Fortuna ist blind - Kapitel 1 und 2

I – Die Ankunft

»Mrs. Oliver?«
Die angesprochene Dame, die ein wenig verloren auf dem Bahnsteig in Southend-on-Sea stand, wendete sich um und blickte in ein weiches, freundliches Männergesicht. »Ja?«
»Ich bin von Mr. Kettridge geschickt worden und soll Sie abholen«, fuhr der Mann mit skandinavischem Akzent fort. Er war in eine dunkle Uniform gekleidet, die um den Bauch herum ein wenig spannte, und hielt eine Chauffeursmütze in der Hand.
»Das ist sehr aufmerksam von ihm. Danke sehr, Mr. …?«
»Peltonen«, antwortete der Mann, setzte sich seine Mütze wieder auf und griff nach den Koffern, die er anschließend in einem schwarz glänzenden Ford Prefect aus den Vorkriegsjahren verstaute, der vor dem Bahnhofsgebäude geparkt war.
»Sie sind nicht von hier, oder?« bemerkte die Besitzerin der Koffer, die ihm gefolgt war.
»Nein, Madam.« Der Chauffeur schloss die Klappe des Kofferraumes und hielt der Dame die Fondtür auf. »Ich stamme aus Finnland.«
Die Reaktion von Mrs. Oliver war so simpel wie bestürzt: »Oh.«
»Ebenso wie der berühmte Sven Hjerson, wenn ich mir erlauben darf das zu sagen.« Peltonen wartete bis sie eingestiegen war, nahm dann selbst vor dem Lenkrad Platz und startete den Wagen. »Wir sind auch sehr stolz auf ihn. Nur, wenn ich etwas anmerken darf, …«
Doch sein Fahrgast ließ ihn nicht ausreden. »Ich würde es vorziehen wenn Sie sich auf die Fahrbahn konzentrieren würden. Ich bin etwas ermüdet von der Reise und nicht in der Stimmung für Diskussionen. Außerdem steht niemand Sven Hjerson näher als ich und ich weiß auch um seine Fehler.« Dass sie diese Reise auch unternommen hatte um sich darüber klar zu werden ob und wie sie Hjerson umbringen sollte, das verschwieg Mrs. Oliver seinem Landsmann lieber. Gedankenverloren spielte sie mit einer Locke ihres grauen Haares, das nie so ganz in den Griff zu bekommen war, während an ihrem Fenster die Küstenlandschaft vorbei zog.

