Fortuna ist blind - Kapitel 3

III – Der zweite Tag

Den nächsten Morgen verbrachte Mrs. Oliver dekadent in ihrem Bett, indem sie dort ihr Frühstück einnahm. Dass sie dadurch eine wichtige Bekanntmachung des Hausherrn an der Frühstückstafel der Familie verpasste, erfuhr sie erst, als sie sich den jungen Leuten anschloss, die den Lunch am Strand einzunehmen gedachten. Mrs. Oliver saß mit Maxwell auf einer einladend ausgelegten Picknickdecke und ließ sich von ihm Tee aus einer Thermoskanne einschenken, während Eunice auf einem Badetuch lag und sich einen breitkrempigen Sonnenhut über das Gesicht gezogen hatte. Franklin hatte sich ins Wasser gewagt und schwamm dort athletisch seine Bahnen. Lediglich John fehlte.
»Im Grunde war es keine wirkliche Überraschung.«
»Nicht?«
»Nein.« Maxwell drehte die Thermoskanne wieder zu. »Auch wenn ich eher damit gerechnet hätte, dass es John treffen würde. Immerhin kennt er sich als Sekretär meines Vaters am Besten mit den Familiengeschäften aus.«
Mrs. Oliver hob ihre Tasse. »Und was bedeutet das für ihren Erbteil?«, fragte sie mit kriminalistischem Spürsinn.
»Wenn er Franklin wirklich die Fabriken vermacht, dann bleiben uns nur noch die Krümel übrig. Die Fabriken sind auf jeden Fall das Sahnestück der Erbmasse.«
»Das erscheint mir aber nicht sehr gerecht zu sein.«
»Muss es das denn?«
Mrs. Oliver trank nachdenklich einen Schluck. »Na ja, Dr. Rasmussen erzählte mir, dass William Kettridge immer sehr viel Wert auf die Gleichberechtigung seiner Söhne gelegt hätte.«
»Bei den Fabriken hört das aber auf«, entgegnete Maxwell. »Mein Vater würde nie zulassen, dass sie nach seinem Tod zerfallen. Es war also nur eine Frage der Zeit, wen er zu seinem Kronprinzen bestimmen würde. Und nun ist eben Franklin der Glückliche.«
»Und das stört Sie gar nicht?«
»Sollte es das?« Der elegante junge Mann setzte seine Sonnenbrille auf und schaute über das Wasser. »Er ist eben der Älteste. Eine höchst traditionsreiche Entscheidung. Im Adel ist es ja seit jeher so.«
»Franklin ist nur adoptiert«, warf die Autorin ein und erntete einen bösen Blick. Zumindest, wenn sie die zusammengekniffenen Augenbrauen Maxwells richtig deutete.
»Hören Sie, wir mögen zwar nicht blutsverwandt sein, doch Franklin war, ist und wird auch immer eines bleiben: mein Bruder.« So hart, wie er diese Worte hervorgepresst hatte, stieß er sich auch vom Boden ab. Dann wendete er sich um.
Eunice lupfte ihren Hut und schaute zu ihm hoch. »Max? Wo willst du hin?«
Maxwell warf einen Blick über seine Schulter. »Ins Bad, wenn es den beiden Damen nichts ausmacht.« Mit diesen Worten verließ er das Picknick am Strand.
Mrs. Oliver biss sich leicht auf die Unterlippe. »Ich habe ihn doch jetzt nicht etwa vergrault, oder?«
»Nein.« Die junge Frau setzte sich auf und strich sich durchs Haar. Es fiel ihr locker auf die Schultern und schimmerte golden in der Mittagssonne. »Er wird sich schon wieder einkriegen. Nur, wenn es um seine Familie geht, ist er leider ein wenig empfindlich.«
»Ach so.« Mrs. Oliver widmete sich wieder ihrem Tee.
