flüchtig

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axel

Mitglied
Was ich hier tue, ist vollkommen verrückt. Ohne Wasser werde ich nicht weit kommen, und ich habe keine Ahnung, in welcher Richtung die nächste menschliche Ansiedlung liegt oder wie weit es bis dorthin ist.
Purer Instinkt hat mich getrieben, als ich durch das Tor geschlüpft bin. Als der erste klare Gedanke in mein Hirn drang, war ich schon auf der anderen Seite. Das ist gerade mal ein paar Minuten her, und seitdem gehe ich immer weiter in die Wüste hinein. Nur weg, und immer geradeaus. Wenn ich rennen würde, käme ich schneller voran, doch etwas in mir hält mich davon ab. Bloß nicht anfangen zu rennen! Die Frage nach einer Begründung für diesen Befehl bleibt ohne Antwort, doch seine Autorität leidet nicht darunter. Ich versuche, so zügig wie möglich zu gehen, spitze meine Ohren, warte auf einen Alarm oder einen Schuss. Sie müssen mich doch sehen. Die wenigen Sträucher sind viel zu klein, um einen Schutz zu bieten, außerdem so gut wie kahl. Mich umzudrehen, traue ich mich nicht, bloß immer weiter, am besten gar nicht nachdenken!
Wenn es nur nicht so aussichtslos wäre! Das habe ich immer gesagt, wenn andere anfingen, von Flucht zu reden. Wie sollten wir das schaffen? Ihr wisst doch, wie skrupellos sie sind. Und wo sollten wir hin? Hier ist doch nichts.
Ausgerechnet ich bin nun abgehauen. Das kleine Tor auf der Rückseite war noch nie zuvor offen gewesen, ich hatte immer gedacht, es habe überhaupt keine Funktion. Hier ist keine Straße, hier ist nur Wüste, ich bin ein einfacher Fußgänger, und die Wachen haben Zielfernrohre. Ich komme an einen Hügel. Wenn ich den hinaufgehe, bin ich erst recht auf einem Präsentierteller, doch mir bleibt keine Wahl. Die Steigung lässt mich langsamer werden, ich spitze weiterhin die Ohren, aber da ist nichts zu hören. Alles ist unwirklich, nur mein Keuchen und die trockene Kehle sind real, aber ich habe nichts zu trinken dabei. Noch ein paar Schritte, dann ist die Anhöhe erreicht.
Ich bleibe einen Augenblick stehen und sehe, dass das Tor inzwischen wieder verschlossen ist. Alles scheint ruhig zu sein, kein Mensch ist zu sehen. Wenn ich den Hügel hinablaufe, bin ich zumindest außer Sichtweite. Darf ich jetzt rennen? Besser nicht, sonst komme ich am Ende noch ins Straucheln und knicke um. Warum soll ich jetzt noch rennen? Ein Spürhund würde meine Fährte auch morgen noch finden, also kommt es nicht mehr darauf an, Minuten zu gewinnen. Ich muss meine verbliebenen Kräfte einteilen und vor allem aufpassen, dass ich nicht die Orientierung verliere. Das soll in der Wüste ja leicht passieren, und dann geht man immer im Kreis, ohne es zu merken.

Wie lange ich schon unterwegs bin, als ich die Piste entdecke, kann ich nicht sagen. Wie viele Kilometer ich zurückgelegt habe, weiß ich erst recht nicht. Mein Talent als Spurenleser reicht nicht aus, um erkennen zu können, wann hier zuletzt ein Auto entlanggekommen ist. Vielleicht ist es Monate her. Die Armbanduhr taugt nur bedingt als Kompass, verrät mir aber immerhin, dass die Piste mehr oder weniger in Nord-Süd-Richtung zu verlaufen scheint. Wohin sie führt, kann ich natürlich nicht erkennen, doch wenn ich Richtung Süden gehe, ist es nicht auszuschließen, dass ich am Ende vor dem Haupttor unseres Zentrums stehe. Letztendlich weiß ich es nicht, entscheide mich aber für die Nordrichtung. Vielleicht erreiche ich irgendeine Ansiedlung, oder es kommt ein Auto. Am besten wäre, eine schattige Stelle zu finden, an der ich mich verbergen kann, um ein nahendes Fahrzeug frühzeitig zu erkennen, ohne selbst gleich gesehen zu werden. Der Blick in die Ferne lässt mich nicht gerade hoffen, innerhalb der nächsten Kilometer einen solchen Ort zu finden.
Die Piste entlangzulaufen ist nicht ohne Risiko. Vor allem entgegenkommende Fahrzeuge wären eine Gefahr, denn niemand könnte verstehen, dass ich nicht einsteigen wollte. Mir bleibt trotzdem keine Wahl, viel Kraft habe ich nicht mehr.
Auf einmal höre ich das Dröhnen eines Motors hinter mir. Es ist keine Sinnestäuschung, denn als ich mich umdrehe, sehe ich tatsächlich ein Auto. Ein ziemlich altes Modell, und das ist definitiv ein gutes Zeichen, denn wenn sie hinter mir her wären, würden sie bestimmt nicht mit einem solchen Gefährt nach mir suchen. Der Wagen ist noch endlos weit weg, kommt aber auf mich zu und wird bald hier sein.
Ich bleibe stehen und winke dem Fahrzeug entgegen. Einmal kurz den Arm heben und dann einfach warten. Mehr brauche ich nicht zu tun, und mehr sollte ich auch nicht tun. Bloß nicht panisch mit den Armen in der Luft rudern oder plötzlich in Richtung des Autos rennen. Der Kerl wird sowieso anhalten, wer immer er ist. Kein Mensch auf der ganzen Welt kann mitten in der Wüste weiterfahren ohne anzuhalten, wenn er auf einen Fußgänger trifft.
Der Wagen kommt näher.
Vielleicht haben sie ja noch gar nicht gemerkt, dass einer fehlt. Vielleicht gibt es noch keinen Alarm und keine Suchmeldung. Trotzdem muss ich damit rechnen, dass der Fahrer irgendwas mit ihnen zu tun hat, vielleicht etwas angeliefert oder einen Job auf dem Gelände verrichtet hat. Was gibt es sonst in dieser Gegend?
Ich muss es riskieren. Zu Fuß würde ich nicht mehr weit kommen, und selbst, wenn ich es bis zur nächsten Ansiedlung schaffen könnte, müsste ich immer noch damit rechnen, dass meine Flucht in jenem Augenblick zu Ende wäre.
Der Wagen wird langsamer. Ich meine einen älteren Mann mit einem breiten Hut hinter dem Steuer auszumachen, aber er ist noch zu weit weg, als dass ich ihn wirklich erkennen könnte. Ich gehe ihm ein paar Schritte entgegen und winke noch einmal, will ihn sehen lassen, dass ich nichts in den Händen habe.
Als er anhält, erkenne ich das Gewehr auf seinen Beinen.
„Wer sind Sie? Was machen Sie hier draußen?“
„Entschuldigen Sie, aber ich hatte eine Panne. Mein Wagen hat den Geist aufgegeben, und als nach Stunden immer noch niemand vorbeikam, wollte ich zu Fuß bis zum nächsten Ort. Scheint aber doch weiter zu sein, als ich dachte. Können Sie mich mitnehmen?“
„Was für ein Wagen? Ich habe keinen Wagen gesehen. Wo soll das denn passiert sein?“
„Auf der Hauptstraße. Die Stelle würde ich wiederfinden. Als ich diese Piste gesehen habe, dachte ich, dass sie vielleicht zu einem Ort führen würde, wo ich Hilfe finden könnte. Anscheinend habe ich mich geirrt. Bitte helfen Sie mir! Ich habe nichts mehr zu trinken.“
„Du bist ja vollkommen durchgeknallt. Kein Mensch geht hier draußen zu Fuß weiter, wenn sein Wagen schlappmacht. Hast du eine Ahnung, wie weit es noch ist bis zum nächsten Ort?“
Immerhin scheint es die erfundene Kreuzung wirklich zu geben. Ich übe mich weiterhin in Demut: „Nein, Sir, das weiß ich natürlich nicht. Ich bin ja nicht von hier. Ich bin Tourist aus Deutschland, mit einem Leihwagen unterwegs, und der wollte plötzlich nicht mehr weiter. Am Benzin lag es nicht, ganz bestimmt nicht, der Tank ist noch mehr als halb voll. Sicher war es ein Fehler, sich zu Fuß aufzumachen, aber ich dachte eben, dass ich es vielleicht bis zum nächsten Ort schaffen könnte. Zwischendurch dachte ich, dass diese Piste nirgendwo hinführt, aber ich war schon zu weit gegangen, um einfach umzukehren. Bitte helfen Sie mir! Ich kann Ihnen auch Geld dafür geben.“
Beim letzten Satz schüttelt er verächtlich den Kopf, lehnt das Gewehr neben seinen Sitz an die Fahrertür und lässt mich einsteigen.
„Wo steht denn der Wagen?“
„An der Hauptstraße. Ich habe es gerade noch geschafft, ihn auf den Seitenstreifen zu lenken, als der Motor aussetzte. Wir müssten zurück zur Kreuzung und dann links. Aber erst mal will ich nur in den nächsten Ort, denn ich brauche wohl einen Mechaniker, um die Karre wieder flott zu kriegen. Oder sind Sie zufällig einer?“
Schon wieder habe ich unverschämtes Glück, denn er schüttelt erneut den Kopf und scheint nicht aus der Richtung gekommen zu sein, die ich angegeben habe.
„Du hast Glück“, sagt er. „Bei uns gibt es einen Mechaniker, er heißt Larry und ist sogar ziemlich gut. Der hat bisher noch jeden Wagen wieder zum Fahren gebracht. Aber heute wird das wohl nichts mehr. Es ist ja schon ziemlich spät, und wir müssen auch noch ein ganzes Stück fahren, ehe wir da sind.“
„Das macht nichts, ich habe es nicht eilig. Gibt es bei Ihnen eine Pension oder ein Motel? Dann könnte ich dort übernachten. Vielleicht hat Ihr Freund morgen Zeit für mich, und wenn nicht, kann ich wenigstens telefonieren. Dann soll die Leihwagenfirma sich etwas einfallen lassen.“
Diesmal nickt er. Ein Motel gäbe es, und was ich sage, klingt in seinen Ohren anscheinend vernünftig. Sein Name sei Marc. Meine Anspannung lässt ein kleines Stück nach.
„Es war trotzdem verrückt von dir, dich zu Fuß auf den Weg zu machen. Nicht nur, weil wir hier in der Wüste sind. Du hast wahrscheinlich keine Ahnung, aber irgendwo da draußen haben sie so eine Anstalt hingesetzt, und die Jungs, die dort eingesperrt sind, müssen so ziemlich das Übelste sein, was es überhaupt gibt. Wahrlich keine gute Gegend für ausgedehnte Spaziergänge.“
Das Wort wirkt wie ein Hammer. In der letzten Zeit war diese Einrichtung tatsächlich zu einem Gefängnis und für manche zum Friedhof geworden, aber gebaut worden war sie einst als Forschungszentrum, und gekommen waren wir vor Jahren alle freiwillig. Ohne Ausnahme waren wir rechtschaffene Wissenschaftler, und dass wir keine Lösung gefunden hatten, machte uns nicht zu Verbrechern. Unser Auftrag unterlag vom ersten Augenblick an höchster Geheimhaltung, aber dass man der örtlichen Bevölkerung gesagt hat, unser Zentrum sei ein Straflager, bringt mich kurzzeitig um jede Fassung. Als ich wieder reden kann, frage ich: „Was denn für eine Anstalt?“
„Ein Gefängnis, ein Knast, was weiß ich. Man erzählt sich Dinge, genaues weiß niemand. Es ist alles streng geheim, und das soll auch so bleiben. Sonst haben wir hier irgendwann auch so einen Rummel wie in Guantánamo. Da unten hat doch heute jeder Terrorist drei oder vier Rechtsanwälte, und alle reden von Menschenrechtsverletzungen, wenn einer der Sträflinge mal nicht jeden Tag seine Lieblingsspeise serviert bekommt. Unsere Jungs wissen ja kaum noch, wie sie ihren Job machen sollen, wenn ihnen die ganze Welt auf die Finger guckt. Ich hoffe nur, dass es diese Weltverbesserer trifft, wenn die Terroristen das nächste Mal zuschlagen, und nicht wieder einen Haufen Unschuldige. Wenn es noch ein bisschen Gerechtigkeit gibt, sollte es so sein.“
Ich bin ziemlich konsterniert und versuche mir vorzustellen, was auf der Welt passiert sein mag, während ich in dem Zentrum war. Marc scheint meinen Gesichtsausdruck zu bemerken: „Guck nicht so besorgt: Bei uns ist bisher noch keiner rausgekommen, und so wird es auch bleiben!“
Die Piste endet an einer asphaltierten Straße. Marc stoppt den Wagen: „Wenn du es bis hierhin geschafft hättest … Das hättest du nie im Leben, aber nehmen wir es bloß einmal an: Wie hättest du dich entschieden? Rechts oder links?“
„Links“, sage ich, und Marc gibt Gas. „Alle Achtung, du bist ja ein richtiger Pfadfinder. Trotzdem solltest du nie vergessen, dass du nicht in deinem kleinen, engen Deutschland bist. Bei uns hast du zu Fuß keine Chance, und für morgen sage ich dir, dass noch ein Abzweig kommt, ehe wir die Stadt erreichen. Du musst also erst an der zweiten Kreuzung abbiegen. Verstanden?“
Ich nicke.

