gleichermaßen. Ein Verbrechen, einen Mord zu verhindern, die Krönung der Polizeiarbeit. Zwei, drei Herzschläge, dann würde er zu Judas.

Endlich hörte er Geräusche. Igor? Er hoffte, dass er es war. Denn in dem Moment, als seine Kräfte verschwanden, schloss er die Annahme nicht aus, dass seine für ihn gefühlte ewige Abwesenheit auf einer anderen Tatsache beruhten. Aishe Igor überwältigt hatte, um ihren Geliebten zu befreien.
Er nahm all seine letzten Kräfte zusammen und schrie: „Igor! Igor, du kannst kommen.“
Ein Schuss hallte durch die Scheune. Jedoch nicht ausgehend von seinem Leib, von seinem Revolver. Kein Knall schlug ihn, wie beim ersten Schuss, mit kurzzeitige Taubheit, sondern aus der Ferne, drang jener in sein Ohr.
**Anton spürte keinen Schmerz, sah sein Blut aus seinem Körper dringen. Sein vergilbtes Doppelrippunterhemd färbte sich an einer anderen Stelle rot. Liselotte, Bärbel und Sophia zwinkerten ihm zu. Auf Joos weißen Hemd bildet sich ein Fleck, der gleichsam wie seiner sich vergrößerte. Er fühlte sich frei, während sich Joos zu einem grellen weißen Licht verwandelte.
„Wir sehen uns in der Hölle wieder“, hörte er seine eigenen Worte, bevor ihn die Finsternis packte.



In den letzten Zügen

In den Sekunden, in denen sich sein Geist immer mehr vernebelte, Anton Blut mit dem seinen verband, konnte er klarer denken. Joos schloss seine Augen, verdrängte den Schmerz, um sich zu konzentrieren. Sein Bruder hatte ihn sicherlich unwissend auf eine falsche Spur gelenkt. Dabei war er der Vater und Liselotte die Mutter. Jedoch nicht von einem Sohn, sondern von einer Tochter. Inwiefern dieses der Mutter bekannt, für ihn selbstredend, aber für den Vater? Ob Liselotte bereits nach der Geburt ihre Schwester gebeten hatte, für das Kind zu sorgen, oder sie erst später dafür bereit war, konnte er nicht ergründen.
Eins stand für ihn fest, Franziska hatte Gertrud den Brief geschrieben. Es musste eher Anton gewesen sein, der es abgelehnt hatte, denn Franziska gebar Stephen. Den Stammhalter, den Alfons von ihm verlangte.
Dass das Kind verstarb, war tragisch. Tragisch für die Mutter und den Vater. Für diesen jedoch mehr aus der Schuld getragen, das Erbe zu verlieren. Jannette kam wieder ins Spiel. Ein Kind, solange es klein war, als Junge auszugeben, banal. Jedoch ein Kind wird älter, reift. Es daher in ein Internat zu stecken, auf das man Zugriff hatte, keine schlechte Idee.
Egal, ob oder wie, es blieb Liselottes Kind. Deshalb erblickte er sie während der Zeremonie bei den Loibls. Die Macht des Weibes. Anton sah sein Erbe in Gefahr. Alfons war alt, senil, damals bereits kurz vor dem Erblinden. Ihm Valentins Jungen für Stephen zu verkaufen, gewagt, jedoch nicht für ihn, Joos unterdrückte das Reizen in seinem Bauch, von der Hand zu weisen.
Das Mädchen war zu einer Gefahr geworden. Es wusste zu viel, musste verschwinden. Südafrika war ein idealer Ort. Es dort als Tochter von Doc auszugeben, gleichfalls gewagt, jedoch weit genug weg von Belgien. Eine neue Identität, ein neues Leben versprachen sie ihr.
Nur, und dieses nahm er an, alles andere war für Joos undenkbar, kamen ihnen Josephine und Klara mit ihrem Spiel in Weg. Der zuvor reibungslos ausgeheckte Plan platze.
Warum war es ihm nie aufgefallen? Dabei war es trivial. Klara und Tanja sahen sich nie ähnlich. Sie waren eins. Er hätte es spätestens an dem Tag feststellen müssen, an dem Anton seinen Tod inszeniert hatte. Weshalb er offiziell aus dem Leben scheiden wollte, spielte keine Rolle. Genügend Dreck hatte er bestimmt gesammelt.
In diesem Moment, als Joos sich an ihn klammerte, spürte, wie das Leben aus Anton entwich, verzieh er ihm.
Eine Perücke, ein ausgestopftes Kleid und aus dem Mädchen, in welches er sich … Sein Herz, was allmählich versagte, verkrampfte sich. Der Schrei des Kindes hallte erneut in ihm nach. Klara hatte bereits entbunden. Alles geplant. Er sollte den Tod des Freundes bezeugen, wie … das Atmen fiel ihm schwer. Carel.
Die Aufregung von Doc war an diesem Tag nur gespielt. Wer war die Frau auf der Bahre gewesen? Jannette? Nein. Diese hatten sie bestimmt woanders untergebracht. Oder? Nein, soweit würden sie nicht einmal gehen. Eins erklärte sich für ihn. Was sie ihm sagen wollte. Die Wahrheit.
Die Wahrheit darüber, dass sie einen jungen Mann gefunden, mit ihm ein Kind hatte und für immer das Land verlassen wollte. Ihn nicht mehr benötigte.
Die Frage von Tinette, wie das Kind den Flammen entfliehen konnte, stellte sich für ihn nicht mehr. Unser Kind. Klara selbst hatte es gerettet. Der Motorradfahrer? Er war ihr Freund. Der Vater des Kindes.
Er glitt wieder in den Geländewagen, fuhr die Piste entlang. Die Rauchschwaden verhüllten seine Sicht. Das Motorrad, es stand, bewegte sich nicht. Woran er sich erinnerte, war der Aufprall, den Körper, den er den Abhang herab katapultiert hatte. Das Schreien, des Mannes, der eingeklemmt im Felsen hing.
Aus dem Vater des Kindes war ein Zeuge geworden. Ein Zeuge, der zu viel wusste. Was hatte er gesehen?
Joos erinnerte sich an nichts, war verwirrt. Nicht einmal daran, wie lange sein Zustand angedauert hatte, konnte er sich entsinnen. Josephine war danach komisch, abweisend, als wäre er ein Fremder für sie. Ein Mörder? Wusste sie mehr?
Es war zu spät. Er gab sich den Schmerzen hin, bis sie abklangen. Dunkelheit hüllte ihn ein.