II – Der erste Tag

William Kettridge war ein Held der Arbeiterklasse, ein Mann, der sich von ganz unten hochgearbeitet hatte. Seine Eltern waren Betreiber eines Sägewerks gewesen, später erwarb er noch eine Papiermühle dazu und nun belieferten seine Fabriken den kompletten Süden Englands. Sein untrüglicher Sinn für gute Geschäfte und viel versprechende Geldanlagen gestatteten es dem verknöcherten, alten Knaben nun, die Früchte seiner Arbeit auf einem standesgemäßen Landsitz an der Ostküste Englands zu genießen, während die alltäglichen Geschäfte in den Händen von fähigen Direktoren lagen. Und seinen Kindern erlaubte dieser Umstand, ein sorgloses Leben als Erben eines reichen Mannes zu führen. Er hatte die Ehre gehabt, die bekannte Schriftstellerin Ariadne Oliver im Hause ihres Verlegers kennen zu lernen, dessen Druckerei ebenfalls von seinen Betrieben beliefert wurde. Da sie nun in einer Buchhandlung in dem nahe gelegenen Badeort Southend-on-Sea eine Lesung abhalten sollte, hatte der alte Kettridge es sich nicht nehmen lassen, sie gleich für einige Tage in sein Haus einzuladen. Man hatte sich auf der weitläufigen Terrasse auf der Rückseite des Gebäudes eingefunden. Die hölzernen Bohlen knarrten leicht unter dem Gewicht des Gastgebers. »Ich glaube, Sie kennen meine Söhne noch nicht, Mrs. Oliver.«
»Nur Franklin.« Mrs. Oliver lächelte den braungebrannten Mann mittleren Alters freundlich an. »Wir trafen uns in Ägypten, nicht wahr? Mein Arzt hatte mir zu dieser Reise geraten und Ihr Sohn war dort zu der Zeit an einer Ausgrabung beteiligt.«
»Genauso war es«, bestätigte Franklin, der mit seinen hellen Augen, der Stupsnase und seiner kräftigen Gestalt so gar nicht zu seinem Vater, der eine Hakennase besaß und stets in gebeugter Haltung umher schritt, was ihm etwas zutiefst geierartiges verlieh, zu passen schien. »Ich bin erfreut, Sie wieder zu sehen.«
»Ganz meinerseits. Ich hoffe, von ein paar Ihrer weiteren archäologischen Abenteuer zu erfahren im Laufe dieses Wochenendes.«
»Oh, das wird sich sicher machen lassen.« Ein lebenslustiges Funkeln blitzte in Franklins Augen auf, während er zu seiner Pfeife griff. Es war eine mit Federn geschmückte Indianerpfeife, die in diesem Teil der Welt äußerst exotisch wirkte, aber dennoch sehr gut zu ihrem vielgereisten Besitzer passte.
Mit einem leichten, aber gut hörbaren Aufstampfen seines Gehstocks lenkte der alte Kettridge wieder die Aufmerksamkeit auf sich und begann, die weiteren Anwesenden vorzustellen. »Meine Söhne John und Maxwell.«
Mrs. Oliver nickte den beiden mütterlich zu. Interessant, dachte sie bei sich, wie wenig sich die Brüder gleichen. In der Tat wirkte John in seinem grauen Tweedanzug sehr bieder, während Maxwell mit seinem hellblauen Hemd, dem weißen Pullunder und der Sonnenbrille in den öligen Haaren einen eher lässigen Eindruck machte.
»Maxwells Frau Eunice und ihr Vater Colonel Withers«, fuhr Kettrige fort.
Die elegant und entspannt wirkende blonde Frau passte sehr gut zu ihrem dandyhaften Ehemann, während der Oberst sich in Steifheit und soldatischer Zurückhaltung übte und nur ein einziges Wort durch seinen buschigen Schnurrbart brummte: »Angenehm.«
»Und das ist …«
Doch Mrs. Oliver schnitt ihrem Gastgeber die Worte ab. »Dr. Rasmussen!« Freudestrahlend ging sie zu dem kahlköpfigen Mann und schüttelte ihm herzlich die Hand, was ihre Armreifen lustig klimpern ließ. »Dieser Mann ist ein Wunderheiler. Vor drei Jahren hat er meine Kur hier begleitet«, erklärte sie dem Rest der Gesellschaft. »Danach fühlte ich mich wie ein neuer Mensch.«
»Sehr liebenswürdig von Ihnen, Mrs. Oliver«, entgegnete der Bäderarzt, der eine sehr sonore Stimme besaß, etwas verlegen. Auch wenn es dieser Bescheidenheit eigentlich nicht bedurft hätte, war er auf seinem Gebiet doch tatsächlich eine Koryphäe.
»Ich nehme an, dass Sie sich erstmal etwas frisch machen wollen«, sprach der Gastgeber weiter und drückte auf einen Knopf in der Nähe der Tür. Wenige Augenblicke später erschien der Butler. »Bitte zeigen Sie Mrs. Oliver ihr Zimmer, Glover.«
»Sehr wohl, Sir.«
Mrs. Oliver verabschiedete sich also fürs Erste und ließ sich von Mr. Glover auf ihr Zimmer führen.
»Hier bitte, Madame.« Glover öffnete eine Tür und enthüllte der Schriftstellerin einen pastellfarben gestrichenen, hellen Raum. Ihre Koffer standen schon ausgepackt neben ihrem Bett. Das Hausmädchen schloss gerade den Kleiderschrank und machte einen höflichen Knicks.
Für all das hatte Mrs. Oliver aber keine Augen. Ihr Blick ging zu einer altmodischen Kommode, auf der eine Schale mit frischen Äpfeln stand. Ja, hier werde ich mich wohl fühlen, dachte sie und lächelte in sich hinein.