Auf dem Weg zurück ins Haus wäre Maxwell beinahe mit Dr. Rasmussen zusammengestoßen, der sich entschlossen hatte, einen kleinen Verdauungsspaziergang zu machen. Maxwell entschuldigte sich und verschwand im Haus. Kopfschüttelnd sah der Doktor ihm nach und erreichte schließlich die anderen. Er lächelte freundlich. »Na, amüsieren sich die Damen gut?«
»Oh ja, es ist ein schöner Tag«, antwortete Mrs. Oliver, die den kleinen Ausflug sichtlich genoss. Nur Eunice blickte abwesend drein.
Rasmussen bemerkte es. »Waren Sie schon schwimmen, Mrs. Kettridge?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sie sollten aber. Das regt Ihren Kreislauf an. Und etwas Sport am Abend lässt Sie auch leichter einschlafen.« Eunice erwiderte nichts darauf und ließ den Doktor unbeschwert weiterreden. »John habe ich auch schon empfohlen, mehr raus zu gehen. Der hockt für seinen Vater ständig nur am Schreibtisch. Aber leider ist er nicht ins Wasser zu bekommen. Er hat Angst vor großen Tiefen.«
»Oh, wie schade«, fand Mrs. Oliver. »Franklin scheint das ja keine Probleme zu bereiten.« Sie schaute auf das Meer.
»Nein«, sagte Rasmussen. »Sein Bruder ist sehr sportlich«
»Und bald ein sehr reicher Mann«, fügte Mrs. Oliver hinzu.
»Stimmt«, pflichtete der Arzt ihr bei und schaute wie die anderen beiden zu der Gestalt im Wasser. »Bei Franklin Kettridge kommt zu einem stattlichen Aussehen und einer stattlichen Konstitution nun auch noch ein stattliches Vermögen hinzu. Manche Menschen haben halt Glück.«
»Fortuna ist blind«, zitierte Eunice, erhob sich und schlüpfte in ihre Sandalen. »Entschuldigen Sie mich. Ich glaube, ich habe leichte Kopfschmerzen von der Sonne«, erklärte sie kurz angebunden. »Ich gehe besser zurück ins Haus.«
»Sie sollten viel trinken. Das hilft«, rief Rasmussen ihr noch nach und wendete sich dann wieder Mrs. Oliver zu. Diese hatte die Stirn in Falten gelegt. Erst Maxwell, jetzt Eunice. Irgendetwas schien heute in der Luft zu liegen.

»So, das wäre geschafft«, meinte Mr. Leighton, als sich die Tür seines Ladens in Southend-on-Sea hinter dem letzten Besucher schloss.
»Es ist doch anstrengender gewesen, als ich gedacht habe.« Mrs. Oliver, die hinter einem leichten Kieferntisch inmitten von hohen Bücherregalen saß, lehnte sich zurück und atmete durch. »Oder ich werde einfach nur alt«, seufzte sie.
»Aber Sie doch nicht«, versicherte der Büchereibesitzer schnell. »Sie sehen jünger und frischer aus als jemals zuvor.«
»Nun, das wird dann wohl die gute Seeluft sein«, lächelte Mrs. Oliver dankbar und kam nicht umhin, sich ein wenig geschmeichelt zu fühlen.
»Nein, nein. Sie haben also wirklich keinen Grund zu klagen«, versicherte der gemütliche Mann noch einmal. »Sie sind eine rüstige, erfolgreiche Frau mit viel Lebenserfahrung. Ihre Bücher verkaufen sich wie warme Semmeln. Wenn man das nicht Glück nennen kann, dann weiß ich es auch nicht.«
»Fortuna ist blind«, sprach Mrs. Oliver die Worte, die sie am Mittag noch aus dem Mund von Eunice Kettridge gehört hatte.