Flug über die Nordsee

„Ich dachte, du bist beim Herrn!“, stotterte er und starrte die Dame in dem erikafarbenen Kostüm an. „Ich habe dir die letzte Ölung gegeben.“
Sie zupfte an ihrem streng nach oben frisierten, welligem dunkelviolettem Haar. „Karl“, sprach sie gedehnt und schob ihre purpurviolette Sonnenbrille auf ihre Nasenspitze. „Dass du es nie lernen kannst?“ Sie strich ihm über seinen Oberarm, zupfte an seiner Kutte. „Ich bin Lotte.“
„Ebenfalls an deinem Sarge stand ich. Allein!“
„An einen leeren Sarg.“ Sie raffte ihren Rock und strich über ihren rechten, zart bestrumpften Oberschenkel. „Seh! Ich bin Lisselotte. Bärbel stürzte mit ihrem Rad den Deich hinab, als sie mich in dem Kübelwagen erblickte. Sie, wie ich erschrocken darüber war, mein Ebenbild zu sehen.“
„Ich habe dich begraben.“
„Dachtest immer Bärbel wär schizophren. Mir solltest du den Segen geben. Alles schiefgegangen. Sie kam nicht. Doc und ich haben auf sie gewartet. Sophia musste sterben, Anton musste sterben, damit wir weiterhin unser Geheimnis schützen konnten. Anstatt sie erschien Joos mit Klara. Wie geplant hat mich Doc auf den Geländewagen gelegt. Dann stieg Klara dazu, glücklicherweise ist sie während der Fahrt ausgestiegen. Das Buschfeuer versperrte uns den Weg. Ich flüsterte Doc zu, er solle Joos Bescheid geben, ich sei tot, er könne zurückkehren. Ich vernahm nur das abrupte Bremsen. Doc sagte mir, Joos hätte beinah ein Motorradfahrer überfahren. Der Arme war den Abgrund heruntergestürzt. Egal, was mit mir, mit unserem Plan, Doc musste ihm helfen. Er kletterte hinab. Ich spürte, wie der Wagen rollte, sprang von der Pritsche und sah, wie Joos umnachtet neben der öffnetet Fahrertür stand, ich schrie ihn an, schlug mit einer Kiste auf ihn, wollte die Handbremse anziehen. Er war zu spät. Dann kamst du.“
„Aber sie war tot.“
„Ich bin Medizinerin, bin über die ganze Welt gereist. Es gibt Mittel, die den Tod vortäuschen. Warum haben wir bei der Mission angehalten? Ich hatte es im Gefühl, dass Bärbel es verpennt hatte. Ich gab ihr die Spritze, erklärte ihr den Weg. Den Rest kennst du.“