Beim Dinner am Abend hatte sich die Gesellschaft im Haus der Kettridges noch um eine zusätzliche Person erweitert. Mr. Leighton, der Besitzer der Buchhandlung, war hinzu gestoßen, um mit Mrs. Oliver im Anschluss noch die letzten Einzelheiten abzuklären. Er war ein guter Esser, was man ihm, zu seinem Leidwesen, auch ansah. »Meine Glückwünsche an Ihre Frau, Glover. Sie hat sich mal wieder selbst übertroffen.«
Der Butler, der abseits an Tür des Speisezimmers stand und bereit war, den Herrschaften jeden ausgesprochenen und auch jeden unausgesprochenen Wunsch eilends zu erfüllen, nickte höflich. »Danke, Sir. Ich werde es ihr ausrichten.«
Zufrieden widmete sich der füllige Leighton wieder dem zarten Filet.
Mrs. Oliver kam nicht umhin, während des gesamten Abendessens immer wieder einige Blicke auf die ungleichen Söhne William Kettridges zu richten. Irgendetwas erschien ihr an ihnen falsch. So, als wenn sich ein Puzzleteil in den falschen Kasten verirrt hätte. Als sie später am Abend allein auf der Terrasse saß, grübelte sie noch einmal darüber nach.
»Ist Mr. Leighton schon wieder weg?«
Mrs. Oliver schrak aus ihren Gedanken hoch und blickte auf.
Es war Dr. Rasmussen. »Verzeihen Sie. Ich wollte Sie nicht erschrecken«, entschuldigte er sich sogleich.
»Keine Sorge. Es ist nichts passiert. Ich war nur in Gedanken. Mr. Leighton hat sich schon vor einer halben Stunde von mir verabschiedet.«
»Darf ich mich dann zu Ihnen setzen?«
»Aber gerne.«
Dr. Rasmussen nahm in einem der Korbstühle Platz. »Wobei habe ich Sie denn gerade gestört? Geht Ihnen eine Idee für ein neues Buch im Kopf herum?«
Mrs. Oliver schüttelte den Kopf. »Nein. Kettridges Söhne. Ich werde das Gefühl nicht los, dass da irgendetwas nicht stimmt.«
Rasmussen blinzelte vergnügt. »Sie sind sehr scharfsinnig. Franklin ist in der Tat nicht Kettridges leiblicher Sohn. Er wurde adoptiert. Hat er Ihnen das nie erzählt?«
»Nein.« Mrs. Oliver war ehrlich erstaunt. »Er hat immer von seinen Eltern geschwärmt.«
»Die Kettridges haben sich auch immer Mühe gegeben, keinen von ihren Söhnen zu bevorzugen oder zu benachteiligen.«
»Warum haben sie ein Kind adoptiert?« Die Neugierde der Autorin war geweckt.
»Ganz einfach. Es sah zunächst so aus als könne Kettridges Frau keine Kinder bekommen, also adoptierten sie nach mehreren Jahre Ehe eines. Und zwei Sommer später kam dann John zur Welt. Psychologisch übrigens ein sehr interessantes und gar nicht einmal so seltenes Phänomen. Auch wenn Psychologie nicht mein Fachgebiet ist. Es ist jedenfalls so, als wenn sich dann ein innerer Knoten lösen würde. Der ganze seelische Druck ist auf einmal weg.«
»Ich verstehe. Dann ist es wirklich umso anständiger von den Kettridges, dass sie Franklin nicht anschließend als Kind zweiter Klasse behandelt haben. Dennoch …« Sie hielt inne. »Auch bei den anderen beiden passt nicht alles ins Bild.«
»Nun, sie sind im Gegensatz zu Franklin sicher keine besonders schillernden Persönlichkeiten. John mag unscheinbar sein und Maxwell etwas oberflächlich, aber sie sind beide ganz in Ordnung.«
»Da steckt mehr dahinter, Doktor. Vertrauen Sie mir. Eine Frau spürt so etwas.«
Dr. Rasmussen strich sich über den kahlen Schädel. »Nun, wenn Sie das sagen.«
»Sie können ja nichts dafür, mein Lieber. Ihnen fehlt halt einfach die weibliche Intuition.« Mit einem befriedigten Ausdruck im Gesicht lehnte sich Mrs. Oliver zurück.
 