Es ist fast dunkel, als wir die Stadt erreichen. Sonderlich groß scheint sie nicht zu sein, vielleicht eher ein Dorf. Marc lässt es sich nicht nehmen, mich in das Motel zu begleiten und überall herumzuposaunen, was für einen Idioten er da mitten in der Wüste aufgegabelt habe. Er präsentiert mich wie eine Trophäe und fragt den Mann an der Rezeption nach Larry. Larry sei gar nicht in der Stadt, erfahre ich, er komme wahrscheinlich morgen zurück, aber heute wäre es ja eh zu spät. Ob ich was dagegen habe, die Nacht im Voraus zu bezahlen?
Warum sollte ich? Geht es mit Kreditkarte? Dann ist es kein Problem.
Das Ding funktioniert. Ich darf kein Erstaunen zeigen, denn es ist das Natürlichste auf der Welt, dass meine Kreditkarte funktioniert. Ich bin ein Tourist mit einem defekten Leihwagen und war so unvernünftig, zu Fuß weiterzulaufen, als der Wagen streikte. Warum sollte es deswegen Probleme mit meiner Kreditkarte geben? Zum Glück kam Marc vorbei, der mir noch einmal versichert, dass Larry morgen mit mir zu dem Auto fahren wird. Er werde Larry genau erklären, wo er mich aufgegabelt habe, nur für den Fall, dass ich Schwierigkeiten hätte, die Stelle wiederzufinden. Ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet aber froh, als er endlich geht.

Das Steak schmeckt köstlich, die ersten Bissen regen meinen Magen an und erinnern mich daran, wie lange ich nichts mehr gegessen habe. Vielleicht lässt es mich ein bisschen zur Ruhe kommen, wenn ich endlich meinen Hunger stillen kann. Zur Ruhe kommen muss ich, denn ich brauche eine zündende Idee, um schleunigst aus diesem Kaff wegzukommen, und zwar noch heute Nacht. Bis jetzt hatte ich Glück, doch wenn Larry erst wieder da ist, fliegt alles auf.
Am Automaten im Supermarkt gab es vorhin sogar Bargeld, und ich habe so viel davon gezogen, wie eben möglich war. Eigentlich ein ziemlicher Anachronismus, dass sie uns irgendwann jeden Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten, unsere Ausweise und Karten aber nicht einkassiert haben. Wahrscheinlich haben sie einfach nicht daran gedacht, denn in unserem Zentrum waren diese Dinge ohne Bedeutung. In der Kantine mussten wir vom ersten Tag an nichts bezahlen, und ansonsten gab es keine Möglichkeit, Geld auszugeben. Es war pure Gewohnheit, dass ich die Geldbörse trotzdem immer in die Hosentasche gesteckt habe, vielleicht eine Art Instinkt, denn auch den Pass habe ich stets am Körper getragen.
In einer anderen Stadt wäre ich mit diesen Utensilien ein solventer Tourist. Dort gäbe es keinen Marc, keinen Larry und keinen in der Wüste verreckten Leihwagen. Zuerst würde ich mir einen Koffer und ein paar Klamotten zulegen, denn ich brauche was zum Wechseln, und ein Tourist mit Gepäck erregt keinen Verdacht. Dann könnte ich einen Wagen mieten oder einen Bus nehmen, mich irgendwie zu einem internationalen Flughafen durchschlagen und dieses Land verlassen.
Eine Bushaltestelle brauche ich hier bestimmt nicht zu suchen, und wenn es einen Autoverleih gäbe, wäre dessen Büro doch bestimmt an der Hauptstraße. Die bin ich vorhin entlanggegangen, nachdem ich das Sixpack großer Wasserflaschen gekauft und die erste noch auf dem fast leeren Parkplatz vor dem Laden getrunken habe, aber da war nichts zu entdecken.
„Du musst der Fußgänger sein, den Marc heute aufgegabelt hat. Kannst echt von Glück reden, dass er dich gefunden hat. Sonst hättest du jetzt keinen Teller vor dir, sondern lägst selbst auf einem, und zwar auf dem der Geier.“
Er lacht über seinen Scherz, und ich kann nicht verhindern, dass er sich zu mir setzt. Anscheinend hat Marc es allen erzählt. Dann war es richtig, dass ich im Supermarkt nicht nach der Möglichkeit gefragt habe, einen Wagen in dieser Stadt zu mieten. Sein Name ist Dick, er lädt mich zu einem Bier ein, doch ich will keins, muss wach bleiben, und das fällt mir mittlerweile schwer genug. „Ist doch nicht der schlechteste Ort, um zu neuem Leben erweckt zu werden, oder?“
Der volle Mund hält mich vom Sprechen ab, ich nicke stumm und nehme den nächsten Bissen. „Du scheinst hungrig zu sein. Das kann ich gut verstehen. Wenn ich den ganzen Tag in der Wüste herumgeirrt wäre … Und hier bei Steven schmeckt es auch am Besten, seine Steaks sind nicht zu toppen. Warte ab, am Ende bleibst du einfach hier. Ich war damals auch nur auf der Durchreise, aber jetzt will ich hier gar nicht mehr weg. Vergiss deine Karre! Einen besseren Ort findest du nicht.“ Das neuerliche Lachen klingt auch nicht besser als das erste.
Durch das Fenster sehe ich einen Truck vorfahren. Der Fahrer verschwindet auf der Toilette. Mein Teller ist leer und ich habe es plötzlich ganz furchtbar eilig, will bezahlen und sage Dick, dass ich morgen vielleicht gesprächiger sei, aber jetzt nur noch schlafen wolle. Ich warte vor der Bar und sehe, wie der Fahrer wiederkommt und um die Zugmaschine geht, denke kurz an die Möglichkeit, ihn zu fragen, scheue das Risiko einer Ablehnung, klettere hinter die Schlafkabine und suche etwas zum Festhalten. Ich muss durchhalten, bis wir eine Stadt erreichen und der Fahrer an einer Ampel anhalten muss. Vermutlich wird es die ganze Nacht dauern. Es ist mir egal.
 

Maulbeere

Mitglied
Spannende Geschichte und ich bin sehr interesiert, wie es weitergeht.

Kleine Anmerkung: Den "Spaziergang" durch die Wüste könntest du noch etwas ausmalen. Schließlich ist es kein Waldspaziergang. Auch wenn niemand deine Hauptperson verfolgt, besteht sofort Lebensgefahr, die du dramaturgisch nutzen könntest.

Maulbeere
 

axel

Mitglied
Hallo Maulbeere.
Vielen Dank für deine Reaktion.
Die Geschichte spannender zu machen, ist natürlich immer ein lohnendes Unterfangen. Woran hast du gedacht? Vielleicht an Begegnungen mit Schlangen oder Skorpionen? Oder an etwas ganz anderes?
Ich bin für jede Anregung dankbar, würde Ergänzungen aber nur vornehmen wollen, wenn ich eine wirklich zündende Idee für eine gute Umsetzung hätte. Ein nicht 100%ig gelungener Einschub könnte ansonsten den Effekt bewirken: Damit ist das dramaturgische Element X nun auch abgehakt, doch eine Bereicherung ist es nicht.
Ich werde aber in jedem Fall darüber nachdenken.
Viele Grüße von Axel
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo axel,

hat mir gefallen, was ich bisher lesen durfte. Sei nicht böse, wenn ich mich jeglicher Wertung und Kommentierung enthalte. Dazu lasse ich mich erst hin reißen, wenn ich die Erzählung komplett gelesen habe.Ich hoffe, es gibt bald mehr. Durchhalten! Könnte sich lohnen. Ich drücke dir die Daumen, damit Du das angeschlagene Tempo im Zusammenhang mit gefälliger Sprache durchhalten und die daraus resultierende Spannung aufrecht erhalten kannst.

