Da ich mich entschlossen habe, mein Leben vorzeitig zu beenden, ja erst gar nicht recht zu beginnen, fühle ich Ruhe und Erleichterung. Auch meine Mutter wird erleichtert sein, später, wenn mein Vater sie verlassen haben wird. Schon jetzt ahnt sie, dass ihn das Kind nicht am Fortgehen hindern wird. Sie wird weinen, meinen Tod beklagen und ihm Trost abnötigen, aber sie wird auch spüren, dass eine Last von ihr genommen wurde.
Ich weiß nicht, wo meine Eltern einander kennengelernt haben. Die Vergangenheit ist keine Angelegenheit der Ungeborenen. Wir sind reines Werden, wissen nichts vom Gestern, aber fühlen das Morgen in einer Deutlichkeit, die Gewissheit ist. Sind wir geboren, ist alles vergessen und die Vergangenheit beginnt. Ich weiß also nicht, wo und wie sie einander begegnet sind, nur, dass sich ihre Lebenswege bald trennen werden. Man wird vermuten, dass der Verlust des Kindes das junge Paar einander entfremdet hat, aber das ist nicht der Fall. Aus der Sicht meines Vaters macht er die Trennung nur ein wenig leichter, denn er will nicht die Frau und nicht das Kind, jetzt jedenfalls nicht, später vielleicht, eine andere Frau und ein anderes Kind. Sein Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen.
Meine Mutter ist noch sehr jung, selbst noch "ein halbes Kind", sagt meine Großmutter. Sie hätte sich nicht schwängern lassen sollen, jetzt jedenfalls nicht. Sie arbeitet als Sekretärin in der Kanzlei eines Steuerberaters, wo sie wie ein Kind behandelt und bezahlt wird. Das gefällt ihr nicht, es langweilt sie und macht den Rücken krumm und die Schenkel dick. Die Worte, die sie schreibt, sind nicht ihre Worte, nur hin und wieder macht ihr ein Klient Komplimente. Sie muss immer tun, was ihr andere sagen, in der Arbeit und daheim bei der Mutter. Immer ist sie das Werkzeug, das funktionieren muss. Sie will ein Reich gründen, ein Familienreich, in dem sie die Herrscherin ist und die anderen ihre Untertanen. Dann wäre auch die Kanzleiarbeit leichter, meint sie. Mit dem richtigen Mann will sie ein Kind formen, erst eins, dann ein zweites, aber nicht mehr, weil ihr sonst die Familienregentschaft über den Kopf wachsen könnte. Auch ihr Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen.
Meine Eltern streiten viel, wenn sie allein sind. Wenn andere dabei sind, küssen sie sich und sind zärtlich miteinander. Der Neid der anderen ist ihnen wichtig, vor allem meiner Mutter. Sie möchte jeden Abend ausgehen und versteht nicht, weshalb mein Vater soviel lernen muss. Er hat doch den ganzen Tag Zeit dafür, während sie sich den ganzen Tag auf ihn und aufs Ausgehen freut, vor allem aufs Zurechtmachen. Er ist ein Mann zum Vorführen und Herzeigen und er weiß Dinge, von denen sie nicht die geringste Ahnung hat. Manchmal versteht sie nicht einmal, was er sagt. Das ist ihr peinlich, vor allem, wenn seine Freunde dabei sind, und sie spürt, dass auch er sich geniert. Später wird er sie mit Absicht bloßstellen und sich mit den anderen über sie lustig machen. Aber noch ist es nicht soweit, noch ist sie jung, hübsch und schwanger. Wenn das Kind da ist, denkt sie, wird sie alles nachholen, was sie versäumt hat. Er wird ihr alles beibringen und ihr sagen, was sie lesen soll. Das Wichtigste aber ist, dass sie während der Schwangerschaft nicht viel zunimmt und nach der Entbindung schnell wieder zu ihrem alten Gewicht zurückkehrt. Es soll ein Kaiserschnitt werden, damit man ihr nicht die Mutter zwischen den Beinen ansieht. Es reicht schon, wenn der Busen dann hängt.
Mein Vater studiert Politik und Ökonomie. Er hat Großes mit sich vor. Was es genau ist, weiß er noch nicht, aber er wird alles ausschalten, was ihm im Weg steht. Seit er weiß, dass seine Freundin schwanger ist, ist sein Leben aus den Fugen. Eine Abtreibung kommt nicht in Betracht, weil ihm die Eltern dann die finanzielle Unterstützung entziehen würden. Sie sagen, dass er sich hat reinlegen lassen und jetzt die Suppe auslöffeln muss. Es gibt fast täglich Streit deswegen. Wenn sie es von sich aus tut, sagen sie, können wir das natürlich nicht verhindern, aber von uns gibt es kein Geld dafür.