Billyboy

Mitglied
erste Kleinigkeiten

Hallo Thorsten,

ich fange mal an mit meinen Bemerkungen. Ich habe erst einen kurzen Abschnitt gelesen, möchte mich aber zu zwei Dingen äußern, die mir aufgefallen sind.
1.
Held der Arbeiterklasse
ist sicher kein passender Ausdruck, wenn man über einen erfolgreichen Unternehmer spricht. Die Arbeiterklasse war der sog. vierte Stand und stellte die Unterschicht dar. Von ganz unten hat er sich sicher nicht hoch gearbeitet, wenn seine Eltern bereits ein Sägewerk betrieben. Er hat sich offensichtlich ziemlich weit hoch gearbeitet und besitzt diverse Fabriken. Das ist aber ein Unterschied.

2.
»Genauso war es«, bestätigte Franklin, der mit [blue]seiner aufrechten Haltung,[/blue]seinen hellen Augen, der Stupsnase und seiner kräftigen Gestalt [strike][red][blue]so gar nicht zu seinem Vater, der eine Hakennase besaß und stets in gebeugter Haltung umher schritt, was ihm etwas zutiefst geierartiges verlieh, zu passen schien[/red][/strike]seinem Vater so gar nicht ähnlich schien. Dessen Hakennase verlieh dem gebeugten Mann eine eher geierartige Erscheinung.[/blue]
Später mehr.
 
Ebenfalls hallo Thorsten! ;)

Danke für deine beiden ersten Anmerkungen. Das ist natürlich beides vollkommen richtig. Zu 1) werde ich mir in der Überarbeitung mal etwas einfallen lassen. Entweder eine bessere Formulierung (Held des Mittelstands?), oder ich passe Williams Vorgeschichte noch etwas an.

Und bei 2) offenbart sich mal wieder meine größte schriftstellerische Schwäche. Der Hang zu langen Schachtelsätzen. Deshalb bin ich dir für diese Korrektur besonders dankbar und hoffe, dadurch solche Satzgebilde auch vermeiden zu lernen.

Ich freue mich schon auf deine weiteren Kommentare.
 

Billyboy

Mitglied
während der Oberst sich in Steifheit und soldatischer Zurückhaltung übte und nur ein einziges Wort durch seinen buschigen Schnurrbart brummte: »Angenehm.«
würde ich ersetzen durch:

[blue]während der Oberst sich in Steifheit und soldatischer Zurückhaltung übte und nur "Angenehm" durch seinen buschigen Schnurrbart brummte.[/blue]

ließ sich von [red][strike]Mr.[/strike][/red] Glover auf ihr Zimmer führen
die Anrede Mr. für einen Butler wird m.M. nach von untergebenen Personen verwendet, Gleich- oder höhergestellte werden den Butler direkt beim namen nennen. Das gilt sicher auch für den Erzähler.

einen pastellfarben gestrichenen, hellen Raum
ist doppelt, pastell ist i.d.R. eine wenig kräftige Farbe; bzw. man nennt die Farbe beim Namen...
 
würde ich ersetzen durch:
Ich denke, beide Versionen haben ihre Berechtigung. Bei mir wird eben die Wortkargheit noch einmal extra hervorgehoben ("nur ein einziges Wort"). Welche Version allerdings eleganter ist, vermag ich nicht zu beurteilen.