Gruß Ralph
 

axel

Mitglied
Ohne Wasser hat es überhaupt keinen Zweck! Meine Kehle ist schon jetzt völlig ausgetrocknet, dabei bin ich bestimmt erst ein paar hundert Meter weit gekommen. Es ist verrückt und vollkommen aussichtslos, und vielleicht sollte ich doch besser umkehren und zurück durch dieses blöde Tor gehen, so lange es noch möglich ist.
Dieses dämliche Tor ist schuld. Ich habe mich immer gefragt, welche Funktion es überhaupt erfüllen soll. Hier, auf der Rückseite, wo keine Straße an das Gelände anschließt, wo unmittelbar hinter dem hohen Zaun gleich die Wüste beginnt. Ein Tor an dieser Stelle macht doch gar keinen Sinn. Heute stand es dann auf einmal offen, und niemand war zu sehen, also bin ich hindurchgeschlüpft und jetzt laufe ich einfach so in die Wüste hinein, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.
Ausgerechnet ich! Derjenige, der immer abgewunken hat, wenn andere anfingen, von Flucht zu reden! Wie sollen wir das schaffen? Ihr wisst doch, wie skrupellos sie sind. Und wo sollen wir hin? Hier ist doch nichts. Wer von uns weiß denn schon, wie weit es bis zur nächsten Siedlung ist und in welcher Richtung die überhaupt liegt?
Die Erinnerung an diese Gespräche kann ich nun gerade überhaupt nicht gebrauchen. Das Laufen fällt mir schwer genug. Immer wieder stolpere ich über Steine oder vertrocknete Wurzeln von abgestorbenen Sträuchern. Hinter einem lebendigen Strauch könnte ich mich vielleicht verstecken und erst einmal zur Ruhe kommen, aber die wenigen, die noch nicht völlig vertrocknet sind, sind viel zu klein.
Sieh zu, dass du weiterkommst, befiehlt eine Stimme in meinem Kopf. Wenn eine der Wachen bemerkt, dass das Tor auf ist, solltest du besser außer Sichtweite sein. Los, weiter!
Nicht umschauen, nicht nachdenken, einfach weiter! Eine Alternative gibt es nicht. Oder willst du wirklich zurück in diese Hölle?
Anscheinend ist meine Flucht noch nicht aufgefallen. Sonst hätte ich längst den Alarm gehört. Vielleicht auch eher einen Schuss, oder gleich eine ganze Salve. Zimperlich sind sie ja nicht. Aber da ist nichts, ich höre nur mein eigenes Keuchen. Bloß nicht rennen! Zügig gehen, und pass auf, wo du hintrittst, aber fang nicht an zu rennen! Es ist nicht einfach, diesem Befehl zu gehorchen. Natürlich ist es vernünftig, in diesem unwegsamen Gelände nicht zu rennen, aber die Versuchung ist kaum zu beherrschen. Nicht rennen! Über die Richtung brauche ich mir keine Gedanken zu machen, denn die ist klar: einfach nur weg, immer geradeaus! Was habe ich schon zu verlieren?
Auf einmal geht es runter. Einen Hügel hinab. Gleich sehen sie mich nicht mehr! Ich gehe in die Hocke und wage einen Blick zurück. Viel kann ich in dem gleißenden Sonnenlicht nicht erkennen, doch es sieht aus, als sei das Tor inzwischen wieder geschlossen. Kein Mensch ist zu sehen, alles scheint ruhig zu sein. Beinahe friedlich sieht es aus.
Ich muss trotzdem weiter!
Nicht mehr ganz so eilig wie zuvor, denn sie sehen mich ja nicht mehr. Jetzt heißt es Kräfte sparen und einen klaren Kopf bewahren. Wenn ich nur wenigstens einen Hut oder ein Tuch hätte! Das T-Shirt kann ich nicht um den Kopf binden, sonst wäre ich im Nu am ganzen Oberkörper verbrannt. Es muss ohne Kopfbedeckung gehen. Los, weiter! Vielleicht gibt es irgendwo einen Schatten zum Ausruhen. Sieht allerdings erst mal nicht danach aus. Beruhige dich und steuere einen Punkt am Horizont an! Ich war zwar noch nie als Fußgänger in der Wüste, habe aber gehört, dass man dort leicht die Orientierung verliert. Dann geht man immer nur im Kreis, ohne es zu merken.

Der Berg hat sich bewegt. Die ganze Zeit bin ich auf ihn zugegangen und hatte die Sonne immer genau links von mir. Sie steht noch ziemlich hoch, aber natürlich nicht still an einem Fleck, und da wir auf der Nordhalbkugel sind, beschreibt sie am Himmel einen Bogen nach rechts. Okay, es ist unsere Erde, die sich bewegt, nicht die Sonne, aber das tut im Augenblick nicht viel zur Sache. Vielleicht bin ich ein paar Minuten weggenickt, aber die Sonne müsste mir jetzt ins Gesicht scheinen, erst recht, wenn ich mehr als nur ein paar Minuten gelegen haben sollte. Stattdessen habe ich die Sonne im Rücken, wenn ich mich weiter in Richtung des Berges wende. Das geht doch gar nicht. Habe ich mich so vertan? Oder ist das in der Ferne ein ganz anderer Berg und nicht der, den ich als Orientierungspunkt gewählt hatte? Ich schaue mich um, suche den Horizont ab und stolpere über die eigenen Beine, als ich mich drehe und einen Moment nicht richtig aufpasse. Beim Versuch aufzustehen erinnert mich der stechende Schmerz wieder daran, dass das linke Knie bei einem der Stürze etwas abbekommen haben muss und jetzt energisch protestiert, wenn ich es zu stark belaste. Über die rechte Seite aufstehen! Ist es so schwierig, sich das endlich einzuprägen? Am Besten wäre natürlich, überhaupt nicht mehr zu stürzen, denn das Aufstehen fällt von Mal zu Mal schwerer.
Es geht weiter, den Berg immer fest im Visier, bis ich auf einmal sicher bin, dass es nur eine optische Täuschung ist, die mich glauben lässt, dort in der Ferne eine Erhebung zu sehen. Wenn es diesen Berg gar nicht gibt, brauche ich ihm auch nicht länger entgegenzulaufen, sage ich mir. Dann wende ich mich doch besser nach links, wo weit hinten ein Strich in der öden Landschaft zu sehen ist, ein bisschen heller als der Rest der Umgebung. Vielleicht wieder nur eine Täuschung, doch es könnte auch eine Piste sein, und das Gefühl für meine ursprüngliche Richtung habe ich doch eh längst verloren.

Da ist wirklich eine Piste. Als ich sie endlich erreicht habe, hocke ich mich an ihren Rand und fühle mich, als sei ich schon gerettet. Dabei hat die Sonne noch immer nicht viel von ihrer Kraft verloren und bin ich weiterhin allein in der Wüste. Die Piste ist trotzdem ein Anker. Verlieren werde ich sie nicht und irgendwo wird sie mich hinführen. Sobald ich wieder laufen kann.
Ich suche nach Reifenspuren, aber da ist nichts zu sehen. Vielleicht hat das nichts zu bedeuten, versuche ich mir einzureden, vielleicht dauert es ja nur ein paar Stunden, bis Reifenspuren in dieser Gegend nicht mehr zu sehen sind. Vielleicht. Natürlich kann es auch Monate her sein, dass hier zuletzt ein Auto entlanggekommen ist. Warten hat keinen Zweck.
Ich gehe weiter. Auf der Piste zu laufen ist nicht mehr so schwierig wie zuvor im Gelände. Es gibt keine Stolperfallen und bestimmt auch keine Schlange mehr, ich kann ohne allzu große Konzentration in aller Ruhe einen Fuß vor den anderen setzen. Und am besten irgendwo ankommen, bevor ich verdurstet bin.