»Wie bitte?«
»Oh, verzeihen Sie. Nichts weiter. Ich habe nur laut gedacht.«
»Ah so.« Leightons Blick ging zu der leeren Tasse auf dem Tisch vor Mrs. Oliver. »Darf ich Ihnen noch etwas anbieten?«
»Nein danke. Ich wollte zum Dinner wieder bei den Kettridges sein.«
»Oh, das kann ich gut verstehen. Mrs. Glovers Kochkünste sind ja schon fast legendär.«
»Dann waren Sie schon öfters dort zu Besuch?« Mrs. Oliver spitzte die Ohren. Vielleicht konnte Mr. Leighton ja ein wenig Licht ins Dunkel bringen.
»Oh ja. Ich denke ich kann mich durchaus als Freund der Familie bezeichnen.«
»Eine harmonische Familie, nicht wahr?«
»Wenn Sie das sagen.« Leighton stellte rasch das Teegeschirr zusammen. Es wirkte wie eine Verlegenheitsgeste.
»Das klingt ja fast wie ein Widerspruch«, stellte Mrs. Oliver fest.
»Ach, wissen Sie, ein paar Reibereien kommen doch in jeder Familie vor.«
»Das kann ich mir bei den Kettridges eigentlich nicht vorstellen.«
»Es ist ja auch schon ein paar Jahre her.« Leighton stellte das Geschirr wieder ab und wendete seine Aufmerksamkeit Mrs. Oliver zu. »Maxwell hat Eunice Withers nämlich gegen den Willen seines Vaters geheiratet. Colonel Withers hatte dem alten Kettridge wohl mal ein großes Geschäft vermasselt. Seitdem galt für ihn die ganze Familie als unzuverlässig. Doch wie das bei hitzköpfigen jungen Leuten so ist, hat Maxwell sie dann gerade wegen des elterlichen Verbots geheiratet.«
»Na, das ist ja nun wirklich nichts Besonderes«, fand die Autorin. »Das kommt in den besten Familien vor. Da kenne ich Leute, die viel größere Leichen im Keller haben.«
»Eben. Und als der Colonel kurze Zeit später Pleite ging, hatte der alte Kettridge auch soviel Anstand, sie bei sich aufzunehmen. Und jetzt brummen sie sich halt ab und zu ein bisschen an.«
»Wie alte Männer eben so sind«, schmunzelte Mrs. Oliver, erhob sich von ihrem Stuhl und streckte sich etwas.
»Genau«, pflichtete der Buchhändler ihr bei. »Manchmal etwas grantig, aber in ihrer Kauzigkeit doch wieder liebenswürdig. Darf ich Ihnen ein Taxi rufen?«
Mrs. Oliver lehnte ab. »Bemühen Sie sich nicht. Das mache ich schon selbst.«
Sie verabschiedeten sich voneinander und Ariadne Oliver trat auf die Straße hinaus. Unweit des Buchladens konnte sie einen schwarzen Ford ausmachen, der ihr seltsam bekannt vorkam. Den Mann, der dort neben stand und wartete, kannte sie aber auf alle Fälle.
»Mr. Peltonen!«, rief sie überrascht aus. »Sie sind doch nicht etwa hier, um mich abzuholen, oder?«
»Nein, Mrs. Oliver. Ich habe Mr. Kettridge und Mr. Franklin hergebracht.«
»Ist Mr. Kettridge wohlauf?«, fragte sie, einer spontanen Eingebung folgend.
»Natürlich. Es geht ihm sehr gut, soviel ich weiß. Warum fragen Sie?«
»Ach, aus keinem bestimmten Grund«, wich sie aus. »Wären Sie so freundlich, mir ein Taxi anzuhalten?«
»Natürlich, Madam.«
Mrs. Oliver traute dem Frieden nicht so ganz. Immer, wenn es um Erbteile und Testamente ging, waren Neid, Missgunst und auch Mord nie weit weg. Nachdem Mr. Peltonen ein Taxi angehalten hatte, bedankte sich Mrs. Oliver bei ihm und stieg dann ein. Und wer weiß, ob nicht doch noch irgendwelche Leichen im Keller liegen, dachte sie bei sich und nannte dem Taxifahrer dann ihr Fahrtziel.