„Und ich bin davon ausgegangen, …“
Sie strich über seine Wange. „Karl! Bärbel und ich waren immer gute Freundinnen, obwohl wir uns kaum kannten. In den letzten Jahren haben wir erst verstanden, wie ähnlich wir waren, das nicht nur genetisch.“
„Nur eins wundert mich. Wenn Klara bei Doc war, wie war sie dann vor uns im Hospital?“
Lisselotte schaute zur Decke des Terminal C und winkte ab. „Du wirst senil.“
„Das arme Kind! Weiß sie eigentlich, dass sie Jannette ist?“
„Och Karl. Natürlich! Es war nun mal geplant, dass Klara mit Bärbel verschwinden sollte, und zwar mit ihrem Kind. Jannettes Baby hatten wir doch mit dem PFC in Sicherheit gebracht. Wir wollten sie später wieder zusammenführen.“ Sie ballte eine Faust. „Das passiert mir.“
„Auch Männer haben ein Herz“, murmelte Karl.

„Du bist aber stärker im Glauben. Ich habe mein ganzes Leben nach unserem Jungen gesucht und zusammen mit Bärbel nach Sophia. Beides ohne Erfolg. Bis …“ Sie hob eine graue Aktentasche und klopfte mit auf diese.
Karl wies zur Tasche. „Sind da die Unterlagen aus Nahnes Schließfach drin.“
„Ja. Die uns betreffen, habe ich alle vernichtet.“ Sie leckte über ihre rubinroten Lippen. „Wenn wir nur die von Alfons hätten.“
„Ich habe mich bemüht. Gleich nach der Beisetzung bin ich zum Hof gerannt. Ich sah Gertrud aus dem Fenster stürzen, dann diese Neonazibande! Sie lebte, als ich bei ihr war. Ich bin nur kurz zur Straße. Mein Handy hatte keinen Empfang. Ihr Schädel war eingeschlagen. Da muss jemand gewesen sein. Ich habe sie gesegnet.“ Er sengte sein Haupt. „Bin weg.“