Ein Auto! Eigentlich sehe ich nur eine weit entfernte Staubwolke, als ich mich umdrehe, aber die verrät mir, dass das Motorengeräusch keine Täuschung war. Da kommt tatsächlich ein Auto. Meine Rettung, ich spüre es!
Nur wenige Sekunden später ahne ich, dass meine Flucht genauso gut gleich zuende sein kann. Woher soll ich wissen, wer da auf mich zukommt und ob er mich nicht umgehend wieder zurückbringt? Der Wagen ist noch zu weit weg, als dass ich ihn genau erkennen könnte, aber ich muss es riskieren. Laufen kann ich jedenfalls nicht mehr.
Keine drei Schritte mehr, aber das ist ja auch nicht mehr nötig.
Ich bleibe stehen und winke dem Fahrzeug entgegen. Nur einige wenige Male. Bloß keine Anzeichen von Panik zeigen und schnell etwas ausdenken, bevor der Wagen hier ist.
Das Fahrzeug kommt näher.
Es ist ein Pickup, und der scheint nicht mehr der Allerneuste zu sein. Das ist doch ein gutes Zeichen! Die Wachen im Zentrum hätten bestimmt genug andere Fahrzeuge zur Verfügung, wenn sie mich suchen würden. Der Fahrer gehört also nicht zu ihnen. Dass es ein Mann ist, kann ich inzwischen erkennen. Er kommt immer näher, hat einen breitkrempigen Hut auf und scheint auch nicht mehr der jüngste zu sein. Auch das ist ein gutes Zeichen. So einen alten Mann würden sie mir nicht auf den Hals schicken. Der Kerl kann natürlich trotzdem etwas mit ihnen zu tun haben. Vielleicht hat er etwas angeliefert oder einen Job auf dem Gelände verrichtet. Oder ist er auch dafür schon zu alt? Ich habe keine Ahnung, ob die Piste überhaupt zu dem Zentrum führt, aber was gibt es sonst in dieser Gegend?
Die Gedanken bringen mich nicht weiter, denn jetzt gibt es eh keine andere Möglichkeit mehr. Noch einmal winke ich dem Fahrer zu, diesmal mit beiden Armen, will ihn sehen lassen, dass ich nichts in den Händen halte.
Er ist noch ein ganzes Stück entfernt, wird aber schon langsamer. Soll ich ihm ein paar Schritte entgegengehen? Da ist wieder dieser Schmerz im Knie! Hoffentlich hat er meine schmerzverzerrte Grimasse nicht gesehen! Ganz ruhig bleiben!
Als der Wagen neben mir anhält, erkenne ich das Gewehr auf den Beinen des Fahrers. Er hält es mit einer Hand und hebt es leicht an, so dass der Lauf genau auf mich gerichtet ist. Seine andere Hand hält weiterhin das Steuer.
„Wer sind Sie? Was machen Sie hier draußen?“
„Entschuldigen Sie, aber ich hatte eine Panne. Mein Wagen hat den Geist aufgegeben, und als nach Stunden immer noch niemand vorbeikam, wollte ich zu Fuß bis zum nächsten Ort. Scheint aber doch weiter zu sein, als ich dachte. Können Sie mich mitnehmen?“
„Was für ein Wagen? Ich habe keinen Wagen gesehen. Wo soll das denn passiert sein?“
„Auf der Hauptstraße. Die Stelle würde ich wiederfinden. Als ich diese Piste gesehen habe, dachte ich, dass sie vielleicht zu einem Ort führen würde, wo ich Hilfe finden könnte. Anscheinend habe ich mich geirrt. Bitte helfen Sie mir! Ich habe nichts mehr zu trinken.“
„Du bist ja vollkommen durchgeknallt. Kein Mensch geht hier draußen zu Fuß weiter, wenn sein Wagen schlappmacht. Hast du eine Ahnung, wie weit es noch ist bis zum nächsten Ort?“
Immerhin scheint es die erfundene Kreuzung wirklich zu geben. Ich übe mich weiterhin in Demut: „Nein, Sir, das weiß ich natürlich nicht. Ich bin ja nicht von hier. Ich bin Tourist aus Deutschland, mit einem Leihwagen unterwegs, und der wollte plötzlich nicht mehr weiter. Am Benzin lag es nicht, ganz bestimmt nicht, der Tank ist noch mehr als halb voll. Sicher war es ein Fehler, sich zu Fuß aufzumachen, aber ich dachte eben, dass ich es vielleicht bis zum nächsten Ort schaffen könnte. Dann war ich schon zu weit gegangen, um einfach umzukehren. Bitte helfen Sie mir! Ich kann Ihnen auch Geld dafür geben.“
Beim letzten Satz schüttelt er verächtlich den Kopf, lehnt das Gewehr neben seinen Sitz an die Fahrertür und lässt mich einsteigen.
„Wo steht denn der Wagen?“
„An der Hauptstraße. Ich habe es gerade noch geschafft, ihn auf den Seitenstreifen zu lenken, als der Motor aussetzte. Wir müssten zurück zur Kreuzung und dann links. Aber erst mal will ich nur in den nächsten Ort, denn ich brauche wohl einen Mechaniker, um die Karre wieder flott zu kriegen. Oder sind Sie zufällig einer?“
Schon wieder habe ich unverschämtes Glück, denn er schüttelt erneut den Kopf und scheint nicht aus der Richtung gekommen zu sein, die ich angegeben habe.
„Du hast Glück“, sagt er. „Bei uns gibt es einen Mechaniker, er heißt Larry und ist sogar ziemlich gut. Der hat bisher noch jeden Wagen wieder zum Fahren gebracht. Aber heute wird das wohl nichts mehr. Es ist ja schon ziemlich spät, und wir müssen auch noch ein ganzes Stück fahren, ehe wir da sind.“
„Das macht nichts, ich habe es nicht eilig. Gibt es bei Ihnen eine Pension oder ein Motel? Dann könnte ich dort übernachten. Vielleicht hat Ihr Freund morgen Zeit für mich, und wenn nicht, kann ich wenigstens telefonieren. Dann soll die Leihwagenfirma sich etwas einfallen lassen.“
Diesmal nickt er. Ein Motel gäbe es, und was ich sage, klingt in seinen Ohren anscheinend vernünftig. Sein Name sei Marc. Meine Anspannung lässt ein kleines Stück nach.
„Es war trotzdem verrückt von dir, dich zu Fuß auf den Weg zu machen. Nicht nur, weil wir hier in der Wüste sind. Du hast wahrscheinlich keine Ahnung, aber irgendwo da draußen haben sie so eine Anstalt hingesetzt, und die Jungs, die dort eingesperrt sind, müssen so ziemlich das Übelste sein, was es überhaupt gibt. Wahrlich keine gute Gegend für ausgedehnte Spaziergänge.“
Das Wort wirkt wie ein Hammer. In der letzten Zeit war diese Einrichtung tatsächlich zu einem Gefängnis und für manche zum Friedhof geworden, aber gebaut worden war sie einst als Forschungszentrum, und gekommen waren wir vor Jahren alle freiwillig. Ohne Ausnahme waren wir rechtschaffene Wissenschaftler, und dass wir keine Lösung gefunden hatten, machte uns nicht zu Verbrechern. Unser Auftrag unterlag vom ersten Augenblick an höchster Geheimhaltung, aber dass man der örtlichen Bevölkerung gesagt hat, unser Zentrum sei ein Straflager, bringt mich kurzzeitig um jede Fassung. Als ich wieder reden kann, frage ich: „Was denn für eine Anstalt?“
„Ein Gefängnis, ein Knast, was weiß ich. Man erzählt sich Dinge, genaues weiß niemand. Es ist alles streng geheim, und das soll auch so bleiben. Sonst haben wir hier irgendwann auch so einen Rummel wie in Guantánamo. Da unten hat doch heute jeder Terrorist drei oder vier Rechtsanwälte, und alle reden von Menschenrechtsverletzungen, wenn einer der Sträflinge mal nicht jeden Tag seine Lieblingsspeise serviert bekommt. Unsere Jungs wissen ja kaum noch, wie sie ihren Job machen sollen, wenn ihnen die ganze Welt auf die Finger guckt. Ich hoffe nur, dass es diese Weltverbesserer trifft, wenn die Terroristen das nächste Mal zuschlagen, und nicht wieder einen Haufen Unschuldige. Wenn es noch ein bisschen Gerechtigkeit gibt, sollte es so sein.“
Ich bin ziemlich konsterniert und versuche mir vorzustellen, was auf der Welt passiert sein mag, während ich in dem Zentrum war. Marc scheint meinen Gesichtsausdruck zu bemerken: „Guck nicht so besorgt: Bei uns ist bisher noch keiner rausgekommen, und so wird es auch bleiben!“
Die Piste endet an einer asphaltierten Straße. Marc stoppt den Wagen: „Wenn du es bis hierhin geschafft hättest … Das hättest du nie im Leben, aber nehmen wir es bloß einmal an: Wie hättest du dich entschieden? Rechts oder links?“
„Links“, sage ich, und Marc gibt Gas. „Alle Achtung, du bist ja ein richtiger Pfadfinder. Trotzdem solltest du nie vergessen, dass du nicht in deinem kleinen, engen Deutschland bist. Bei uns hast du zu Fuß keine Chance, und für morgen sage ich dir, dass noch ein Abzweig kommt, ehe wir die Stadt erreichen. Du musst also erst an der zweiten Kreuzung abbiegen. Verstanden?“
Ich nicke.

Es ist fast dunkel, als wir die Stadt erreichen. Sonderlich groß scheint sie nicht zu sein, vielleicht eher ein Dorf. Marc lässt es sich nicht nehmen, mich in das Motel zu begleiten und überall herumzuposaunen, was für einen Idioten er da mitten in der Wüste aufgegabelt habe. Er präsentiert mich wie eine Trophäe und fragt den Mann an der Rezeption nach Larry. Larry sei gar nicht in der Stadt, erfahre ich, er komme wahrscheinlich morgen zurück, aber heute wäre es ja eh zu spät. Ob ich was dagegen habe, die Nacht im Voraus zu bezahlen?
Warum sollte ich? Geht es mit Kreditkarte? Dann ist es kein Problem.
Das Ding funktioniert. Ich darf kein Erstaunen zeigen, denn es ist das Natürlichste auf der Welt, dass meine Kreditkarte funktioniert. Ich bin ein Tourist mit einem defekten Leihwagen und war so unvernünftig, zu Fuß weiterzulaufen, als der Wagen streikte. Warum sollte es deswegen Probleme mit meiner Kreditkarte geben? Zum Glück kam Marc vorbei, der mir noch einmal versichert, dass Larry morgen mit mir zu dem Auto fahren wird. Er werde Larry genau erklären, wo er mich aufgegabelt habe, nur für den Fall, dass ich Schwierigkeiten hätte, die Stelle wiederzufinden. Ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet aber froh, als er endlich geht.

Das Steak schmeckt köstlich, die ersten Bissen regen meinen Magen an und erinnern mich daran, wie lange ich nichts mehr gegessen habe. Vielleicht lässt es mich ein bisschen zur Ruhe kommen, wenn ich endlich meinen Hunger stillen kann. Zur Ruhe kommen muss ich, denn ich brauche eine zündende Idee, um schleunigst aus diesem Kaff wegzukommen, und zwar noch heute Nacht. Bis jetzt hatte ich Glück, doch wenn Larry erst wieder da ist, fliegt alles auf.
Am Automaten im Supermarkt an der Hauptstraße dieses Dorfs gab es vorhin sogar Bargeld, und ich habe so viel davon gezogen, wie eben möglich war. Eigentlich ein ziemlicher Anachronismus, dass sie uns im Zentrum irgendwann jeden Kontakt zur Außenwelt abschnitten, unsere Ausweise und Karten aber nicht einkassiert haben. Wahrscheinlich haben sie einfach nicht daran gedacht, denn da drinnen waren diese Dinge ohne Bedeutung. In der Kantine mussten wir vom ersten Tag an nichts bezahlen, und ansonsten gab es keine Möglichkeit, Geld auszugeben. Es war pure Gewohnheit, dass ich die Geldbörse trotzdem immer in die Hosentasche gesteckt habe, vielleicht eine Art Instinkt, denn auch den Pass habe ich stets am Körper getragen.
In einer anderen Stadt wäre ich mit diesen Utensilien ein solventer Tourist. Dort gäbe es keinen Marc, keinen Larry und keinen in der Wüste verreckten Leihwagen. Zuerst würde ich mir einen Koffer und ein paar Klamotten zulegen, denn ich brauche was zum Wechseln, und ein Tourist mit Gepäck erregt keinen Verdacht. Dann könnte ich einen Wagen mieten oder einen Bus nehmen, mich irgendwie zu einem internationalen Flughafen durchschlagen und dieses Land verlassen.
Eine Bushaltestelle brauche ich hier bestimmt nicht zu suchen, und wenn es einen Autoverleih gäbe, wäre dessen Büro doch bestimmt an der Hauptstraße. Die bin ich vorhin entlanggegangen, nachdem ich das Sixpack großer Wasserflaschen gekauft und die erste noch auf dem fast leeren Parkplatz vor dem Laden getrunken habe, aber da war nichts zu entdecken.
„Du musst der Fußgänger sein, den Marc heute aufgegabelt hat. Kannst echt von Glück reden, dass er dich gefunden hat. Sonst hättest du jetzt keinen Teller vor dir, sondern lägst selbst auf einem, und zwar auf dem der Geier.“
Er lacht über seinen Scherz, und ich kann nicht verhindern, dass er sich zu mir setzt. Anscheinend hat Marc es allen erzählt. Dann war es richtig, dass ich im Supermarkt nicht nach der Möglichkeit gefragt habe, einen Wagen in dieser Stadt zu mieten. Sein Name ist Dick, er lädt mich zu einem Bier ein, doch ich will keins, muss wach bleiben, und das fällt mir mittlerweile schwer genug. „Ist doch nicht der schlechteste Ort, um zu neuem Leben erweckt zu werden, oder?“
Der volle Mund hält mich vom Sprechen ab, ich nicke stumm und nehme den nächsten Bissen. „Du scheinst hungrig zu sein. Das kann ich gut verstehen. Wenn ich den ganzen Tag in der Wüste herumgeirrt wäre … Und hier bei Steven schmeckt es auch am Besten, seine Steaks sind nicht zu toppen. Warte ab, am Ende bleibst du einfach hier. Ich war damals auch nur auf der Durchreise, aber jetzt will ich hier gar nicht mehr weg. Vergiss deine Karre! Einen besseren Ort findest du nicht.“ Das neuerliche Lachen klingt auch nicht besser als das erste.
Durch das Fenster sehe ich einen Truck vorfahren. Der Fahrer verschwindet auf der Toilette. Mein Teller ist leer und ich habe es plötzlich ganz furchtbar eilig, will bezahlen und sage Dick, dass ich morgen vielleicht gesprächiger sei, aber jetzt nur noch schlafen wolle. Ich warte vor der Bar und sehe, wie der Fahrer wiederkommt und um die Zugmaschine geht, denke kurz an die Möglichkeit, ihn zu fragen, scheue das Risiko einer Ablehnung, klettere hinter die Schlafkabine und suche etwas zum Festhalten. Ich muss durchhalten, bis wir eine Stadt erreichen und der Fahrer an einer Ampel anhalten muss. Vermutlich wird es die ganze Nacht dauern. Es ist mir egal.
 

