Flug 714 nach Sảo Paulo

RoToll

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Roland Pauli stammte ursprünglich aus dem Westerwald. Doch der Lauf des Lebens hatte ihn endlich nach Sảo Paulo geführt, was eigentlich so niemals geplant gewesen war. Im Rahmen seines Germanistik und Romanistik-Studiums an der Bonner Universität war er für zwei Gastsemester an die Universidade de Sảo Paulo gegangen und hatte sich eilig in die Megametropole und deren Einwohner verliebt. Über zwanzig Jahre lag das nun zurück und aus dem Studenten war ein Professor für Germanistik geworden, welcher mittlerweile gänzlich in der größten Stadt Südamerikas lebte und an der dortigen Universität lehrte. Sein brasilianisches Portugiesisch besaß den Slang der Metropole und fast alle seine Freunde lebten in Sảo Paulo. Roland Pauli war längst ein wahrer Paulista geworden.

Zweimal im Jahr, zum Sommer auf der Nordhalbkugel und über Weihnachten-Neujahr kehrte er jedoch in die alte Heimat, in jene beschauliche Kleinstadt in den Bergen des Mittelgebirges zurück. So geschah es auch im Laufe dieses Julis. Zunächst besuchte er seine nunmehr betagten Eltern und fragte sich wieder einmal, wohin all die Jahre gegangen seien. Die letzten zwei Tage aber verbrachte Roland bei seinem Jugendfreund Thorsten in Montabaur, wo sie durch die überschaubare, aber nette Kneipenszene zogen. Thorsten war es auch, der ihn am frühen Donnerstagmorgen über die Autobahn die recht kurze Strecke nach Frankfurt am Main zum Flughafen fuhr, von wo aus Roland per Lufthansa Direktflug 714 nach Sảo Paulo zurückkehren wollte. Der Flug ging um 08:55 Uhr und sicherheitshalber brachen sie bereits um halb sechs auf.

Das Letzte, woran sich Roland erinnern konnte, waren die Sechsuhrnachrichten im Radio und dass Thorstens schwarzer Audi einen LKW mit der Aufschrift LIP überholte. Dann sah er das Gesicht einer hübschen schwarzhaarigen Frau, die ihm sagte: „Sie haben einen heftigen Unfall auf der Autobahn gehabt und sind nun auf der Intensivstation der Uniklinik Frankfurt. Sie werden die Sache ganz sicher überleben. Auch ihr Freund kommt durch. Alles ist gut.“

Obgleich Roland nicht wusste, warum genau er hier zwischen all den flackernden medizinischen Gerätschaften lag, dachte er zunächst und sagte es vielleicht gar halblaut zu der jungen Ärztin: „Verdammt, jetzt habe ich meinen Flug nach Sảo Paulo verpasst!“

Den Ablauf des Geschehens erfuhr er dann einen Tag später von einem elegant frisierten Oberarzt im typisch weißen Kittel und mit Stethoskop um den Hals. Bei dem Audi sei ein Reifen geplatzt und der Wagen daraufhin in die Leitplanke gekracht, weil Thorsten die Kontrolle verloren habe. Das allein sei nicht so schlimm gewesen. Die Krassheit des Unfalls habe ausgemacht, dass der Audi auf die Fahrbahn zurückgetrudelt und dann von einem Kleintransporter erfasst worden wäre. Die Feuerwehr habe lange gebraucht, die beiden Schwerverletzten aus dem Wrack zu befreien. Ein Hubschrauber habe sie dann in die Uniklinik Frankfurt geflogen. Thorsten gehe es den Umständen entsprechend gut. Ihn hätten die Verletzungen etwas mehr zugesetzt. In ein bis zwei Tagen könne Roland zu ihm. Im Moment würde ein Besuch noch zu viel Kraft kosten.

Ein geplatzter Reifen! Meine Herren! Ein defektes Stück Hartgummi hätte meinen besten Freund und mich beinahe getötet! Verdammtes Scheißteil! War es ein Materialfehler? War es Fusch in der Produktion? War es ein Gegenstand auf der Fahrbahn? War es einfach nur Zufall? Oder Schicksal?

Das Gespräch, nachdem Roland Pauli aus seinen intensiven Gedanken zurückgekehrt war, ging noch eine kleine Weile und Roland erwähnte eher beiläufig den verpassten Flug nach Sảo Paulo. Das Gesicht des Oberarztes wurde daraufhin starr. Beinahe ungläubig schaute er aus der berühmten Wäsche.

„War das etwa Flug 714, der um 08:55 Uhr von Frankfurt abgeflogen ist?“, hakte der Doktor nach, was Roland bejahte und noch fragte, worauf der Gesprächspartner hinauswolle. Für seine Antwort brauchte der Arzt eine Weile, als überlegte er, wie er diese am besten ausdrücken konnte.

„Nun“, fing er schließlich mit sichtlicher Bewegung sowie Vorsicht in der Stimme an, „Lufthansaflug 714 von Frankfurt nach Sảo Paulo ist über dem Atlantik abgestürzt. Die Maschine war ganz plötzlich von den Radarschirmen verschwunden. Man weiß noch nicht, was genau passiert ist. Ein Terroranschlag durch eine Bombe wird ebenso wenig ausgeschlossen wie ein technischer Defekt oder menschliches Versagen. Der Flugschreiber wurde noch nicht gefunden, dessen Auswertung eventuell Licht ins Dunkel bringen könnte. Überhaupt haben die Suchschiffe erst wenige Wrackteile geborgen. Jedoch steht eine Sache mittlerweile unweigerlich fest; von Flug 714 hat keine Seele, die sich an Bord befunden hat, überlebt.“

Schweigen herrschte nach diesen Worten in dem Krankenhauszimmer. Aber Roland Pauli wurde sofort bewusst, dass es das Schicksal mit dem Reifen gewesen war. Und dieses Schicksal hatte es verdammt gut mit ihm gemeint.
 



 
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