 
III – Der zweite Tag

Am nächsten Morgen gönnte sich Mrs. Oliver den Luxus, das Frühstück an ihr Bett serviert zu bekommen. Dass sie dadurch eine wichtige Bekanntmachung des Hausherrn an der Frühstückstafel der Familie verpasste, erfuhr sie erst, als sie sich den jungen Leuten anschloss, die den Lunch am Strand einzunehmen gedachten. Mrs. Oliver saß mit Maxwell auf einer einladend ausgelegten Picknickdecke und ließ sich von ihm Tee aus einer Thermoskanne einschenken, während Eunice auf einem Badetuch lag und sich einen breitkrempigen Sonnenhut über das Gesicht gezogen hatte. Franklin hatte sich ins Wasser begeben und schwamm dort athletisch seine Bahnen. Lediglich John fehlte.
»Im Grunde war es keine wirkliche Überraschung.«
»Nicht?«
»Nein.« Maxwell drehte die Thermoskanne wieder zu. »Auch wenn ich eher damit gerechnet hätte, dass es John treffen würde. Immerhin kennt er sich als Sekretär meines Vaters am besten mit den Familiengeschäften aus.«
Mrs. Oliver hob ihre Tasse. »Und was bedeutet das für ihren Erbteil?«, fragte sie mit kriminalistischem Spürsinn.
»Wenn er Franklin wirklich die Fabriken vermacht, dann bleiben uns nur noch die Krümel übrig. Die Fabriken sind auf jeden Fall das Sahnestück der Erbmasse.«
»Das erscheint mir aber nicht sehr gerecht zu sein.«
»Muss es das denn?«
Mrs. Oliver trank nachdenklich einen Schluck. »Na ja, Dr. Rasmussen erzählte mir, dass William Kettridge immer sehr viel Wert auf die Gleichberechtigung seiner Söhne gelegt hätte.«
»Bei den Fabriken hört das aber auf«, entgegnete Maxwell. »Mein Vater würde nie zulassen, dass sie nach seinem Tod aufgeteilt werden. Es war also nur eine Frage der Zeit, wen er zu seinem Kronprinzen bestimmen würde. Und nun ist eben Franklin der Glückliche.«
»Und das stört Sie gar nicht?«
»Sollte es das?« Der elegante junge Mann setzte seine Sonnenbrille auf und schaute über das Wasser. »Er ist eben der Älteste. Eine höchst traditionsreiche Entscheidung. Im Adel ist es ja seit jeher so.«
»Franklin ist nur adoptiert«, warf die Autorin ein und erntete einen bösen Blick. Zumindest, wenn sie die zusammengekniffenen Augenbrauen Maxwells richtig deutete.
»Hören Sie, wir mögen zwar nicht blutsverwandt sein, doch Franklin war, ist und wird auch immer eines bleiben: mein Bruder.« So hart, wie er diese Worte hervorgepresst hatte, stieß er sich auch vom Boden ab. Dann wandte er sich um.
Eunice lupfte ihren Hut und schaute zu ihm hoch. »Max? Wo willst du hin?«
Maxwell warf einen Blick über seine Schulter. »Ins Bad, wenn es den beiden Damen nichts ausmacht.« Mit diesen Worten verließ er das Picknick am Strand.
Mrs. Oliver biss sich leicht auf die Unterlippe. »Ich habe ihn doch jetzt nicht etwa vergrault, oder?«
»Nein.« Die junge Frau setzte sich auf und strich sich durchs Haar. Es fiel ihr locker auf die Schultern und schimmerte golden in der Mittagssonne. »Er wird sich schon wieder einkriegen. Nur, wenn es um seine Familie geht, ist er leider ein wenig empfindlich.«
»Ach so.« Mrs. Oliver widmete sich wieder ihrem Tee.