axel

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Liebe Leute.
Ich habe diesen Text als erstes Kapitel eines Romans bei einem Wettbewerb eingereicht. Neben ganz vielen 1-Stern-Wertungen (die schlechteste, die es dort gibt) bekam ich auch einige durchaus wertvolle Anregungen, die mich dazu gebracht haben, große Teile neu zu schreiben. Die aktuelle Version möchte ich euch nicht vorenthalten. Viele Grüße von Axel
 

axel

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Keine Inhaltsangabe, sondern einfach das erste Kapitel:

Ohne einen Tropfen Wasser ziellos in die Wüste hineinzulaufen war ein Akt des Wahnsinns. Zwar hatte die Sonne ihren höchsten Stand lange nicht erreicht und war die Hitze noch erträglich, doch das würde sich bald ändern und Markus Dörner spürte, wie seine Kehle sich schon jetzt zusammenschnürte. Er war ein besonnener Mensch, der selten etwas Unüberlegtes tat, doch jetzt lief er so schnell er eben konnte und versuchte den Gedanken an die Aussichtslosigkeit seines Tuns zu verdrängen, um möglichst rasch außer Sichtweite zu kommen, denn er hatte keinen Zweifel, dass ohne Vorwarnung auf ihn geschossen würde, wenn jemand aus dem Komplex herauskäme und ihn hier draußen sähe.
Der Gedanke an die Zielfernrohre der Wachen ließ ihn einen Augenblick nicht aufpassen, so dass er die aus dem Boden ragende tote Wurzel übersah und stürzte. Beim Aufstehen durchzuckte ein heftiger Schmerz seine linke Hüfte, den er ausgerechnet jetzt natürlich überhaupt nicht gebrauchen konnte. Er biss die Zähne zusammen, versuchte seinen Schritten wieder einen runden, flüssigen Gang zu geben und dieses Humpeln zu überwinden, zu dem der Schmerz ihn zwang. Seine Kräfte ließen bereits nach, aber ein Versteck, in dem er wenigstens einen kurzen Moment hätte verschnaufen können, war nirgendwo in Sicht. Die wenigen Sträucher, die noch nicht völlig vertrocknet waren, waren viel zu klein, als dass sie hätten Schutz bieten können, und sonst gab es hier nichts.
„Dieses blöde Tor ist schuld“, dachte er, während er weiterlief und sich daran erinnerte, wie oft er sich gefragt hatte, welche Funktion ein Tor auf der Rückseite des Forschungszentrums, wo kein Weg und keine Straße an das Gelände anschloss und unmittelbar hinter dem hohen, mit massivem Stacheldraht bewehrten Zaun gleich die Wüste begann, überhaupt erfüllen sollte. Ein Tor an dieser Stelle machte doch gar keinen Sinn, und in all der Zeit hatte Markus auch nicht ein einziges Mal erlebt, dass jemand dieses Tor benutzt hätte. Heute aber hatte es dann auf einmal offengestanden, und niemand war zu sehen gewesen, also war er hindurchgeschlüpft und in die Wüste hineingelaufen, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.
Ausgerechnet er! Derjenige, der immer abgewunken hatte, wenn andere anfingen, von Flucht zu reden. „Wie sollen wir das schaffen? Ihr wisst doch, wie skrupellos sie sind. Und wo sollen wir hin? Hier ist doch nichts. Wer von uns weiß denn, wie weit es bis zur nächsten Siedlung ist und in welcher Richtung die überhaupt liegt?“
Die Erinnerung an diese Gespräche ließ Markus endgültig verzweifeln. Wenn er schon einer geplanten Flucht keine Aussicht auf Erfolg einräumte, wie hatte er dann so wahnsinnig sein können, einfach loszulaufen? Vielleicht wäre es möglich gewesen, im Gelände zu bleiben und das Tor zu schließen, ohne dass das Schloss einrastete, dann hätte er wenigstens noch Proviant und Wasser und einen Schutz gegen die immer stärker brennende Sonne mitnehmen und eventuell sogar noch einigen der Anderen Bescheid sagen können. Alles wäre besser gewesen als kopflos in diese Wüste zu laufen, aber jetzt war es zu spät und gab es kein Zurück mehr, und Markus spürte, dass er die Erinnerung an die zurückgelassenen Kollegen ebenso beiseite schieben musste wie die Gedanken an die Sinnlosigkeit seiner Flucht, wenn er sich auf seine Schritte konzentrieren und nicht ein weiteres Mal stürzen wollte. Er schaute angestrengt nach unten, um bloß kein Hindernis zu übersehen, wollte an nichts anderes denken und vor allem möglichst schnell weiterkommen. Nach aller Anstrengung, die er bis hierhin bereits auf sich genommen hatte, durfte er jetzt nicht abgeschossen werden wie ein räudiger Köter.
Anscheinend war sein Verschwinden bisher nicht aufgefallen, überlegte er, denn sonst hätte er längst den Alarm gehört oder gleich einen Schuss, vielleicht auch eine ganze Salve. Er spitzte seine Ohren, während er weiterlief, aber da war nichts, er hörte nur sein eigenes Keuchen und musste bald darauf feststellen, dass sein Pulsschlag langsam, aber immer heftiger in die Schläfen zog, ehe es dann auf einmal bergab ging.
Zuerst bemerkte er nur den Druck in den Knien und an den Schienbeinen, doch als er einen Moment innehielt und seinen Blick ein bisschen weiter als zuvor schweifen ließ, erwies der Untergrund sich tatsächlich als abschüssig.
„Ein Geschenk des Himmels“, dachte Markus, der sich ansonsten stets als Atheisten bezeichnete. Jetzt brauchte er bloß noch in die Hocke zu gehen, um für die Wachen unsichtbar zu werden.
Täuschte er sich, oder war das Tor inzwischen wieder verschlossen? In dem gleißenden Sonnenlicht konnte er beim vorsichtigen Blick zurück nicht viel erkennen, doch es schien alles ruhig zu sein und wirkte beinahe friedlich.
Am Anfang war dieser Ort sogar tatsächlich ein friedlicher Platz gewesen, obwohl das Wort friedlich angesichts der drohenden Gefahr, ohne die dieses Zentrum wahrscheinlich nie errichtet worden wäre, vielleicht nicht ganz das richtige Wort war. In jedem Fall hatte die geteilte Sorge alle vereint und an einem Strang ziehen lassen, und wie alle anderen war auch Markus Dörner bereitwillig hierher gekommen, als ihn der Ruf ereilte. Dass dieser Ort später zu einem Gefängnis und für viele zum Friedhof werden sollte, hätte damals niemand von ihnen für möglich gehalten.
Markus erinnerte sich an den Hubschrauber, der ihn vom Flughafen abgeholt und zu dem gerade fertiggestellten Forschungszentrum gebracht hatte, konnte aber nicht mehr sagen, aus welcher Richtung der Pilot das Gelände angeflogen hatte. Eigentlich war das aber auch nicht wichtig, denn natürlich wäre es ein unsinniges Unterfangen, den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen zu wollen, den er damals geflogen war.
Das Wichtigste war jetzt, einen Schatten und etwas Trinkbares zu finden, das waren die einzigen Prämissen, die es bei der Wahl der einzuschlagenden Richtung zu beachten galt, doch so weit er gucken konnte, wies nichts in der Umgebung auf einen Ort hin, an dem er hätte fündig werden können. Er spürte die Versuchung, der Erschöpfung nachzugeben und einfach an seinem Platz zu verharren, hatte das Gefühl, dass er die ganze Kraft der Sonne erst jetzt richtig wahrnahm, jetzt, da die allergrößte Anspannung von ihm gewichen war. Ohne einen Schluck Wasser könnte er keine drei Minuten mehr gehen, doch er hatte keine Wahl und musste weiter. Nicht mehr ganz so schnell wie zuvor, denn sie sahen ihn ja nicht mehr, und der Nase eines Spürhundes, die ihn auch morgen noch ausfindig machen würde, konnte er sowieso nicht davonlaufen, aber wenn er einfach liegen bliebe, würde er sicher nicht überleben. Einen Punkt am Horizont brauchte er, irgendein Ziel, das er ansteuern könnte, damit er bloß nicht die Orientierung verlor und am Ende immer nur im Kreis ging. In der Wüste soll so etwas ja immer wieder passieren.

Der Berg hat sich bewegt! Markus Dörner hatte ihn die ganze Zeit angesteuert, ohne das Gefühl zu haben, ihm tatsächlich näher zu kommen, aber darauf kam es auch nicht wirklich an, denn wenn er ihn erreicht hätte, würde er seine letzten Kräfte vielleicht nicht unbedingt in einen kaum noch zu bewältigenden Aufstieg investieren, an dessen Ende die Aussicht auf ein paar Tropfen Wasser oder einen noch so kleinen Schatten bestimmt noch geringer war als unten in der Ebene. Auf der anderen Seite ermöglichte der Gipfel vielleicht einen Ausblick auf die weitere Umgebung, so dass es ratsam sein könnte, ihn doch zu erklimmen, wenn Markus sich erst in seinem Schatten ausgeruht hätte. Ein Berg wie dieser musste doch einen Schatten werfen, und ganz davon abgesehen war er ja der Orientierungspunkt, den Markus gewählt hatte, um sich nicht zu verirren, und wenn er auch so gut wie keine Kraft mehr hatte und manchmal dachte, kaum noch voranzukommen, war er doch die ganze Zeit zielstrebig auf diesen Berg zugelaufen und hatte diese verdammte Sonne, die mit unverminderter Intensität auf ihn einbrannte, immer links von sich gehabt. Irgendwann war er dann zum wiederholten Mal gestürzt und anscheinend sogar ein paar Minuten bewusstlos gewesen, aber das änderte nichts daran, dass es ein Ding der Unmöglichkeit war, die Sonne jetzt im Rücken zu haben, wenn er sich zu dem Berg drehte. Eigentlich müsste sie ihm von schräg links vorne ins Gesicht scheinen, erst recht, falls er doch etwas länger als nur ein paar Augenblicke gelegen haben sollte. Vielleicht gab es nicht nur einen Berg am Horizont? Er taumelte, als er sich umschaute, stürzte erneut und wurde beim Aufstehen daran erinnert, dass auch das linke Knie inzwischen lädiert war und höllisch schmerzte, wenn er es zu stark belastete.
Einen zweiten Berg sah er nicht, war sich auf einmal überhaupt nicht mehr sicher, ob der Horizont überhaupt eine nennenswerte Erhebung aufwies oder der angebliche Berg am Ende bloß eine arglistige Täuschung war. Er fühlte sich, als habe er endgültig verloren, als mache es jetzt auch keinen Sinn mehr, noch einmal zu überlegen, in welche Richtung er bis jetzt gegangen war. Er tat es trotzdem, vertraute auf seine Erinnerung, dass die Sonne immer links von ihm gestanden hatte, ging jetzt genau auf sie zu. Vielleicht war es sinnlos, aber er musste es versuchen.

