Nun erzähl doch mal, sagen die wiedergefundenen Freunde, was war eigentlich mit dir los? Und ich beginne zu erzählen, versuche, einen wahrheitsgetreuen Bericht zu erstatten; merke nach wenigen Sätzen, wie ich mich verliere in Schilderungen, Emotionen, von einer Wahrnehmung zur anderen springe. Unentschlossen. Nicht chronologisch. Nicht detailgetreu.
Aber wo soll ich beginnen? Wann fing es an? Als sie mir den Schlauch in den Hals operiert haben? Fing es an, als jeder Bordstein ein unüberwindbares Hindernis darstellte? Oder später, als ich nur noch da liegen und auf einen gnädigen, raschen Tod hoffen konnte. Ganz ruhig, heiter, ganz gelassen. Fast unwillig mich den dann doch noch eintreffenden Rettern überlassend. Ach lasst mich doch. Das lohnt sich doch gar nicht mehr.
Fing es an, als ich Türen und Fenster verriegelte, auf kein Telefon, keine Türglocke mehr reagierte, nicht mehr die Kraft hatte, von allen lieb gehabt zu werden? Keine Lust mehr, mir all die kleinen und großen Probleme anzuhören, die man auf meine ach so starken Schultern packte, nicht mehr aufstand. Was geht s mich an, ob es draußen regnet oder die Sonne scheint.
Oder doch viel früher, an diesem kalt-verschneiten Abend meines 52. Geburtstags, als ich - von damals angenommenen Freunden denunziert, beleidigt, beschimpft - mit rumorendem Gedärm durch die Berliner Straßen rannte? Bloß noch rechtzeitig ankommen, bloß nicht diese Peinlichkeit auf offener Straße, diese Demütigung, den Blicken der späten Passanten ausgesetzt. Ich habe es nicht rechtzeitig geschafft.
Und dieser besoffene, entgleiste Mensch, der Mühe hatte, seinen Blick zu fokussieren, bevor er lallte: Weißt du was? Du bist krank. Schwer krank. Warum hat mich das so getroffen? Weil er die Wahrheit gesagt hatte.
Und dann die Blicke. Diese Blicke, zwischen Abscheu, Mitleid und Unverständnis schwankend. Das junge Paar im China-Imbiss beobachtete voller Interesse meinen Versuch, eine kleine Schüssel Suppe in mich hinein zu würgen. Dreimal musste ich zwischendurch zur Toilette, und jedesmal, wenn ich zurück kam, waren sie noch ein bisschen gespannter, noch ein bisschen lüsterner. Noch ein bisschen schamloser.
Fing es an mit diesen dummen Weibern und ihren dummen Bemerkungen: Ach, ich wäre auch gerne mal so schön schlank; wie machst du das nur? Hätte ich noch die Kraft gehabt, ich hätte ausgeholt und sie mitten in ihre grinsenden, verlogenen Fratzen geschlagen. Heute hätte ich die Kraft. Aber heute interessieren sie mich nicht mehr.
Keiner hat je gefragt: Geht s Ihnen nicht gut? Wozu auch. Jeder konnte sehen, dass es mir nicht gut ging. Keine Fragen, nur Feststellungen: Aha. Magersüchtig.
Nein, nein, ich bin nicht magersüchtig, ich habe eine kranke Schilddrüse, die sich gebärdet wie ein kläffender Köter, der sich losgerissen hat und mir nun alles weg frisst, was ich verzweifelt zu mir zu nehmen versuche, verstehen Sie. Glauben Sie mir, ich krieche auf allen Vieren zum Kühlschrank auf der Suche nach etwas Essbarem, das drin bleibt.
Ich habe Schmerzen, ja. Fürchterliche Schmerzen im Gedärm, in jedem einzelnen Gelenk, allen Nervenenden. Meine Zunge, meine Mundhöhle sind von einem weißen Schleim überzogen, der brennt, sobald ich versuche, auch nur ein Stück Brot zu essen. Ich kann nicht mehr schlucken Aber ich kann auch nichts mehr unternehmen, verstehen Sie. Weil es zu spät ist. Weil der Köter mich in eine tiefe Depression getrieben hat. Ich bin gezwungen, mein Leben aus mir heraus zu kotzen und zu scheißen, verstehen Sie. Und ich kann nichts dagegen tun. Verstehen Sie, ich bin nicht magersüchtig, ich bin... Ach, wozu. Keiner hat je gefragt. Fing es damit an?
Ich glaube, es fing an, als ich geboren wurde.
Und doch ging es weiter.
Krankenhaus. Professionell-zugewandte Hilfe, die keine Gegenleistung erwartet. Besorgnis in den Gesichtern der Ärzte und Schwestern. Jemand sorgt sich? Um mich? Wir kämpfen gemeinsam um jedes einzelne Gramm. Ich werde gelobt für jedes einzelne Gramm. Jemand lobt mich? Mich? Es hat unendlich lange gedauert. Aber dann haben wir es gemeinsam geschafft, mich endlich, endlich unsichtbar zu machen. So unsichtbar, wie es sich für eine ganz normale Frau meines Alters gehört. Ich gestehe, ich musste mich erst daran gewöhnen.