„Bevor ich es vergesse, deswegen habe ich nach dir geschickt.“ Sie schob einen Bügel ihrer erikafarbenen Handtasche von der Armbeuge zum Handgelenk, zog den Reißverschluss auf und holte einen silbernen, mit einem pferdebohnengroßen Smaragd besetzten Ring heraus.
Karl zuckte zurück und bekreuzigte sich. „Weg mit diesem Zeichen des Satans.“
„Beruhige dich. Es ist nur ein Ring. Das Gedankengut einzig das Teuflische.“
„Du hast ihn immer gehabt?“
„Nein! Versengt habe ich ihn in der Nordsee, bevor ich mit Bärbel zu den van Düwen bin.“
Er schlug erneut das Kreuz. „Ich sehe ihn.“
„Gefunden habe ich ihn.“ Sie lächelte. „In Valentins Wagen auf dem Rücksitz.“
„Wann?“
Sie rollte mit den Augen. „Nach dem Standesamt.“
„Du warst zugegen?“
„Och Karl. Bis du der Ansicht, dass ich den Aufenthalt in Bayern Bärbel überlassen habe. Die kannte sie gar nicht. Ich war gegen die Vermählung, aber Bärbel.“ Sie atmete tief durch. „Über Tote soll man nicht schlechtreden.“
„Wie meinst du das? Sie war etwas besonders.“
„Bis auf ihre Affären.“
Er nickte. „Ich weiß.“
Lisselotte zog die Augenbrauen zusammen. „Ich musste sogar mit Vale …“ Sie bekreuzigte sich, faltete die Hände, presste sie an Mund und Nase und fiel, die Augen geschlossen, ins Gebet. „Dir ist bekannt, was Männer und Frauen nachts treiben.“ Sie schnalzte. „Ich musste ihm im Glauben halten, dass Bärbel ich sei.“
Karl grinste. „Dafür hast du in der Hütte vortrefflich gesungen.“
„In welcher Hütte?“
„Auf dem Weg nach Bayern.“
Sie klopfte an ihre Stirn. „Das war Bärbel. Wir haben erst in Salzburg die Rollen getauscht.“
„Wie dumm ich bin?“
„Du?“
„Nach meinem Unfall.“
Sie strich über seine Wangen. „Es ist doch alles wieder verheilt.“
„Ich hätte es ahnen müssen.“
„Was?“
„Du hast gefragt, wie es den Brüdern in Pierre-Qui-Vire gehe. Bärbel kannte sie nicht!“
Lisselotte grinste, dabei verzog sie ihren Mund in einer Weise, welche ihre Aussage konterkarierte. „Da siehst du, welche Sorgen ich mir gemacht habe. Zum Ring zurück. Nimm ihn an dich und überreiche ihn Svenja bei ihrer Firmung, wie ich ihn damals von Gertrud empfangen habe.“
„Von Gertrud?“
„Ja von ihr.“
Er runzelte seine Stirn. „Wie du es mir erklärt hast, wird die neue Priesterin dieser teuflischen Sekte immer von einer Tante oder der Großmutter ernannt und Gertrud ist mit dir mütterlicherseits nicht verwandt.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht war es eine Ausnahme.“
„Warum? Svenja, sie ist immerhin Klaras Tochter?“
„Als Zeichen für Franzi, dass ich immer über ihr wachen werde, damit sie nie den falschen Weg nimmt.“

Eine nasale Altstimme krächzte aus den Lautsprechern der Wartehalle.
Letzter Aufruf für Frau Bärbel Mohnleib Passagier des Fluges LH1832 nach London Heathrow.
Lisselotte drückte ihre mit Rouge bedeckte Wange an die von Karl. „Gott sei mit dir!“
Karl zeichnete ein Kreuz auf ihre Stirn. „Der Herr beschütze dich.“
Sie löste die Umarmung, schritt auf die Absperrung des Sicherheitsbereiches zu, wandte sich ein letztes Mal um. „Passe auf die Kinder auf.“



Gewitter

Das Beatmungsgerät pumpte unentwegt Luft in die Lungen des reglosen Körpers. Der Vitaldatenmonitor zeigte der Krankenschwester monoton den Herzschlag. Die Lider halb geschlossen, strich sie, über sein bleiches Gesicht. Sie stand auf, richtete ihren Kittel und schritt zum Fenster, drückte ihr Becken gegen die Fensterbank. Die Finger an die Scheibe gelegt, beobachtete sie die aufziehenden bleigrauen Wolken, die die Nachmittagssonne verbargen und Tel Aviv mit ihrem Schatten einhüllten. Sie wandte sich um, schritt zum Monitor und betrachtete kopfschüttelnd die Anzeige. Ihre rechte Hand an ihrer Brust, ergriff sie die Linke des Körpers, dessen Zeigefinger zuckte. Die Augen aufgerissen, den Mund verdeckt, rannte sie aus dem Krankenzimmer und schrie: „Er wird wach!“
Ein Herr in einem weißen Kittel drehte sich um. „Das glaube ich nicht?“
Die junge Frau zog an seinem Arm. „Professor Levy, kommen sie mit.“
Hastig zerrte sie den Arzt hinter sich her, betrat mit ihm das Zimmer. Ein Blitz zuckte am Fenster vorbei, schlug krachend im Blitzableiter ein. Levy riss sich los, stürmte an das Krankenbett und starrte in die geöffneten Augen des Patienten.
„Doktor Goldwasser?“
Mit einem Schlag flog ein Ast gegen das Fenster. Klirrend zerbrach die Scheibe und erlaubte dem Unwetter einlass. Der Sturm erfasste die Kabel, die Schläuche, an denen der Patient gefesselt war und zerriss sie, zerschnitt sie, wie die Hebamme die Nabelschnur der Neugeborenen. Levy und die Schwester stürzten sich auf das Bett, ergriffen, hielten die lebenserhaltenden Geräte. Der Wind verfing sich unter den Rock der Frau, riss ihn hoch und zauberte ein Lachen auf dem Mund des Patienten.