Das Geld ist ein großes Thema für meine Eltern, vor allem für meine Mutter. Sie verdient sehr wenig und muss davon noch die Hälfte für Kost und Logis an die eigene Mutter abliefern. Du bist zwanzig, heißt es, seit zwei Jahren volljährig, willst du alles für Fetzen, Kosmetik und fürs Telefonieren ausgeben ? Ja, das will sie, weil es sonst nichts gibt, was ihr Spaß macht. Sie will jeden Tag auf dem Heimweg nach der Arbeit mit ihrer Freundin telefonieren und ihr dann Bilder schicken, bevor sie meinen Vater trifft. - Wie findest Du mich ? Glaubst Du, dass ihm die Farbe gefallen wird ? Ich würde ihr gern sagen, dass ihn keine Farbe interessiert, bis auf das Rot meines Blutes. Er hofft auf einen spontanen Abortus, aber er geniert sich für solche Gedanken. Er hat Angst vor mir. Das tote Kind könnte ihn plötzlich aus der Dunkelheit anstarren: Du bist es, der mir das Leben vorenthalten hat. Seine Freunde lachen über solche Phantasien. Es ist ein Zellklumpen, nicht größer als eine Faust, sag ihr, sie soll es wegmachen lassen. Er will, dass meine Mutter ohne sein Zutun auf mich verzichtet. Wird dir denn das alles nicht über den Kopf wachsen: die Arbeit, das Kind, ein eigener Haushalt ? Wenn er so redet, wird sie auch ängstlich. Aber wir werden doch zusammenziehen, wenn Du fertigstudiert hast ?
Mütter müssen zum Leben verführen, müssen mit ihren Küssen und ihrem Lachen das Unbehagen vertreiben, das aus dem unfertigen Körper kommt, müssen die Angst verjagen, wenn die Ahnung aufsteigt, dass man ein Einzelnes ist, müssen wärmen, kühlen, streicheln und nähren. Meine Mutter wird oft weinen und mich nicht beachten, weil sie soviel nachdenken muss. Sie wird sich um ihre Jugend betrogen fühlen und gegen ihr schlechtes Gewissen kämpfen, wenn sie mich allein lässt. Sie wird ihre Launen an mir auslassen. Mein Vater wird zweimal im Jahr Geld und Spielzeug vorbeibringen.
Da ich mich entschlossen habe, mein Leben vorzeitig zu beenden, ja erst gar nicht recht zu beginnen, fühle ich Ruhe und Erleichterung.
Ich weiß nicht, wo meine Eltern einander kennengelernt haben. Die Vergangenheit ist keine Angelegenheit der Ungeborenen. Wir sind reines Werden, wissen nichts vom Gestern, aber fühlen das Morgen in einer Deutlichkeit, die Gewissheit ist. Sind wir geboren, ist alles vergessen und die Vergangenheit beginnt. Ich weiß also nicht, wo und wie sie einander begegnet sind, nur, dass sich ihre Lebenswege bald trennen werden. Man wird vermuten, dass der Verlust des Kindes das junge Paar einander entfremdet hat, aber das ist nicht der Fall. Aus der Sicht meines Vaters macht er die Trennung nur ein wenig leichter, denn er will nicht die Frau und nicht das Kind, jetzt jedenfalls nicht, später vielleicht, eine andere Frau und ein anderes Kind. Sein Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen.
Meine Mutter ist noch sehr jung, selbst noch "ein halbes Kind", sagt meine Großmutter. Sie hätte sich nicht schwängern lassen sollen, jetzt jedenfalls nicht. Sie arbeitet als Sekretärin in der Kanzlei eines Steuerberaters, wo sie wie ein Kind behandelt und bezahlt wird. Das gefällt ihr nicht, es langweilt sie und macht den Rücken krumm und die Schenkel dick. Die Worte, die sie schreibt, sind nicht ihre Worte, nur hin und wieder macht ihr ein Klient Komplimente. Sie muss immer tun, was ihr andere sagen, in der Arbeit und daheim bei der Mutter. Immer ist sie das Werkzeug, das funktionieren muss. Sie will ein Reich gründen, ein Familienreich, in dem sie die Herrscherin ist und die anderen ihre Untertanen. Dann wäre auch die Kanzleiarbeit leichter, meint sie. Mit dem richtigen Mann will sie ein Kind formen, erst eins, dann ein zweites, aber nicht mehr, weil ihr sonst die Familienregentschaft über den Kopf wachsen könnte. Auch ihr Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen.