Dass die Piste, die er irgendwann in der Ferne ausgemacht hatte, nicht auch bloß wieder eine Einbildung war, konnte Markus Dörner erst glauben, als er sie erreichte. Jetzt war es nicht nur die Erschöpfung, die ihn zu Boden gehen ließ, denn er hatte das Bedürfnis, die Piste zu berühren und sich davon zu überzeugen, dass es sie wirklich gab. Reifenspuren waren nicht zu erkennen, doch das musste ja nichts heißen, versuchte er sich Mut zu machen, denn es konnte doch immerhin sein, dass ein vorbeifahrendes Fahrzeug auf einer solchen Piste gar keine Spuren hinterließ oder diese bereits nach wenigen Stunden nicht mehr zu sehen waren. Gerettet war er noch lange nicht, und natürlich konnte es gut sein, dass Monate vergangen waren, seit hier zuletzt ein Auto entlanggekommen war, doch Markus verspürte einen deutlichen Auftrieb: Verirren konnte er sich jetzt nicht mehr, außerdem fiel ihm das Laufen auf der Piste deutlich leichter als zuvor im offenen Gelände, und irgendwo musste diese Piste schließlich hinführen, und dort gäbe es dann bestimmt auch endlich etwas Trinkbares.
Es dauerte etwas mehr als eine halbe Stunde, bis die neue Energie verflogen war und die Erschöpfung ihn wieder einholte. Am Horizont war nach wie vor nichts zu erkennen, keine Siedlung, nicht mal ein einziges Haus. Vielleicht hätte er besser in die andere Richtung gehen sollen, dachte er, aber dafür war es jetzt zu spät. Die Sonne brannte zum Glück nicht mehr ganz so intensiv, war aber nach wie vor deutlich zu spüren, und das würde sicher bis zu ihrem Untergang so bleiben. Wenn sie erst verschwunden wäre, wäre es bestimmt ratsam, nicht weiterzugehen, denn sonst liefe er am Ende noch Gefahr, die Piste im Dunkeln doch wieder zu verlieren. Bis es gänzlich dunkel sein würde, mochte es noch gute zwei Stunden dauern, aber welches Ziel sollte er in diesen zwei Stunden erreichen können? Es war aussichtslos, das war es von vorn herein gewesen, und jetzt machte es keinen Unterschied mehr, ob er noch ein paar Meilen lief oder sich einfach hinsetzte.

Dann hörte er auf einmal ein Geräusch, das ihm wie das Dröhnen eines Motors vorkam, und als er sich aufrichtete, sah er in der Ferne tatsächlich ein Auto. Suchten sie ihn und wäre seine Flucht in wenigen Minuten zu Ende? Oder nahte dort hinten seine Rettung? Zu entscheiden gab es nichts, denn verstecken könnte er sich eh nicht und wusste, dass er das Risiko eingehen musste. Das Fahrzeug war noch zu weit weg, um es wirklich erkennen zu können, würde ihn aber bald erreichen, und er sollte die Zeit vielleicht nutzen, um sich eine halbwegs plausible Erklärung dafür einfallen zu lassen, dass er hier in der Wüste herumirrte.
Immerhin trug er seinen Reisepass bei sich, hatte ihn an dem Tag, da die Wachen im Forschungszentrum das Kommando übernahmen und die Wissenschaftler zu Gefangenen degradierten, denen ab sofort jeder Kontakt zur Außenwelt strengstens untersagt war und unmöglich gemacht wurde, in eine kleine Plastiktüte gesteckt und diese stets unter der Kleidung an seinen Körper geklebt. Er hatte sich gewundert, dass die Wachen nicht daran dachten, die Pässe einzukassieren, doch sie hielten das offensichtlich nicht für wichtig, hatten es anscheinend nicht für möglich gehalten, dass jemand aus dem Komplex fliehen könnte, und nur die Herausgabe der Mobiltelefone verlangt.
Der Wagen kam näher und Markus Dörner erkannte, dass es ein schon etwas betagter Pickup war, sagte sich, dass das ein gutes Zeichen sei, da die Wachen bestimmt andere Fahrzeuge zur Verfügung hätten, wenn sie nach ihm suchen würden. Der Mann hinter dem Steuer, dessen Gesicht noch immer nicht klar zu erkennen war, trug einen breitkrempigen Hut und schien wie sein Fahrzeug nicht gerade jung zu sein. „Auch das ist ein gutes Zeichen“, dachte Markus, denn so einen alten Mann würden sie ihm bestimmt nicht auf den Hals hetzen. Der Kerl konnte natürlich trotzdem etwas mit ihnen zu tun haben, vielleicht etwas angeliefert oder einen Job auf dem Gelände verrichtet haben. Oder war er auch dafür schon zu alt? Aber was gab es sonst in dieser Gegend?
Markus ging ihm ein paar Schritte entgegen, winkte mit beiden Armen, wollte den Fahrer sehen lassen, dass er nichts in den Händen hatte, dabei aber jedes Anzeichen von Panik vermeiden und einen möglichst sicheren und gefassten Eindruck machen. Der Wagen war noch ein gutes Stück entfernt, wurde aber bereits langsamer. Der Augenblick der Entscheidung nahte. Noch einmal ging Markus ein paar Meter in Richtung des Fahrzeugs, doch dabei trat er einmal falsch auf, spürte sofort wieder diesen heftigen Stich im linken Knie und hoffte inständig, dass der Fahrer seine schmerzverzerrte Grimasse nicht gesehen hatte. Als der Wagen zum Stehen kam, erblickte Markus ein Gewehr auf den Beinen des alten Mannes. Er hielt es mit einer Hand, ließ die andere am Steuer, hob jetzt den Lauf ein bisschen an, so dass die Mündung genau auf Markus Dörner gerichtet war. Seine Stimme klang rau und misstrauisch: „Wer sind Sie? Was machen Sie hier draußen?“
„Entschuldigen Sie“, sagte Markus, dem in der Zeit, da er die Ankunft des Fahrzeugs erwartet hatte, keine bessere Idee eingefallen war, „ich hatte eine Panne. Mein Wagen hat den Geist aufgegeben, und als nach Stunden immer noch niemand vorbeikam, wollte ich zu Fuß bis zum nächsten Ort. Können Sie mich mitnehmen?“
„Was für ein Wagen? Ich habe keinen Wagen gesehen. Wo soll das denn passiert sein?“
Mit dieser Nachfrage hatte Markus rechnen müssen, aber wie sollte er darauf antworten? Es war wie beim Roulette oder beim Pokern: Alles auf eine Karte setzen! Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
„Auf der Hauptstraße. Die Stelle würde ich wiederfinden. Als ich diese Piste gesehen habe, dachte ich, dass sie vielleicht zu einem Ort führen würde, wo ich Hilfe finden könnte. Anscheinend habe ich mich geirrt oder es ist viel zu weit. Bitte helfen Sie mir! Ich habe nichts mehr zu trinken.“
Der alte Mann war noch lange nicht überzeugt, hielt sein Gewehr weiterhin auf Markus gerichtet und wurde jetzt sogar richtig ärgerlich: „Du bist ja vollkommen durchgeknallt. Kein Mensch geht hier draußen zu Fuß weiter, wenn sein Wagen schlappmacht. Hast du eine Ahnung, wie weit es noch ist bis zum nächsten Ort?“
Markus schüttelte den Kopf, spürte die Erleichterung darüber, dass es die erfundene Kreuzung tatsächlich zu geben schien und übte sich weiterhin in Demut: „Nein, Sir, das weiß ich natürlich nicht. Ich bin ja nicht von hier, bin ein Tourist aus Deutschland, war mit einem Leihwagen unterwegs, und der wollte plötzlich nicht mehr weiter. Am Benzin lag es nicht, ganz bestimmt nicht, der Tank ist noch mehr als halb voll. Sicher war es ein Fehler, sich zu Fuß aufzumachen, aber dann war ich schon zu weit gegangen, um einfach umzukehren. Bitte helfen Sie mir! Ich kann Ihnen auch Geld dafür geben.“
Bei seinem letzten Satz war Markus nicht sicher, ob er seine Ankündigung überhaupt wahr machen könnte, doch dieser Satz erwies sich als Türöffner, denn nun schüttelte der Mann verächtlich seinen Kopf, lehnte das Gewehr an die Fahrertür, ließ Markus einsteigen und gab ihm seine Feldflasche, die aber nicht einmal zur Hälfte gefüllt war.
„Mach sie leer!“, sagte er, als er Markus’ vorsichtige Schlucke registrierte, „du hast es
nötig. Zu Fuß den alten Dawnsworthpath entlang! Das fasse ich immer noch nicht. Ich glaube, das war mit Abstand die schlechteste Entscheidung, die du treffen konntest, ganz egal wo deine Karre nun verreckt ist. Wo bist du eigentlich hergekommen?“
Da war es gleich wieder, dieses Gefühl, über ein Minenfeld zu laufen. Jedes Wort konnte falsch sein und ihn möglicherweise sogar das Leben kosten, aber stumm bleiben durfte er auch nicht.
„Wenn wir zurück zur Hauptstraße fahren würden, müssten wir nach links“, begann Markus und versuchte, am Gesicht des alten Mannes abzulesen, ob er auf dem richtigen Weg war. „Wie der letzte Ort hieß, durch den ich gefahren bin, weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr, habe nicht auf den Namen geachtet“, wagte er sich weiter vor und überlegte zugleich, was er tun sollte, falls der Fahrer bei einem seiner Worte plötzlich anhalten und zu dem Gewehr greifen würde. Sollte er dann versuchen, den alten Mann zu überwältigen, ihm vielleicht sogar Gewalt antun? Immerhin verdankte er diesem Mann sein Leben und hatte ganz davon abgesehen noch nie einem Menschen etwas getan und auch nicht vor, das irgendwann einmal zu ändern.
„Als es passierte, kam ich mir wie im Zentrum von nirgendwo vor, habe es gerade noch geschafft, den Wagen auf den Seitenstreifen zu lenken, als der Motor aussetzte. Natürlich würde ich die Stelle wiederfinden, aber ich brauche wohl einen Mechaniker, um die Karre wieder flott zu kriegen. Oder sind Sie zufällig einer?“, fragte Markus, registrierte das erneute Kopfschütteln des Fahrers und wurde sich erst anschließend der Gefahr bewusst, dass er langsam übermütig werden könnte. Seine Glückssträhne war geradezu unverschämt, denn anscheinend gab es nicht nur diese erfundene Kreuzung und war der Fahrer nicht aus der Richtung gekommen, die Markus angegeben hatte, sondern traf es auch zu, dass die nächste Ortschaft so weit entfernt und so winzig war, dass Markus’ Angaben plausibel wirken konnten. Dennoch sollte er sich jetzt nicht dazu verleiten lassen, mehr als notwendig zu riskieren.
„Du hast Glück“, meinte der alte Mann schließlich. „Bei uns gibt es einen Mechaniker, er heißt Larry und ist sogar ziemlich gut. Der hat bisher noch jeden Wagen wieder zum Fahren gebracht. Aber heute wird das wohl nichts mehr. Es ist ja schon ziemlich spät, und wir müssen auch noch ein ganzes Stück fahren, ehe wir da sind.“
„Das macht nichts“, erwiderte Markus, der froh war, die Frage nach dem Ursprung seiner Fahrt abgewendet zu haben, „ich habe es nicht eilig. Gibt es bei Ihnen eine Pension oder ein Motel? Dann könnte ich dort übernachten. Vielleicht hat Ihr Freund morgen Zeit für mich, und wenn nicht, kann ich wenigstens telefonieren. Dann soll die Leihwagenfirma sich etwas einfallen lassen.“
Diesmal nickte der alte Mann. Ein Motel gebe es, und sein Name sei Marc. „Dann heißen wir ja beinahe gleich“, entfuhr es Markus, der sich zu spät fragte, ob es nicht klüger gewesen wäre, einen anderen Namen zu nennen. Andererseits wäre diese kleine Lüge für einen Verfolger wahrscheinlich kein ernsthaftes Hindernis und erwies sich der nahezu identische Name als verbindender Faktor, denn dass Namensvettern sich gegenseitig halfen, verstand sich ja wohl von selbst.
„Es war trotzdem verrückt von dir, dich zu Fuß auf den Weg zu machen“, sagte Marc schließlich. „Nicht nur, weil wir hier in der Wüste sind. Du hast wahrscheinlich keine Ahnung, aber irgendwo da draußen haben sie so eine Anstalt hingesetzt, und die Jungs, die dort eingesperrt sind, müssen so ziemlich das Übelste sein, was es überhaupt gibt. Wahrlich keine gute Gegend für ausgedehnte Spaziergänge.“
Das Wort traf wie einen Hammer, die mühsam aufgebaute Entspannung war auf einen Schlag dahin. „Eine Anstalt? Was denn für eine Anstalt?“, stammelte Markus mehr, als dass er sprach.
„Ein Gefängnis, ein Knast, was weiß ich. Man erzählt sich Dinge, genaues weiß niemand. Es ist alles streng geheim, und das soll auch so bleiben. Sonst haben wir hier irgendwann auch so einen Rummel wie in Guantánamo. Da unten hat doch heute jeder Terrorist drei oder vier Rechtsanwälte, und alle reden von Menschenrechtsverletzungen, wenn einer der Sträflinge mal nicht jeden Tag seine Lieblingsspeise serviert bekommt. Unsere Jungs wissen ja kaum noch, wie sie ihren Job machen sollen, wenn ihnen die ganze Welt auf die Finger guckt. Ich hoffe nur, dass es diese Weltverbesserer trifft, wenn die Terroristen das nächste Mal zuschlagen, und nicht wieder einen Haufen Unschuldige. Wenn es noch ein bisschen Gerechtigkeit gibt, sollte es so sein.“
Markus Dörner nickte betreten. Irgendeine Reaktion musste er ja zeigen, etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Gern hätte er gefragt, ob die Aussagen des alten Mannes auf Gerüchten basierten, bloße Vermutungen waren oder man der örtlichen Bevölkerung tatsächlich gesagt hatte, das Forschungszentrum sei ein Straflager, aber diese Frage konnte er natürlich nicht stellen, selbst wenn er wieder in der Lage gewesen wäre zu sprechen. Er musste weg aus dieser Gegend, so schnell und so weit wie möglich.
„Du brauchst aber nicht so besorgt zu gucken“, redete Marc schließlich weiter, „bei uns ist bisher noch keiner rausgekommen, und so wird es auch bleiben!“ Wieder nickte Markus und bald darauf endete die Piste an einer asphaltierten Straße. Marc stoppte den Wagen: „Wenn du es bis hierhin geschafft hättest … Das hättest du nie im Leben, aber nehmen wir es bloß einmal an: Wie hättest du dich entschieden? Rechts oder links?“
„Links“, sagte Markus, und Marc gab Gas. „Alle Achtung! Du triffst ja hin und wieder sogar mal eine richtige Entscheidung. Trotzdem solltest du nie vergessen, dass du nicht in deinem kleinen, engen Deutschland bist. Bei uns hast du zu Fuß keine Chance, und für morgen sage ich dir, dass noch ein Abzweig kommt, ehe wir die Stadt erreichen. Du musst also erst an der zweiten Kreuzung abbiegen. Verstanden?“
Markus nickte.