Verladen

Ein Kerl wie ein Bär stand vor zwei hüfthohen Holzkisten, kratzte sich am Nacken und studierte abwechselnd Dokumente. Ein zweiter Herr, untersetzt, mit Halbglatze, stürmte auf ihn zu.
„Wladimir. Di Frocht mut in di Fleger!“ Er drehte sich zum geöffneten Hallentor. „Di Wetter! Da zü wat uff, da komm wat röber! Dat knal gleich. Donn könn die nich starten.“
„Arne, aba ich nicht weiß, welch wohin“, stöhnte Wladimir und hielt dem anderen die Papiere entgegen. „Aane muss nach London andre Munchen-Moskau-Kuala egal.“
„Zeich!“ Arne studierte die Frachtdokumente. „Isch wurscht. Baidesch Aap.“
Wladimir zog seine buschigen Augenbrauen zusammen.
Arne kratzte sich unter den Achseln. „Uh, Uh, Uh, Orang-Utans!“ Er drückte ihm die Papiere in die Hand. „Faarlaad!“
Wladimir setzte sich auf seinen Gabelstapler, startete den Motor.

Ihre flehende Stimme segelte durch das Kinderzimmer. Er drängelte sich an ihr vorbei und sah den Jungen im weißen Kleid. Vor ihm auf den Boden ein zertrümmertes Segelboot. Das Kind starrte auf die Trümmer. Er wollte es nicht tun. Der Junge erahnte sein Ende. Die Augen geschlossen holte er aus und das Messer sauste hinab.
Ein Schlag ließ Svenja kurz zur Besinnung kommen. Es war finster. Sie konnte sich nicht rühren, war geschnürt wie ein Paket. Nicht schreien. Der Knebel in ihrem Mund erlaubte es nicht. Ihre Zunge ertastete einen Schlauch, dann verlor sie wieder das Bewusstsein.

Wladimir hob die erste Kiste mit seinem Stapler an und fuhr sie aufs Rollfeld.



Gefangen

Wie jeden Morgen stand sie mit ihrem Zinkeimer vor ihrer Zellentür und wartete. Sie wartete darauf, dass irgendjemand ihr den Fäkalieneimer abnahm, dafür ihr einen Krug Wasser und ein Kanten Brot überreichte. Weswegen man sie eingesperrt hatte, ihre Freiheit beraubte, ahnte sie nur. Nie in ihrem Leben hatte sie bewusst jemandem schaden wollen. Ihr Ziel war es immer, anderen zu helfen, sich aufzuopfern. Da spielte es für sie keine Rolle, ob sie oftmals in ihrer eigenen Welt lebte.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon in diesem Kerker verbrachte. Erinnerte sich nur daran, dass sie jemand in eine schwarze Limousine gedrückt hatte.
Es scharrte an der Tür. Sie schritt zurück. Die Tür schwang auf.
Sie sah nur eine Silhouette, die sich, angeschienen vom Licht der Freiheit, abzeichnete. Eine in einer Art Umhang gekleidete Gestalt erschien. Eine Nonne in ihrem Habits lächelte sie an. Es war kein freudiges Lächeln, was sie ihr entgegenwarf. Ein hämisches, teuflisches Lächeln war es, das ihr Gesicht verzerrte. Ein ihr bekanntes Gesicht, welches sie in dieser ihrer Zelle, in ihrem Verlies, nie gesehen hatte. Denn außer ihrer Pritsche, einem Tisch, einem Schemel und der Bibel war ihre Zelle leer. Kein Bild, kein Spiegel verzierten die aus Natursteinen erbauten Wände.
Dann vernahm sie seit einer gefühlten Ewigkeit die ersten Laute, die nicht ihre eigenen, jedoch für jeden Fremden nicht von ihrer Stimme zu unterscheiden, waren.
„Griaß di, Bärbel.“