Meine Eltern streiten viel, wenn sie allein sind. Wenn andere dabei sind, küssen sie sich und sind zärtlich miteinander. Der Neid der anderen ist ihnen wichtig, vor allem meiner Mutter. Sie möchte jeden Abend ausgehen und versteht nicht, weshalb mein Vater soviel lernen muss. Er hat doch den ganzen Tag Zeit dafür, während sie sich den ganzen Tag auf ihn und aufs Ausgehen freut, vor allem aufs Zurechtmachen. Er ist ein Mann zum Vorführen und Herzeigen und er weiß Dinge, von denen sie nicht die geringste Ahnung hat. Manchmal versteht sie nicht einmal, was er sagt. Das ist ihr peinlich, vor allem, wenn seine Freunde dabei sind, und sie spürt, dass auch er sich geniert. Später wird er sie mit Absicht bloßstellen und sich mit den anderen über sie lustig machen. Aber noch ist es nicht soweit, noch ist sie jung, hübsch und schwanger. Wenn das Kind da ist, denkt sie, wird sie alles nachholen, was sie versäumt hat. Er wird ihr alles beibringen und ihr sagen, was sie lesen soll. Das Wichtigste aber ist, dass sie während der Schwangerschaft nicht viel zunimmt und nach der Entbindung schnell wieder zu ihrem alten Gewicht zurückkehrt. Es soll ein Kaiserschnitt werden, damit man ihr nicht die Mutter zwischen den Beinen ansieht. Es reicht schon, wenn der Busen dann hängt.
Mein Vater studiert Politik und Ökonomie. Er hat Großes mit sich vor. Was es genau ist, weiß er noch nicht, aber er wird alles ausschalten, was ihm im Weg steht. Seit er weiß, dass seine Freundin schwanger ist, ist sein Leben aus den Fugen. Eine Abtreibung kommt nicht in Betracht, weil ihm die Eltern dann die finanzielle Unterstützung entziehen würden. Sie sagen, dass er sich hat reinlegen lassen und jetzt die Suppe auslöffeln muss. Es gibt fast täglich Streit deswegen. Wenn sie es von sich aus tut, sagen sie, können wir das natürlich nicht verhindern, aber von uns gibt es kein Geld dafür.
Das Geld ist ein großes Thema für meine Eltern, vor allem für meine Mutter. Sie verdient sehr wenig und muss davon noch die Hälfte für Kost und Logis an die eigene Mutter abliefern. Du bist zwanzig, heißt es, seit zwei Jahren volljährig, willst du alles für Fetzen, Kosmetik und fürs Telefonieren ausgeben ? Ja, das will sie, weil es sonst nichts gibt, was ihr Spaß macht. Sie will jeden Tag auf dem Heimweg nach der Arbeit mit ihrer Freundin telefonieren und ihr dann Bilder schicken, bevor sie meinen Vater trifft. - Wie findest Du mich ? Glaubst Du, dass ihm die Farbe gefallen wird ? Ich würde ihr gern sagen, dass ihn keine Farbe interessiert, bis auf das Rot meines Blutes. Er hofft auf einen spontanen Abortus, aber er geniert sich für solche Gedanken. Er hat Angst vor mir. Das tote Kind könnte ihn plötzlich aus der Dunkelheit anstarren: Du bist es, der mir das Leben vorenthalten hat. Seine Freunde lachen über solche Phantasien. Es ist ein Zellklumpen, nicht größer als eine Faust, sag ihr, sie soll es wegmachen lassen. Er will, dass meine Mutter ohne sein Zutun auf mich verzichtet. Wird dir denn das alles nicht über den Kopf wachsen: die Arbeit, das Kind, ein eigener Haushalt ? Wenn er so redet, wird sie auch ängstlich. Aber wir werden doch zusammenziehen, wenn Du fertigstudiert hast ?
Mütter müssen zum Leben verführen, müssen mit ihren Küssen und ihrem Lachen das Unbehagen vertreiben, das aus dem unfertigen Körper kommt, müssen die Angst verjagen, wenn die Ahnung aufsteigt, dass man ein Einzelnes ist, müssen wärmen, kühlen, streicheln und nähren. Meine Mutter wird oft weinen und mich nicht beachten, weil sie soviel nachdenken muss. Sie wird sich um ihre Jugend betrogen fühlen und gegen ihr schlechtes Gewissen kämpfen, wenn sie mich allein lässt. Sie wird ihre Launen an mir auslassen. Mein Vater wird zweimal im Jahr Geld und Spielzeug vorbeibringen.
Da ich mich entschlossen habe, mein Leben vorzeitig zu beenden, ja erst gar nicht recht zu beginnen, fühle ich Ruhe und Erleichterung.
Zuletzt bearbeitet: