Flusslandschaft mit Ungeheuern (gelöscht)

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Parsifal

Gast
Flußlandschaft

Hallo Willibald,

beim Lesen Deiner Erzählung (denn eine Kurzgeschichte ist sie eigentlich nicht) ging mir tausenderlei durch den Kopf. Da ist das, was Du als „nüchtern-sachlich“ bezeichnest. Ich sehe gerade darin ein Positivum, das den Leser mehr anspricht, als wenn Du versucht hättest, Gefühle zu beschreiben. Denn der aufmerksame Leser liest „Gefühle“ aus der Wahl der Worte und reagiert auf bestimmte Reizworte, auch wenn sie dem Autor unbewußt in den Text eingeflossen sind.

Muß man wirklich alles „intellektuell scharf genug“ fassen? Wie, wenn dieses „intellektuelle“ Erfassen dazu führte, daß unser ganzes Denken und Fühlen nur ein „rosa Rauschen“ wäre?

Zwar ist's mit der Gedankenfabrik
Wie mit einem Weber-Meisterstück,
Wo ein Tritt tausend Fäden regt,
Die Schifflein herüber hinüber schießen,
Die Fäden ungesehen fließen,
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt.

Ich fände es entsetzlich, wenn dieses Schlagen von tausend Verbindungen berechnet und vorhergesagt werden könnte. Können wir „le homme maschine“ wirklich ernsthaft herbeiwünschen? –

Allem, was Du über Religion, Menschen und Welt sagst, stimme ich zu – mit einer Einschränkung. Du sagst selbst: „Welt und menschliches Leben ist nichts anderes als die Selbstoffenbarung eines Erhabenen, eines Ungeheuren, eines Sublimen, das uns mit Fertigkeiten und Anlagen ausstattet und verbraucht.“ An anderer Stelle sagst Du: „Eine überlegene Instanz […] dürfte Illusion sein.“

„Mein Stolz, der wurde kleiner.
Ich merkte mit Verdruß:
es kann doch unsereiner
nur denken, wie er muß.“

Kann sich ein Biologe wirklich die Welt als ein „sich selbst installierendes und entwickelndes Phänomen“ vorstellen? Ich jedenfalls kann mir eine Wirkung ohne Ursache nicht vorstellen. – Und was einen „gütigen Gott“ betrifft: man sollte das Geschwätz der Kirchenleute nicht auf die Goldwaage legen. Die Christen behaupten einen gütigen Gott, die Juden bestehen auf einem Rachegott. Aber alle haben recht und unrecht zugleich: Ignoramus et ignorabimus! Die Haltung eines Agnostikers scheint mir noch die ehrlichste zu sein.

Aber zurück zu Deinem Text. “Der Fluß tätschelte schmatzend das Ufer und alle Konturen ringsum schienen sich aufzulösen.“ Vielleicht war das gar nicht Deine Absicht, aber mit diesem bildkräftigen Satz legt sich für mich ein goldenes Licht über den ganzen Text. –

Vielleicht ist es für einen Autor interessant, was den Leser zum Lesen bewogen hat und welche Assoziationen sich bei ihm einstellten. Bei der Überschrift assoziierte ich sofort Seelandschaft mit Pocahontas, und bei „Nordfriedhof“ Otto Flakes Erzählung „Des trocknen Tones satt“.

Mit herzlichen Grüßen
Parsifal
 
Prosa

Hi Willibald,

klare, abgeklärte Prosa, die mit ihren kleinen Zwischentiteln eine ausgezeichnete Struktur hat. Eine Stelle hat mich überrascht oder ich habe sie nicht ganz in ihrer Konsequenz verstanden:

"Nordfriedhof

Cornelia hat nach einem Au-pair-Aufenthalt in London einen Psychologen geheiratet, der etwa zwanzig Jahre älter ist als sie. Ich lebe in München in einer Eigentumswohnung im sechsten Stock. ..."


Nach einem einzigen Satz über Cornelia, der, wenn ich es richtig sehe, keine direkte Beziehung zum Thema "Nordfriedhof" hat, kommt nun das Leben des Ich-Erzählers. Dieser Cornelia-Einstieg wirkte beim ersten Lesen für mich wie eine kleine Irreführung. Vielleicht passt der Cornelia-Satz besser in das vorherige Kapitel, wo beide Kinder erwähnt sind und vom Sohn Arthur berichtet wird. Das ist nur ein Gedanke zu deiner ruhigen, kenntnisreichen Prosa, die tatsächlich eher erzählt wirkt und weniger die Merkmale einer Shortstory besitzt.

Beste Grüße
 

Willibald

Mitglied
@flammarion, Parsival, Monfou

Carissimi lectores!

Dear Flammarion,

Danke für die aufmunternde Würdigung der Story.

Dear Monfou,

1) das Tochter-Motiv ist bedenkenswert, das sieht William auch so. Ein paar Anskizzierungen:

a) Blindes Motiv in der Konstruktion des Autors, sagt nichts über den Ich-Erzäher aus

b) das Tochtermotiv - Tochter ist verheiratet mit 20 Jahre älterem psychologen - eröffnet latent, trotz allen Ordnungswillens des erzählenden Ichs - eine eigenmächtige Welt: Bewusstsein, Erinnerungen, Todesnähe (auch die Psychologengattin muss mit einem Witwentum rechnen) und die Offenheit für (oft tröstliche) Erinnerungen aus der individuellen
Vergangenheit.

c) Solche Erinnerungen stehen quer zu der Wissenschaftlichkeit („Nulla scientia de singularibus“) der Naturwissenschaften und durchkreuzen so deren Werthorizont, in dem es - so glaubt man - weit weniger Spekulation zu bedauern gibt als in den ideographischen Wissenschaften.

d) Die Passage öffnet gleichzeitig eine sensitive - das ist jetzt nicht als Klischee zu misverstehen - weibliche Perspektive: Der Junge hat seine tröstlichen Erlebnisse im Umkreis der Großmutter, das zärtliche Wesen in der Burnus-Episode ist offen für weibliche und männliche Züge, die Grabsteininschrift eines Mannes nimmt das Agnostizismus-Motiv der Schläfenlappenpassage auf und dementiert sie in einem individuellen Fall.

2) die Textsortenproblematik sieht William auch, hier ein bisschen eine Skizze dazu:

a) eine lineare, klar strukturierte Erzählung liegt kaum vor, vielmehr/doch wird sie ja als Tagebucheintrag eines alten Mannes ausgewiesen, der sich seiner wissenschaftlichen Attitüde zu vergewissern scheint, ohne sie für das einzig gültige Erfahrungsmittel zu halten. Bis zu einem gewissen Grad tastet er sich aus diesem rationalen Horizont in den mythisch-animistischen Horizont seiner Kindheit, ohne sich dabei in esoterischen Standards zu verfangen oder sie abzuwerten.

b) Bis zu einem gewissen Grad liefert er so einen offenen Schluss und die ganze Geschichte ist doch insgesamt punktuell, tentativ und dient der Aufhellung einer Bewusstseinsphase und einer Mentalität, all dies in einem Tagebucheintrag mit expliziten Deutungsangeboten des erzählenden Ichs, mit Irrititationen und mit einem finalen Deutungsvakuum. Kurz: das muss nicht unbedingt eine „Erzählung“ im engeren Sinne sein.

Dear Parsifal,

1) Das Gottesmodell

a) der fiktive Biologenerzähler liefert mindestens drei Gottesmodelle, ein atheistisches (kein fürsorglicher Gott), ein agnostisches (vgl. die Schläfenlappenepisode) und ein pantheistisch-geheimnisvolles (vgl. die Burnusepisode).

b) Dass er sich nicht so recht entscheidet und dabei seine biologisch-evolutionäre Perspektive nicht aufgibt, aber die Konkurrenzpositionen doch auch offenlässt, ist vielleicht ein wichtiger Reiz seiner Schreibweise und Mentalität.

c) Dass die Welt und die Evolution uns Menschen „ausstattet und verbraucht“ ist gar nicht von der Hand zu weisen. Dann: Warum sollte die Welt eine „Wirkung“ sein. Es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass sie eine Erstursache ist. Wenn sie es nicht ist, dann kann immer noch eine unendliche Kette von Ursache und Wirkung existieren - Verdikt gegen den infiniten Regress hin oder her.

Und wenn es ihn doch gibt, den Erstverursacher jenseits der weltlichen prozesse, was hat es dann mit seiner „Güte“ und seiner „providentia“ im engeren Sinne auf sich? Man mag solche Attribute als naiver Sicht entsprungen bezeichnen, aber was unterscheidet einen Gott jenseits solcher naiven Merkmale von einem Nicht-Gott?

Der naive Rachegott jedenfalls des alten Testamentes ist sicherlich ein strafender und belohnender Gott für seine gehorsamen oder ungehorsamen Kinder. Und er vernichtet, so sie es denn verdienen, die Feinde des auserwählten Volkes. Und ein Hiob kann zumindest teilweise berechtigt das Wohlbefinden einklagen, das ihm aufgrund seines Wohlverhaltens vom Sponsor und Allierten Gott zugebilligt werden müsste, wenn es denn gerecht zugeht.

2) Intertextualität/Anspielungen:

Die „Seelandschaft mit Pocahontas“ spukt hier auf jeden Fall explizit herein: Selbstgewisse Lehrer werden dort ja ein bisschen angepflaumt und dies hat das erzählende Ich im Buch markiert. Statt der glücksspendenden Pocahontas bei Arno Schmidt tauchen hier doch zumindest einige weibliche Instanzen auf und liefern im Erhabenen und im Ungeheuren aggressive (Hexen?) und zärtliche Bilder.

Beim „Nordfriedhof“ war eher an Thomas Mann gedacht. Der Münchner Friedhof taucht in „Gladius Dei“ und im „Tod in Venedig“ auf. Für alle Fans von „Poesie im realen Alltag“ ein gefundenes Fressen. Vielleicht gibt es auch eine Assoziation an den Beginn von Ingmar Bergmanns „Wilder Erdbeeren“, wenn sich im Tagebucheintrag des Isak Borg ein verstörendes Bild meldet.

Puh, das ist jetzt alles ein bisschen lang geworden. Und es mögen auch die Untergliederungen ein wenig dozierend wirken, sind aber eher als Selbstklärungsmittel gemeint.

Aber vielleicht ist das Posting auch jenseits solcher Entschuldigungen als Ausgleich und Dank für die investierte Sorgfalt Eurer Lektüre zu goutieren.

Salute.
 
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