Ich werde weiter berichten, liebe wiedergefundene Freunde. Aber nicht heute. Von jetzt an geht es nur noch vorwärts, aufwärts. Versprochen. Kommt, lachen wir zusammen, erzählen wir, trinken wir noch ein Glas.
Feiern wir meine Unsichtbarkeit.
Aber wo soll ich beginnen? Wann fing es an? Als sie mir den Schlauch in den Hals operiert haben? Fing es an, als jeder Bordstein ein unüberwindbares Hindernis darstellte? Oder später, als ich nur noch da liegen und auf einen gnädigen, raschen Tod hoffen konnte. Ganz ruhig, heiter, ganz gelassen. Fast unwillig mich den dann doch noch eintreffenden Rettern überlassend. Ach lasst mich doch. Das lohnt sich doch gar nicht mehr.
Fing es an, als ich Türen und Fenster verriegelte, auf kein Telefon, keine Türglocke mehr reagierte, nicht mehr die Kraft hatte, von allen lieb gehabt zu werden? Keine Lust mehr, mir all die kleinen und großen Probleme anzuhören, die man auf meine ach so starken Schultern packte, nicht mehr aufstand. Was geht s mich an, ob es draußen regnet oder die Sonne scheint.
Oder doch viel früher, an diesem kalt-verschneiten Abend meines 52. Geburtstags, als ich - von damals angenommenen Freunden denunziert, beleidigt, beschimpft - mit rumorendem Gedärm durch die Berliner Straßen rannte? Bloß noch rechtzeitig ankommen, bloß nicht diese Peinlichkeit auf offener Straße, diese Demütigung, den Blicken der späten Passanten ausgesetzt. Ich habe es nicht rechtzeitig geschafft.
Und dieser besoffene, entgleiste Mensch, der Mühe hatte, seinen Blick zu fokussieren, bevor er lallte: Weißt du was? Du bist krank. Schwer krank. Warum hat mich das so getroffen? Weil er die Wahrheit gesagt hatte.
Und dann die Blicke. Diese Blicke, zwischen Abscheu, Mitleid und Unverständnis schwankend. Das junge Paar im China-Imbiss beobachtete voller Interesse meinen Versuch, eine kleine Schüssel Suppe in mich hinein zu würgen. Dreimal musste ich zwischendurch zur Toilette, und jedesmal, wenn ich zurück kam, waren sie noch ein bisschen gespannter, noch ein bisschen lüsterner. Noch ein bisschen schamloser.
Fing es an mit diesen dummen Weibern und ihren dummen Bemerkungen: Ach, ich wäre auch gerne mal so schön schlank; wie machst du das nur? Hätte ich noch die Kraft gehabt, ich hätte ausgeholt und sie mitten in ihre grinsenden, verlogenen Fratzen geschlagen. Heute hätte ich die Kraft. Aber heute interessieren sie mich nicht mehr.
Keiner hat je gefragt: Geht s Ihnen nicht gut? Wozu auch. Jeder konnte sehen, dass es mir nicht gut ging. Keine Fragen, nur Feststellungen: Aha. Magersüchtig.
Nein, nein, ich bin nicht magersüchtig, ich habe eine kranke Schilddrüse, die sich gebärdet wie ein kläffender Köter, der sich losgerissen hat und mir nun alles weg frisst, was ich verzweifelt zu mir zu nehmen versuche, verstehen Sie. Glauben Sie mir, ich krieche auf allen Vieren zum Kühlschrank auf der Suche nach etwas Essbarem, das drin bleibt.
Ich habe Schmerzen, ja. Fürchterliche Schmerzen im Gedärm, in jedem einzelnen Gelenk, allen Nervenenden. Meine Zunge, meine Mundhöhle sind von einem weißen Schleim überzogen, der brennt, sobald ich versuche, auch nur ein Stück Brot zu essen. Ich kann nicht mehr schlucken Aber ich kann auch nichts mehr unternehmen, verstehen Sie. Weil es zu spät ist. Weil der Köter mich in eine tiefe Depression getrieben hat. Ich bin gezwungen, mein Leben aus mir heraus zu kotzen und zu scheißen, verstehen Sie. Und ich kann nichts dagegen tun. Verstehen Sie, ich bin nicht magersüchtig, ich bin... Ach, wozu. Keiner hat je gefragt. Fing es damit an?
Ich glaube, es fing an, als ich geboren wurde.
Und doch ging es weiter.
Krankenhaus. Professionell-zugewandte Hilfe, die keine Gegenleistung erwartet. Besorgnis in den Gesichtern der Ärzte und Schwestern. Jemand sorgt sich? Um mich? Wir kämpfen gemeinsam um jedes einzelne Gramm. Ich werde gelobt für jedes einzelne Gramm. Jemand lobt mich? Mich? Es hat unendlich lange gedauert. Aber dann haben wir es gemeinsam geschafft, mich endlich, endlich unsichtbar zu machen. So unsichtbar, wie es sich für eine ganz normale Frau meines Alters gehört. Ich gestehe, ich musste mich erst daran gewöhnen.
Ich werde weiter berichten, liebe wiedergefundene Freunde. Aber nicht heute. Von jetzt an geht es nur noch vorwärts, aufwärts. Versprochen. Kommt, lachen wir zusammen, erzählen wir, trinken wir noch ein Glas.
Feiern wir meine Unsichtbarkeit.