Auf dem Weg zurück ins Haus stieß Maxwell beinahe mit Dr. Rasmussen zusammen, der sich entschlossen hatte, einen kleinen Verdauungsspaziergang zu machen. Maxwell entschuldigte sich und verschwand im Haus. Kopfschüttelnd sah der Doktor ihm nach und erreichte schließlich die anderen. Er lächelte freundlich. »Amüsieren sich die Damen gut?«
»Oh ja, es ist ein schöner Tag«, antwortete Mrs. Oliver, die den kleinen Ausflug sichtlich genoss. Nur Eunice blickte abwesend aufs Wasser hinaus.
Rasmussen bemerkte es. »Waren Sie schon schwimmen, Mrs. Kettridge?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sie sollten aber. Das regt Ihren Kreislauf an. Und etwas Sport am Abend lässt Sie auch leichter einschlafen.« Eunice erwiderte nichts darauf und ließ den Doktor unbeschwert weiterreden. »John habe ich auch schon empfohlen, mehr an die frische Luft zu gehen. Er hockt für seinen Vater ständig nur am Schreibtisch. Aber leider ist er nicht ins Wasser zu bekommen. Er hat Angst vor großen Tiefen.«
»Oh, wie schade«, fand Mrs. Oliver. »Franklin scheint das ja keine Probleme zu bereiten.« Sie schaute auf das Meer.
»Nein«, sagte Rasmussen. »Sein Bruder ist sehr sportlich«
»Und bald ein sehr reicher Mann«, fügte Mrs. Oliver hinzu.
»Stimmt«, pflichtete der Arzt ihr bei und schaute wie die anderen beiden zu der Gestalt im Wasser. »Bei Franklin Kettridge kommt zu einem stattlichen Aussehen und einer stattlichen Konstitution nun auch noch ein stattliches Vermögen hinzu. Manche Menschen haben eben Glück.«
»Fortuna ist blind«, zitierte Eunice, erhob sich und schlüpfte in ihre Sandalen. »Entschuldigen Sie mich. Ich glaube, ich habe leichte Kopfschmerzen von der Sonne«, erklärte sie kurz angebunden. »Ich gehe besser zurück ins Haus.«
»Sie sollten viel trinken. Das hilft«, rief Rasmussen ihr noch nach und wandte sich dann wieder Mrs. Oliver zu. Diese hatte die Stirn in Falten gelegt. Erst Maxwell, jetzt Eunice. Irgendetwas schien heute in der Luft zu liegen.

»So, das wäre geschafft«, meinte Mr. Leighton, als sich die Tür seines Ladens in Southend-on-Sea hinter dem letzten Besucher schloss.
»Es ist doch anstrengender gewesen als ich gedacht habe.« Mrs. Oliver, die hinter einem leichten Kieferntisch inmitten hoher Bücherregale saß, lehnte sich zurück und atmete durch. »Oder ich werde einfach nur alt«, seufzte sie.
»Aber Sie doch nicht«, versicherte der Buchhändler schnell. »Sie sehen jünger und frischer aus als jemals zuvor.«
»Nun, das wird dann wohl die gute Seeluft sein«, lächelte Mrs. Oliver dankbar und kam nicht umhin, sich ein wenig geschmeichelt zu fühlen.
»Nein, nein. Sie haben also wirklich keinen Grund zu klagen«, versicherte der gemütliche Mann noch einmal. »Sie sind eine rüstige, erfolgreiche Frau mit viel Lebenserfahrung. Ihre Bücher verkaufen sich wie warme Semmeln. Wenn man das nicht Glück nennen kann, dann weiß ich es auch nicht.«
»Fortuna ist blind«, sprach Mrs. Oliver die Worte, die sie am Mittag noch aus dem Mund von Eunice Kettridge gehört hatte.