Es war fast dunkel, als sie die Stadt erreichten, die zwar das Wort City in ihrem Namen führte, aber nur eine Ansammlung schmuckloser Häuser entlang einer nicht minder öden Straße zu sein schien. Immerhin gab es dieses Motel, zu dem Marc seinen Passagier nun brachte und es sich nicht nehmen ließ, noch mit hineinzukommen.
„Sieh mal, wen ich dir hier bringe“, sagte er zu dem Mann an der Rezeption, der sich mehr für den laufenden Fernseher interessierte. „Zu Fuß auf dem Dawnsworthpath unterwegs, als wäre es eine Strandpromenade!“, posaunte Marc weiter. Natürlich war Markus ihm zu großem Dank verpflichtet, wünschte sich nun aber bloß noch, dass er endlich ginge.
Der Mann an der Rezeption wirkte noch immer teilnahmslos und würde vielleicht nur einmal mit den Schultern zucken und keine Fragen stellen, wenn Markus sagte, dass er doch kein Zimmer wollte und wieder verschwände, doch so lange Marc noch anwesend war, ging das natürlich nicht.
Ein freies Zimmer gab es, die Fächer mit den Schlüsseln waren fast alle voll. Markus sollte die Nacht im Voraus bezahlen, griff an seine Gesäßtasche, in der die Geldbörse mit den Kreditkarten steckte, und versuchte, kein Erstaunen zu zeigen, als die Karte tatsächlich zu funktionieren schien und er sie ohne Beanstandung zurückbekam. Damit hatte er nun ein Zimmer für die Nacht und konnte sich endlich von Marc verabschieden, der zum Glück Verständnis dafür hatte, dass Markus keinen Wert darauf legte, noch heute Abend dem Mechaniker vorgestellt zu werden. Eine Dusche und ein Bett seien alles, was er noch heute wolle, sagte er Marc, und der nickte und machte sich von dannen.
Als er den Schlüssel im Schloss herumdrehte und die Tür öffnete, dachte Markus, dass es lange es her sein musste, dass zuletzt ein Mensch dieses Zimmer betreten hatte. Aus dem uralten Wasserhahn über dem kleinen Becken kam lange Zeit nur ein mit Luftblasen durchsetztes braunes Zeug, doch als die Brühe endlich klar wurde, war Markus’ Durst größer als sein Ekel. Das Bett war von einer Tagesdecke aus Plastik bedeckt und wirkte darunter auch nicht viel einladender, übte dann aber einen regelrechten Sog aus, und Markus spürte die Versuchung, sich seiner Müdigkeit zu ergeben. Er wusste, dass er nicht einschlafen durfte, denn es würde Ewigkeiten dauern, ehe er wieder erwachte, und morgen früh würde Marc wieder in dieses Motel kommen, womöglich gleich mit dem Mechaniker im Schlepptau, und spätestens dann sollte Markus besser so weit wie möglich weg sein. Er hatte keine Vorstellung davon, wie es möglich sein sollte, noch heute aus diesem Kaff zu verschwinden, aber irgendwie musste er es schaffen, und einschlafen durfte er auf gar keinen Fall.

Draußen war es inzwischen richtig dunkel geworden. Markus schlich die Hauptstraße entlang, hoffte inständig, dass Marc ihn nicht sähe und fragte sich, wonach er eigentlich suchen sollte. Eine Bushaltestelle gab es in diesem Dorf bestimmt nicht, eine Autovermietung hätte ihr Büro sicherlich an der Hauptstraße, doch so sehr Markus sich auch konzentrierte, um kein noch so unscheinbares Hinweisschild zu übersehen, musste er doch irgendwann einsehen, dass er nichts entdecken würde. Einen kleinen Supermarkt gab es, der war sogar noch geöffnet, und außen war ein Geldautomat in die Mauer eingelassen. Markus schaute sich um, ging vorsichtig auf den Automaten zu und steckte seine EC-Karte hinein. Dass er sie noch hatte, war nicht weiter verwunderlich, denn im Forschungszentrum hatte Geld nie eine Rolle gespielt. Für das mäßige Essen in der Kantine musste niemand bezahlen, und ansonsten gab es keine Möglichkeiten Geld auszugeben. Daran änderte sich auch nach der Machtübernahme durch die Wachen nichts, die sich für die Geldkarten der Insassen ebenso wenig interessierten wie für deren Pässe. Trotzdem konnte er jetzt kaum glauben, dass er zur Eingabe seiner Geheimzahl aufgefordert und anschließend gefragt wurde, welchen Betrag er ausgezahlt bekommen wollte. War seine Flucht am Ende noch gar nicht aufgefallen?
Er wählte den höchsten Betrag, der möglich war, hielt die Scheine anschließend immer noch ein bisschen ungläubig in der Hand und hoffte, dass das Geld ihm helfen würde, diesen Ort zu verlassen. Durch das Fenster sah er einen Mann an der Kasse des Supermarkts, ansonsten schien der Laden leer zu sein.
Markus trat ein, überlegte, ob und wie er den Kassierer um Hilfe bitten sollte, als er die großen Wasserflaschen erblickte, die jeweils zu sechst in Plastikfolie eingeschweißt waren. Einzeln könne er die leider nicht verkaufen, meinte der Verkäufer, aber nach einem ausgedehnten Wüstenspaziergang müsse man doch durstig genug sein, um auch ein Sixpack vertragen zu können, setzte er lachend fort. Markus spürte das Blut in seinen Adern gefrieren, wollte den Laden auf der Stelle verlassen und fragte sich erst, als er wieder auf der Straße war, warum er auf einmal gedacht hatte, dass er sich verdächtig machen würde, wenn er das Sixpack nicht kaufte. Bestimmt war es die Müdigkeit, die das klare Denken erschwerte, und sie tat auch weiterhin ihr Bestes, denn obwohl Markus sicher war, dass es seine Lage nicht verschlechtern würde, wenn er fünf der gerade gekauften Flaschen einfach auf die Straße stellte, schaffte er es nicht, den Gedanken in die Tat umzusetzen. Vielleicht war er so müde, dass er irgendetwas übersehen hatte und die abgestellten Wasserflaschen seinen Verfolgern am Ende doch eine wertvolle Spur böten. Er entschied sich also, den nutzlosen Ballast weiter mit sich herumzuschleppen, musste ihn dann aber doch abstellen, als er merkte, dass er beide Hände brauchte, um die Verpackung des Schokoriegels aufzureißen, den er an der Kasse des Supermarktes gesehen und zusammen mit den Wasserflaschen gekauft hatte. Der Riegel schmeckte gar nicht schlecht, doch der erste Bissen brachte auch alle Magensäfte in Bewegung und ließ Markus spüren, wie lange er schon nichts mehr gegessen hatte. Er musste dringend etwas essen und fragte sich, ob die Kneipe, vor der er stand und durch deren Fenster er in den schummerigen Innenraum guckte, tatsächlich über eine Küche verfügte. Auf dem Schild stand zwar „Bar & Restaurant“, doch das Schild mochte uralt und lange nicht mehr aktuell sein, auf jeden Fall hatte keine der wenigen Gestalten, die an der Bar hockten oder um den Billardtisch standen, einen Teller vor sich stehen. Markus wollte trotzdem eintreten, als ihm einfiel, dass die Männer in der Bar wahrscheinlich allesamt längst wussten, dass Marc heute einen Fußgänger in der Wüste aufgelesen hatte. Womöglich wäre Marc sogar auch da drinnen, oder der Mechaniker Larry. Markus müsste viele Fragen beantworten und würde sich irgendwann in Widersprüche verwickeln, bis schließlich jemand ahnte, dass etwas mit der Geschichte nicht stimmen konnte. Es wäre wohl keine gute Idee, in diese Bar zu gehen, zumal Markus sicher sein konnte, auch dort niemanden zu finden, der ihn von hier wegbrächte.
Er ging ein paar Schritte weiter, bis er die großen Scheinwerfer eines herannahenden Trucks sah, und sich wünschte, in einem solchen Truck zu sitzen. Als er merkte, dass der Truck immer langsamer wurde, je näher er kam, wähnte er sich in einem Fiebertraum, doch das war kein Traum, denn der Truck verlor weiter an Geschwindigkeit und kam schließlich genau vor der Bar zum Stehen. Der Fahrer stieg aus seiner Kabine und ging in die Bar, hatte aber offensichtlich nicht vor, lange dort zu bleiben, denn er ließ das Licht brennen und hatte seinen Laster nicht einmal ganz von der Fahrbahn heruntergefahren. Bestimmt musste er bloß einmal aufs Klo und würde gleich zurückkommen
Markus überlegte, wie er den Fahrer überzeugen könnte, ihn mitzunehmen, doch was immer ihm einfiel, beinhaltete die Möglichkeit einer Ablehnung und war deswegen viel zu riskant. Er betrachtete den Spalt zwischen der Schlafkabine und dem Auflieger, hätte gern gewusst, welche Verwirbelungen sich bei voller Fahrt in einem solchen Zwischenraum bildeten, doch die Zeit drängte, und er musste seine Entscheidung fällen, ohne sich kundig machen zu können. Würde der Spalt auch in einer scharfen Kurve breit genug für ihn sein? Vielleicht waren diese Gedanken überflüssig, weil die Fahrt während der nächsten hundert Kilometer doch nur Schnur geradeaus ginge, und Markus sich bloß gut festhalten und durchhalten müsste, bis sie die nächste größere Stadt erreichten, wo eine rote Ampel oder irgendein anderer Halt die Gelegenheit zum Abspringen böte, und es keinen Marc, keinen Larry und keinen angeblich in der Wüste verreckten Leihwagen gäbe. Die Gefahr, während der nächtlichen Fahrt von dem Fahrer oder irgendeiner anderen Person entdeckt zu werden, war sicherlich zu vernachlässigen, und eine Alternative gab es letztendlich nicht.