Das gilt sicher auch für den Erzähler.
Das stimmt wohl. Im Rest der Geschichte habe ich auch immer nur Glover geschrieben. Die Stelle wird dann in der überarbeiteten Fassung editiert.

Ebenso wird dann auch das "-farben" spezifiziert.
 
Z

zugast

Gast
Das hat in meinen Augen nichts mit Literatur zu tun. Ich kann keine Idee erkennen, auch keine schlechte.
Wozu also die "Übung"?
 
Das hat in meinen Augen nichts mit Literatur zu tun.
Wie definierst du Literatur?

Ich kann keine Idee erkennen, auch keine schlechte.
Vielleicht sind zwei Kapitel einfach noch zu wenig, um eine Idee zu erkennen? Was will man außerdem von Kriminalgeschichten im klassischen Sinne großartig für Ideen erwarten, außer eben von einem Verbrechen und seiner Aufklärung zu erzählen? Ich erhebe da auch keinen Anspruch auf viel Anspruch. Zumal der der Geschichte zugrunde liegende Plot auch noch aus meiner Schulzeit stammt, sich aber aus meiner Sicht als Grundlage zu einem "einfachen" Landhauskrimi durchaus geeignet hat.

Wozu also die "Übung"?
Aus Spaß an der Freude? Aus Neugier, ob mir nach Kurzkrimis im Geiste von Edgar Wallace auch einer im Geiste von Agatha Christie gelingt (die auch schon beide nicht wirklich für hohe Literatur stehen, um darauf nochmal zurück zu kommen)? Weil ich selbst solche Krimis sehr gerne lese? Weil Ariadne Oliver eine meiner liebsten Figuren aus der Feder von Agatha Christie ist (so wie ich zum Beispiel auch mal Geschichten mit dem Geheimagenten James Bond als Protagonisten sowohl mit- als auch allein geschrieben habe, weil ich Fan der Bücher und Filme bin)? Also mir reicht das als Gründe. Hinzu kommt noch der allgemeine Grund, dass Rückmeldungen hier im Forum zu jeglichem Text eigentlich nur gut sein kann zur Verbesserung des eigenen Schreibstils, selbst wenn das Schreiben (bisher) nur just for fun und für einen selbst geschieht (ggf. noch das nähere Umfeld, sofern es solche Geschichten ebenfalls gerne liest, was bei manchen meiner Bekannten durchaus der Fall ist).

Aber jeder so wie er mag. Was wäre für dich denn zum Beispiel eine sinnvolle Übung im Gegensatz zu meinem "einfallslosen", "unliterarischen", trivialen kleinen Landhauskrimi?
 