ENDE

Band 2: Flucht vorm Ministerium
 
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96. Flug über die Nordsee

»Ich dachte, du bist beim Herrn!«, stotterte er und starrte die Dame in dem erikafarbenen Kostüm an. »Ich habe dir die letzte Ölung gegeben.«
Sie zupfte an ihrem streng nach oben frisierten dunkelvioletten welligen Haar. »Karl«, sprach sie gedehnt und schob die purpurviolette Sonnenbrille auf ihre Nasenspitze. »Das du es nie lernen kannst?« Sie strich ihm über den rechten Oberarm, zupfte an seiner Kutte. »Ich bin Lotte!«
»Ebenfalls an deinem Sarge stand ich. Allein!«
»An einen leeren Sarg.« Sie raffte ihren Rock und strich über ihren rechten zartbestrumpften Oberschenkel. »Seh! Ich bin Lisselotte. Bärbel stürzte mit ihrem Rad den Deich herab, als sie mich in dem Kübelwagen erblickte. Sie wie ich erschrocken darüber war, mein Ebenbild zu sehen.«

»Ich habe dich begraben.«
»Dachtest immer Bärbel wär schizophren. Mir solltest du den Segen geben. Alles schiefgegangen! Sie kam nicht. Doc und ich haben auf sie gewartet. Sophia musste sterben, Anton musste sterben, damit wir weiterhin Jannette schützen konnten. Anstatt sie erschien Joos mit Klara. Wie geplant hat mich Doc auf den Geländewagen gelegt. Dann stieg Jannette dazu, glücklicherweise ist sie während der Fahrt ausgestiegen. Das Buschfeuer versperrte uns den Weg. Ich flüsterte Doc zu, er solle Joos Bescheid geben, ich sei Tod, er könne zurückkehren. Ich vernahm nur das abrupte Bremsen. Doc sagte mir, Joos hätte beinah ein Motorradfahrer überfahren. Der Arme war den Abgrund heruntergestürzt. Egal was mit mir, mit unserem Plan, Doc musste ihm helfen. Er kletterte herab. Ich spürte, wie der Wagen rollte, sprang von der Pritsche und sah, wie Joos umnachtet neben der öffnetet Fahrertür stand, ich schrie ihn an, schlug mit einer Kiste auf ihn, wollte die Handbremse anziehen. Er war zu spät. Dann kamst du.«
»Aber sie war Tod!«
»Ich bin Medizinerin, bin über die ganze Welt gereist. Es gibt Mittel, die den Tod vortäuschen. Warum haben wir bei der Mission angehalten. Hatte es im Gefühl, dass Bärbel es verpennt hatte. Ich gab ihr die Spritze, erklärte ihr den Weg. Den Rest kennst du.«

»Und ich bin davon ausgegangen ...«
Sie strich über seine Wange. »Karl! Bärbel und ich waren immer gute Freundinnen, obwohl wir uns kaum kannten. In den letzten Jahren haben wir erst verstanden, wie ähnlich wir waren, das nicht nur genetisch.«
»Nur eins wundert mich. Wenn Jannette bei Doc war, wie war sie dann vor uns im Hospital?«
Lisselotte schaute zur Decke des Terminal C und winkte ab. »Es hat jemand mitgenommen.«
»Das arme Kind! Weiß sie eigentlich, dass sie Jannette ist?«
»Och Karl. Natürlich! Es war halt nur geplant, dass Klara als Tanja mit Bärbel verschwinden sollte, und zwar mit ihrem Kind. Jannettes Baby hatten wir doch mit dem PFC in Sicherheit gebracht. Wie wollten sie später wieder zusammenführen.« Sie ballte eine Faust. »Das passiert mir.«
»Auch Männer haben ein Herz«, murmelte Karl.

»Du bist aber stärker im Glauben. Ich habe mein ganzes Leben nach unserem Jungen gesucht und zusammen mit Bärbel nach Sophia. Beides ohne Erfolg. Bis ...« Sie hob eine graue Aktentasche und klopfte mit der linken Hand darauf.
Karl wies zur Tasche. »Sind da die Unterlagen aus Nahnes Schließfach drin.«
»Ja! Die uns betreffen, habe ich alle vernichtet.« Sie leckte über ihre rubinroten Lippen. »Wenn wir nur die von Alfons hätten.«
»Ich habe mich bemüht. Bin gleich nach der Beisetzung zum Hof gerannt. Sah Gertrud aus dem Fenster stürzen, dann diese Neonazibande! Sie lebte, als ich bei ihr war. Bin nur kurz zur Straße. Mein Handy hatte kein Empfang. Ihr Schädel war eingeschlagen. Da muss jemand gewesen sein. Ich hab sie gesegnet.« Er sengte sein Haupt. »Bin weg!«