~ ~ ~ ~ ~

Der Schrecken setzte zeitgleich mit dem Erwachen ein. Ohne zu wissen, wie spät es war, spürte Markus Dörner augenblicklich, dass er viel zu lange geschlafen und wertvolle Zeit verloren hatte. Schlagartig erinnerte er sich an das misstrauische Gesicht des Mannes an der Rezeption, das auch, als Markus den geforderten Preis für das Zimmer bar bezahlt hatte, keine wesentliche Entspannung gezeigt hatte. Die Pension war mindestens ebenso erbärmlich wie das Motel in dem Kaff, aus dem Markus geflohen war, doch es war ihm, als er in der beinahe schon einsetzenden Morgendämmerung endlich eine Stadt erreicht und unbemerkt von dem Laster hatte abspringen können, ganz recht gewesen, eine ganz einfache und eher schäbige Zuflucht aufzusuchen, weil er sicher war, angesichts seines Zustands in jedem besseren Haus sofort verdächtig zu sein. Aber war das hier nicht genauso?
Immerhin schien der Mann an der Rezeption nicht sofort die Polizei angerufen zu haben, denn die wäre bestimmt längst hier aufgekreuzt. Welcher Polizist hätte darauf verzichtet, sich einen Ausländer in dreckigen, zerrissenen Klamotten, der ohne Gepäck unterwegs war und sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, einmal näher anzuschauen?
Markus’ Aussehen war im Moment sicherlich seine Achillesferse, denn so lange er sich kein anderes Outfit zugelegt hätte, würde er überall auffallen. Beim Kleiderkauf stand er allerdings vor demselben Problem wie bei der Quartiersuche, denn ein gutes Bekleidungsgeschäft könnte er in seinem Aufzug unmöglich betreten.
Immerhin hatte er schlafen können, obwohl das angesichts des Tages, der hinter ihm lag, wahrscheinlich an jedem Ort dieser Welt möglich gewesen wäre. Als er endlich seine Uhr fand, musste er zudem feststellen, dass sein Schlaf nur wenige Stunden gedauert hatte, in jedem Fall viel zu kurz, als dass er ihm wenigstens zu einem etwas frischeren und gesünderen Gesichtsausdruck verholfen hätte. Er würde viele Tage brauchen, um sich von den Strapazen und all der Anspannung seiner Flucht zu erholen und spürte durchaus die Versuchung, sich einfach wieder hinzulegen, doch er ahnte, dass er jetzt, nachdem seine Gedanken schon wieder so viele Spiralen gedreht hatten, eh nicht mehr einschlafen würde, und hatte außerdem keine Zeit zu verlieren. In Sicherheit war er noch lange nicht, und es würde nichts nutzen, den Moment hinauszuzögern, da er sich den Gefahren stellen musste, die möglicherweise draußen auf ihn lauerten.

Die Sonne brannte genauso heiß wie am gestrigen Tag, doch die Häuserfluchten der Stadt boten wenigstens hin und wieder einen Schatten. Als Markus von dem Truck abgestiegen war, hatte er kaum ausmachen können, wohin es ihn verschlagen hatte. Erst jetzt bemerkte er den vielen Müll auf den Straßen und die vergitterten Ladenfronten, von denen etliche auch jetzt am Tag geschlossen waren, anscheinend für immer. Es war aber bestimmt nicht schlecht, in einem eher heruntergekommenen Viertel gelandet zu sein, denn hier würde er vielleicht nicht ganz so sehr auffallen. Ein Grund zur Entspannung war das aber sicher noch nicht, denn Markus rechnete fest damit, dass sein Bild mittlerweile in allen Kanälen gezeigt worden war. Neue Kleidung würde seine Probleme also nicht unbedingt lösen, doch er brauchte sie trotzdem dringend und musste vor allem endlich etwas essen.
Das Obst in dem Supermarkt, den er schließlich ausfindig machte, sah nicht mehr sonderlich frisch aus, doch Markus kaufte reichlich davon, entdeckte dann noch einen Ständer mit billigen T-Shirts, nicht weit davon ein paar einfache Jeans, und Zeitungen gab es auch. Sie waren in Plastikfolie eingeschweißt, so dass es nicht möglich war, im Laden in ihnen zu blättern. Markus nahm zwei lokale Ausgaben, verließ den Laden und ging auf direktem Weg zurück zu seiner Pension. Die Rezeption, die beim Verlassen der Herberge verwaist gewesen war, war nun leider wieder besetzt. Ob er noch eine Nacht bleiben wolle? Markus nickte, griff in seine Hosentasche und schaffte es dieses Mal sogar, einen einzelnen Schein herauszuziehen, ohne das ganze Bündel zum Vorschein zu bringen.
„Ich lerne langsam“, dachte er auf seinem Zimmer, doch nur einen Augenblick später überkam ihn die Erkenntnis, dass er sich an ein Leben auf der Flucht überhaupt nicht gewöhnen wollte. Er war Wissenschaftler, kein Verbrecher, hatte niemandem etwas getan und wusste, dass niemand auf der Welt das Recht hatte, ihn zu verfolgen, einzusperren oder gar umzubringen.
In den beiden Zeitungen fand er tatsächlich Artikel, in denen die Bevölkerung um Mithilfe gebeten wurde, doch der Mann auf dem Foto wies nicht die geringste Ähnlichkeit mit Markus Dörner auf und schien wirklich ein entlaufener Sträfling zu sein. Er blätterte weiter, aber da war nichts, nicht die geringste Notiz, auch beim zweiten Blättern nicht.
Endlich machte er sich über das Obst her, zog dann das neue T-Shirt an und stellte fest, dass es völlig außer Form war, was ihm im Laden leider nicht aufgefallen war. Markus legte nicht viel Wert auf Kleidung, doch da auch die neue Hose nicht richtig passte, kam er sich nun vor wie eine Witzfigur. Immerhin waren die neuen Sachen ohne Risse und nicht so verdreckt wie die alte Kleidung, die jetzt achtlos auf dem Boden lag.
Spätestens morgen würde er dieses Zimmer für immer verlassen, doch einstweilen spürte er, dass er sich gegen die schier übermächtige Müdigkeit, die ihn auf einmal befiel, nicht würde wehren können. Der geschundene Körper forderte nun seinen Tribut, und Markus schaffte es gerade noch, die neuen Sachen auszuziehen (er hatte ja nichts anderes und durfte die neue Kleidung nicht auch gleich wieder verschleißen), bevor er auf das Bett niedersank. Sein letzter klarer Gedanke war, dass er nicht vergessen durfte, dass all sein Geld noch in der alten Hose steckte, die er aber zusammen mit dem T-Shirt sowieso besser mitnähme, wenn er von hier verschwände.
zweites Kapitel: grenzwertig
 

Ofterdingen

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Hallo Axel,

An äußerer, situativer Spannung fehlt es nicht, doch verstolperst du dich gelegentlich in den Formulierungen, zum Beispiel hier: "Sollte er dann versuchen, den alten Mann zu überwältigen, ihm vielleicht sogar Gewalt antun?" Überwältigen hat immer mit Gewalt zu tun, durch die beflissene Verdoppelung entsteht weder sprachlicher noch sittlicher Nährwert.

Was den inneren Spannungsbogen betrifft: Wahrscheinlich ist es immer eine der schwersten Übungen, Geschehen glaubwürdig darzustellen, das man nicht schon selbst durchlebt hat. Warum sonst würden so viele Erzähler immer über sich selber schreiben?

Gruß,
Ofterdingen
 

axel

Mitglied
Hallo Ofterdingen,
danke zunächst für deinen Kommentar. Mit der konkreten Formulierung hast du natürlich vollkommen recht, ich habe sie (nicht hier, aber daheim) längst verändert und, da ich auch von anderer Seite in ähnlicher Weise "gestubst" worden bin, den gesamten Text noch mal auf überlange Sätze und Ähnliches durchforstet.

Der zweite Teil deines Kommentars gibt mir zu denken, denn "endlich mal etwas anderes!" kann das genauso heißen wie "Schuster, bleib bei deinen Leisten!"
Grübel, grübel...
 



 
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