I – Die Ankunft

»Mrs. Oliver?«
Die angesprochene Dame, die ein wenig verloren auf dem Bahnsteig in Southend-on-Sea stand, wandte sich um und blickte in ein weiches, freundliches Männergesicht. »Ja?«
»Ich bin von Mr. Kettridge geschickt worden und soll Sie abholen«, fuhr der Mann mit skandinavischem Akzent fort. Er war in eine dunkle Uniform gekleidet, die um den Bauch herum ein wenig spannte, und hielt eine Chauffeursmütze in der Hand.
»Das ist sehr aufmerksam von ihm. Danke sehr, Mr. …?«
»Peltonen«, antwortete der Mann, setzte sich seine Mütze wieder auf und griff nach den Koffern, die er anschließend in einem schwarz glänzenden Ford Prefect aus den Vorkriegsjahren verstaute, der vor dem Bahnhofsgebäude geparkt war.
»Sie sind nicht von hier, oder?« bemerkte die Besitzerin der Koffer, die ihm gefolgt war.
»Nein, Madam.« Der Chauffeur schloss die Klappe des Kofferraumes und hielt der Dame die Fondtür auf. »Ich stamme aus Finnland.«
Die Reaktion von Mrs. Oliver war so simpel wie bestürzt: »Oh.«
»Ebenso wie der berühmte Sven Hjerson, wenn ich mir erlauben darf das zu sagen.« Peltonen wartete bis sie eingestiegen war, nahm dann selbst hinter dem Lenkrad Platz und startete den Wagen. »Wir sind auch sehr stolz auf ihn. Allerdings habe ich da dennoch eine Anmerkung, denn …«
Doch sein Fahrgast ließ ihn nicht ausreden. »Ich würde es vorziehen, wenn Sie sich auf die Fahrbahn konzentrieren würden. Ich bin ermüdet von der Reise und nicht in der Stimmung für Diskussionen. Außerdem steht niemand Sven Hjerson näher als ich und ich weiß auch um seine Fehler.« Dass sie diese Reise auch unternommen hatte, um sich darüber klar zu werden, ob und wie sie Hjerson umbringen sollte, das verschwieg Mrs. Oliver seinem Landsmann lieber. Gedankenverloren spielte sie mit einer Locke ihres grauen Haares, das nie so ganz in den Griff zu bekommen war, während an ihrem Fenster die Küstenlandschaft vorbeizog.

II – Der erste Tag

William Kettridge war ein Held des Mittelstands, ein Mann, der sich aus eigener Tatkraft emporgearbeitet hatte. Seine Eltern waren Betreiber eines Sägewerks gewesen, später erwarb er noch eine Papiermühle dazu und nun belieferten seine Fabriken den kompletten Süden Englands. Sein untrüglicher Sinn für gute Geschäfte und viel versprechende Geldanlagen gestatteten es dem verknöcherten, alten Knaben nun, die Früchte seiner Arbeit auf einem standesgemäßen Landsitz an der Ostküste Englands zu genießen, während die alltäglichen Geschäfte in den Händen von fähigen Direktoren lagen. Und auch seine Kinder konnten sich erlauben, ein sorgloses Leben als Erben eines reichen Mannes zu führen. Der alte Kettridge hatte die Ehre gehabt, die bekannte Schriftstellerin Ariadne Oliver im Hause ihres Verlegers kennen zu lernen, dessen Druckerei ebenfalls von seinen Betrieben beliefert wurde. Da sie nun in einer Buchhandlung in dem nahe gelegenen Badeort Southend-on-Sea eine Lesung abhalten sollte, hatte er es sich nicht nehmen lassen, sie gleich für einige Tage in sein Haus einzuladen. Die kleine Wochenendgesellschaft hatte sich auf der weitläufigen Terrasse auf der Rückseite des Gebäudes eingefunden. Die hölzernen Bohlen knarrten leicht unter dem Gewicht des Gastgebers. »Ich glaube, Sie kennen meine Söhne noch nicht, Mrs. Oliver.«
»Nur Franklin.« Mrs. Oliver lächelte den braungebrannten Mann mittleren Alters freundlich an. »Wir trafen uns in Ägypten, nicht wahr? Mein Arzt hatte mir zu dieser Reise geraten und Ihr Sohn war dort zu der Zeit an einer Ausgrabung beteiligt.«
»Genauso war es«, bestätigte Franklin, der mit seiner aufrechten Haltung, seinen hellen Augen, der Stupsnase und seiner kräftigen Gestalt seinem Vater so gar nicht ähnlich schien. Dessen Hakennase verlieh dem gebeugten Mann eine eher geierartige Erscheinung. »Ich bin erfreut, Sie wiederzusehen.«
»Ganz meinerseits. Ich hoffe, von einigen Ihrer weiteren archäologischen Abenteuer zu erfahren im Laufe dieses Wochenendes.«
»Oh, das wird sich sicher machen lassen.« Ein lebenslustiges Funkeln blitzte in Franklins Augen auf, während er zu seiner Pfeife griff. Es war eine mit Federn geschmückte Indianerpfeife, die in diesem Teil der Welt äußerst exotisch wirkte, aber dennoch sehr gut zu ihrem vielgereisten Besitzer passte.
Mit einem leichten, aber gut hörbaren Aufstampfen seines Gehstocks lenkte der alte Kettridge wieder die Aufmerksamkeit auf sich und begann, die weiteren Anwesenden vorzustellen. »Meine Söhne John und Maxwell.«
Mrs. Oliver nickte den beiden mütterlich zu. Interessant, dachte sie bei sich, wie wenig sich die Brüder gleichen. In der Tat wirkte John in seinem grauen Tweedanzug sehr bieder, während Maxwell mit seinem hellblauen Hemd, dem weißen Pullunder und der Sonnenbrille in den öligen Haaren einen eher lässigen Eindruck machte.
»Maxwells Frau Eunice und ihr Vater Colonel Withers«, fuhr Kettrige fort.
Die elegant und entspannt wirkende blonde Frau passte sehr gut zu ihrem dandyhaften Ehemann, während der Oberst sich in Steifheit und soldatischer Zurückhaltung übte und nur ein knappes »Angenehm« durch seinen buschigen Schnurrbart brummte.
»Und das ist …«
Doch Mrs. Oliver schnitt ihrem Gastgeber die Worte ab. »Dr. Rasmussen!« Freudestrahlend ging sie zu dem kahlköpfigen Mann und schüttelte ihm herzlich die Hand, was ihre Armreifen lautstark klimpern ließ. »Dieser Mann ist ein Wunderheiler. Vor drei Jahren hat er meine Kur hier begleitet«, erklärte sie dem Rest der Gesellschaft. »Danach fühlte ich mich wie ein neuer Mensch.«
»Sehr liebenswürdig von Ihnen, Mrs. Oliver«, entgegnete der Bäderarzt mit sonorer Stimme und verlegenem Tonfall, wenngleich es dieser Bescheidenheit eigentlich nicht bedurft hätte, war er auf seinem Gebiet doch tatsächlich eine Koryphäe.
»Ich nehme an, dass Sie sich erst einmal frisch machen wollen«, sprach der Gastgeber weiter und drückte auf einen Knopf in der Nähe der Tür. Wenige Augenblicke später erschien der Butler. »Bitte zeigen Sie Mrs. Oliver ihr Zimmer, Glover.«
»Sehr wohl, Sir.«
Mrs. Oliver verabschiedete sich fürs Erste und ließ sich von Glover auf ihr Zimmer führen.
»Hier bitte, Madame.« Glover öffnete eine Tür und enthüllte der Schriftstellerin einen hellen, in Pastellgelb gestrichenen Raum. Ihre Koffer standen schon ausgepackt neben ihrem Bett. Das Hausmädchen schloss gerade den Kleiderschrank und machte einen höflichen Knicks.
Für all das hatte Mrs. Oliver aber keine Augen. Ihr Blick ging zu einer altmodischen Kommode, auf der eine Schale mit frischen Äpfeln stand. Ja, hier werde ich mich wohl fühlen, dachte sie und lächelte in sich hinein.