»Bevor ich es vergesse, deswegen habe ich nach dir geschickt.« Sie schob einen Bügel ihrer erikafarbenen Handtasche von der Armbeuge zum Handgelenk, zog den Reißverschluss auf und holte einen silbernen mit einem pferdebohnengroßen Smaragd besetzten Ring heraus.
Karl zuckte zurück und bekreuzigte sich. »Weg mit diesem Zeichen des Satans.«
»Beruhige dich. Es ist nur ein Ring! Das Gedankengut einzig das Teuflische.«
»Du hast ihn immer gehabt?«
»Nein! Versengt habe ich ihn in der Nordsee, bevor ich mit Bärbel zu den van Düwen.«
Er schlug erneut das Kreuz. »Ich sehe ihn.«
»Gefunden hab ich ihn.« Sie lächelte. »In Valentins Wagen auf dem Rücksitz.«
»Wann?«
Sie rollte mit den Augen. »Nach dem Standesamt!«
»Du warst zu gegen?«
»Och Karl. Bis du der Ansicht, dass ich den Aufenthalt in Bayern Bärbel überlassen habe. Die kannte sie gar nicht. Ich war gegen die Vermählung, aber Bärbel.« Sie atmete tief durch. »Über Tote soll man nicht schlecht reden.«

»Wie meinst du das? Sie war etwas besonders!«
»Bis auf ihre Affären!«
Er nickte. »Ich weiß.«
Lisselotte zog die Augenbrauen zusammen. »Ich musste sogar mit Vale ...« Sie bekreuzigte sich, faltete die Hände, presste sie an Mund und Nase und fiel, die Augen geschlossen, ins Gebet. »Dir ist bekannt, was Männer und Frauen Nachts treiben.« Sie schnalzte. »Ich musste ihm im Glauben halten, das Bärbel ich sei.«
Karl grinste. »Dafür hast du in der Hütte vortrefflich gesungen.«
»In welcher Hütte?«
»Auf dem Weg nach Bayern.«
Sie klopfte an ihre Stirn. »Das war Bärbel. Wir haben erst in Salzburg die Rollen getauscht.«
»Wie dumm bin ich!«
»Du?«
»Nach meinen Unfall!«
Sie strich über seine Wangen. »Es ist doch alles wieder verheilt.«
»Ich hätte es ahnen müssen!«
»Was?«
»Du hast gefragt, wie es den Brüdern in Pierre-Qui-Vire gehe. Bärbel kannte sie nicht!«
»Da siehst du, welche Sorgen ich mir gemacht habe. Zum Ring zurück! Nimm ihn an dich und überreiche ihn Svenja bei ihrer Firmung, wie ich ihn damals von Gertrud empfangen habe.«
»Von Gertrud?«
»Ja von ihr!«
Seine Stirn schlug Falten. »Wie du es mir erklärt hast, wird dei neue Priesterin dieser teuflischen Sekte immer von einer Tante oder der Großmutter ernannt und Gertrud ist mit dir mütterlicherseits nicht verwandt.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war es eine Ausnahme!«
»Warum? Svenja sie ist immerhin Klaras Tochter!«
»Als Zeichen für Franzi, dass ich immer über ihr wachen werde, damit sie nie den falschen Weg nimmt.«

Eine nasale Altstimme krächzte aus den Lautsprechen der Wartehalle.

Letzter Aufruf für Frau Bärbel Mohnleib Passagier des Fluges LH1832 nach London Heathrow.

Lisselotte drückte ihre mit Rouge bedeckte Wange an die von Karl. »Gott sei mit dir!«
Karl zeichnete ein Kreuz auf ihre Stirn. »Der Herr beschütze dich.«
Sie löste die Umarmung, schritt auf die Absperrung des Sicherheitsbereiches zu, wandte sich ein letztes Mal um. »Pas auf die Kinder auf!«.

weiter zum nächsten Teil 97. Fifty-fifty
 



 
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