»Wie bitte?«
»Oh, verzeihen Sie. Nichts weiter. Ich habe nur laut gedacht.«
»Ah so.« Leightons Blick ging zu der leeren Tasse auf dem Tisch vor Mrs. Oliver. »Darf ich Ihnen noch etwas anbieten?«
»Nein danke. Ich wollte zum Dinner wieder bei den Kettridges sein.«
»Oh, das kann ich gut verstehen. Mrs. Glovers Kochkünste sind ja schon fast legendär.«
»Dann waren Sie schon oft dort zu Besuch?« Mrs. Oliver spitzte die Ohren. Vielleicht konnte Mr. Leighton ja ein wenig Licht ins Dunkel bringen.
»Oh ja. Ich denke ich kann mich durchaus als Freund der Familie bezeichnen.«
»Eine harmonische Familie, nicht wahr?«
»Wenn Sie das sagen.« Leighton stellte rasch das Teegeschirr zusammen. Es wirkte wie eine Verlegenheitsgeste.
»Das klingt ja fast wie ein Widerspruch«, stellte Mrs. Oliver fest.
»Ach, wissen Sie, ein paar Reibereien kommen doch in jeder Familie vor.«
»Das kann ich mir bei den Kettridges eigentlich nicht vorstellen.«
»Es ist ja auch schon ein paar Jahre her.« Leighton stellte das Geschirr wieder ab und wandte seine Aufmerksamkeit Mrs. Oliver zu. »Maxwell hat Eunice Withers nämlich gegen den Willen seines Vaters geheiratet. Colonel Withers hatte dem alten Kettridge wohl einmal ein großes Geschäft vermasselt. Seitdem galt für ihn die ganze Familie als unzuverlässig. Doch wie das bei hitzköpfigen jungen Leuten so ist, hat Maxwell sie dann gerade wegen des elterlichen Verbots geheiratet.«
»Das ist ja nun wirklich nichts Besonderes«, fand die Autorin. »Das kommt in den besten Familien vor. Da kenne ich Leute, die ganz andere Leichen im Keller haben.«
»Eben. Und als der Colonel kurze Zeit später Pleite ging, hatte der alte Kettridge auch soviel Anstand, sie bei sich aufzunehmen. Und jetzt brummen sie sich halt ab und zu ein bisschen an.«
»Wie alte Männer so sind«, schmunzelte Mrs. Oliver, erhob sich von ihrem Stuhl und streckte sich etwas.
»Genau«, pflichtete der Buchhändler ihr bei. »Manchmal etwas grantig, aber in ihrer Kauzigkeit doch wieder liebenswürdig. Darf ich Ihnen ein Taxi rufen?«
Mrs. Oliver lehnte ab. »Bemühen Sie sich nicht. Das mache ich schon selbst.«
Sie verabschiedeten sich voneinander und Ariadne Oliver trat auf die Straße hinaus. Unweit des Buchladens konnte sie einen schwarzen Ford ausmachen, der ihr seltsam bekannt vorkam. Den Mann, der daneben stand und wartete, kannte sie aber auf alle Fälle.
»Mr. Peltonen!«, rief sie überrascht aus. »Sie sind doch nicht etwa hier, um mich abzuholen, oder?«
»Nein, Mrs. Oliver. Ich habe Mr. Kettridge und Mr. Franklin hergebracht.«
»Ist Mr. Kettridge wohlauf?«, fragte sie, einer spontanen Eingebung folgend.
»Natürlich. Es geht ihm sehr gut, soviel ich weiß. Warum fragen Sie?«
»Ach, aus keinem bestimmten Grund«, wich sie aus. »Wären Sie so freundlich, mir ein Taxi anzuhalten?«
»Natürlich, Madam.«
Mrs. Oliver traute dem Frieden nicht so ganz. Immer, wenn es um Erbteile und Testamente ging, lagen Neid, Missgunst und auch Mord nie in weiter Ferne. Und wer weiß, ob nicht doch noch irgendwelche Leichen im Keller liegen, dachte sie bei sich, während sie in das herbeigerufene Taxi stieg.
 



 
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