Beim Dinner am Abend hatte sich die Gesellschaft im Haus der Kettridges noch um eine zusätzliche Person erweitert. Mr. Leighton, der Besitzer der Buchhandlung, war hinzugestoßen, um mit Mrs. Oliver im Anschluss noch die letzten Einzelheiten abzuklären. Er war ein guter Esser, was man ihm, zu seinem Leidwesen, auch ansah. »Meine Glückwünsche an Ihre Frau, Glover. Sie hat sich wieder einmal selbst übertroffen.«
Der Butler, der abseits an der Tür des Speisezimmers stand und bereit war, den Herrschaften jeden ausgesprochenen und auch jeden unausgesprochenen Wunsch eilends zu erfüllen, nickte höflich. »Danke, Sir. Ich werde es ihr ausrichten.«
Zufrieden widmete sich der füllige Leighton wieder dem zarten Filet.
Mrs. Oliver kam nicht umhin, während des gesamten Abendessens immer wieder einige Blicke auf die ungleichen Söhne William Kettridges zu richten. Irgendwie wollten sie nicht zusammenpassen. So, als wenn sich ein Puzzleteil in den falschen Kasten verirrt hätte. Als sie später am Abend allein auf der Terrasse saß, grübelte sie noch einmal darüber nach.
»Ist Mr. Leighton schon wieder weg?«
Mrs. Oliver schrak aus ihren Gedanken hoch und blickte auf.
Es war Dr. Rasmussen. »Verzeihen Sie. Ich wollte Sie nicht erschrecken«, entschuldigte er sich sogleich.
»Keine Sorge. Es ist nichts passiert. Ich war nur in Gedanken. Mr. Leighton hat sich schon vor einer halben Stunde von mir verabschiedet.«
»Darf ich mich dann zu Ihnen setzen?«
»Aber gerne.«
Dr. Rasmussen nahm in einem der Korbstühle Platz. »Wobei habe ich Sie denn gerade gestört? Geht Ihnen eine Idee für ein neues Buch im Kopf herum?«
Mrs. Oliver schüttelte den Kopf. »Nein. Es sind Kettridges Söhne. Ich werde das Gefühl nicht los, dass da irgendetwas nicht stimmt.«
Rasmussen blinzelte vergnügt. »Sie sind sehr scharfsinnig. Franklin ist in der Tat nicht Kettridges leiblicher Sohn. Er wurde adoptiert. Hat er Ihnen das nie erzählt?«
»Nein.« Mrs. Oliver war ehrlich erstaunt. »Er hat immer von seinen Eltern geschwärmt.«
»Die Kettridges haben sich auch immer Mühe gegeben, keinen ihrer Söhne zu bevorzugen oder zu benachteiligen.«
»Warum haben sie ein Kind adoptiert?« Die Neugierde der Autorin war geweckt.
»Ganz einfach. Es sah zunächst so aus als könne Kettridges Frau keine Kinder bekommen, also adoptierten sie nach mehreren Jahren Ehe eines. Und zwei Sommer später kam dann John zur Welt. Psychologisch übrigens ein sehr interessantes und gar nicht einmal so seltenes Phänomen. Auch wenn Psychologie nicht mein Fachgebiet ist. Es ist jedenfalls so, als wenn sich dann ein innerer Knoten lösen würde. Der ganze seelische Druck ist auf einmal verschwunden.«
»Ich verstehe. Dann ist es wirklich umso anständiger von den Kettridges, dass sie Franklin nicht anschließend als Kind zweiter Klasse behandelt haben. Dennoch …« Sie hielt inne. »Auch bei den anderen beiden passt nicht alles ins Bild.«
»Nun, sie sind im Gegensatz zu Franklin sicher keine besonders schillernden Persönlichkeiten. John mag unscheinbar sein und Maxwell etwas oberflächlich, aber sie sind beide ganz in Ordnung.«
»Da steckt mehr dahinter, Doktor. Vertrauen Sie mir. Eine Frau spürt so etwas.«
Dr. Rasmussen strich sich über den kahlen Schädel. »Nun, wenn Sie das sagen.«
»Sie können ja nichts dafür, mein Lieber. Ihnen fehlt eben einfach die weibliche Intuition.« Mit einem befriedigten Ausdruck im Gesicht lehnte sich Mrs. Oliver zurück.
 



 
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