Fortuna ist blind - Kapitel 4

IV – Der Mord

»Ist mein Bad bereit?«
Das Hausmädchen, das in der Tür zum Badezimmer stand, als Mrs. Oliver am späten Abend wieder ihr Zimmer betrat, nickte. »Ja, Madam.«
»Danke sehr, Temperance. Ich brauche Sie dann heute nicht mehr.«
Die junge Frau nickte und zog sich dann still zurück. Ariadne Oliver hingegen griff, beschwingt von einem überaus befriedigenden Ergebnis beim Bridge, nach der Obstschale und nahm sie mit sich in das angrenzende Badezimmer. Dort drapierte sie zwei Äpfel, einen Notizblock und einen Füllfederhalter auf der Badewannenablage und fühlte dann mit der Hand die Wassertemperatur. Das Wasser war kuschelig warm. Mrs. Oliver entkleidete sich und stieg in die altmodische, mit Klauenfüßen versehene Wanne, in der sie sich dann vorsichtig niederließ. Sie nahm eine bequeme Position ein und griff nach einem der rot glänzenden Äpfel, in den sie anschließend herzhaft hinein biss. So ließ es sich doch aushalten. Nachdem der Apfel vertilgt und das Kerngehäuse auf der Ablage zwischengelagert war, nahm sie den Block und den Stift zur Hand. Nun hieß es, sich um die unangenehmen Dinge zu kümmern: den Tod von Sven Hjerson. Dass sie ihn umbringen würde, war für Mrs. Oliver mittlerweile beschlossene Sache. Sie konnte sich ja nicht einfach von ihm scheiden lassen, immerhin waren sie ja nicht verheiratet. Es blieb also nur diese einzige Möglichkeit, um ihn endgültig und für immer loszuwerden. Ebenso klar war auch das Motiv, das sie gerade mit spitzer Feder zu Papier brachte: Rache. Hjerson musste sterben für das, was er einem anderen Menschen, nein, was er ihr angetan hatte. Für all den Ärger, den sie mit ihm hatte. Für all die schlaflosen Nächte, die sie seinetwegen durchstehen musste. Nach all den Jahren – Jahrzehnten gar – wurde es endlich einmal Zeit für einen anderen Mann in ihrem Leben. Es würde eine Befreiung sein. Ja, einen Befreiungsschlag plante sie, keinen Mord. Das klang doch gleich viel besser. Außerdem war sie auf der sicheren Seite. Verdächtige gab es genug. Hjerson hatte sich im Laufe der Jahre viele Feinde gemacht. Und eine passende Mordmethode würde ihr als Schriftstellerin sicher auch noch einfallen. Auf jeden Fall sollte es ihn bei seiner Arbeit treffen. Nicht zu Hause. Das wäre kein passender Tod für diesen Mann. Einen Rest von Respekt vor ihm besaß Mrs. Oliver immerhin noch.
Ein Geräusch von draußen riss die Ränke schmiedende Autorin schließlich aus ihren Gedanken und ließ sie zum Fenster schauen. Ein Auto fuhr gerade über den Kies im Hof, Scheinwerfer blitzten auf, dann war wieder alles still. Mrs. Oliver seufzte leise und ließ ihren Blick schweifen, bis er schließlich an dem zweiten Apfel hängen blieb. Könnte man nicht …? Nein. Oder doch? Ja. Das war die Idee! Eine vergiftete Karotte! Immerhin war Hjerson ja ein Vegetarier. Es fragte sich nur noch welches Gift man nehmen sollte. Mrs. Oliver schrieb verschiedene Alternativen auf: Blausäure. Strychnin. Arsen. Gerade als sie Curare schreiben wollte, gellte ein markerschütternder Schrei durch die Nacht. Mrs. Oliver zuckte erschrocken zusammen, der Füllfederhalter fiel ihr aus der Hand und plumpste in eine Schaumkrone. Rasch erhob sie sich und griff nach einem Handtuch. Dabei stieß sie gegen die Badewannenablage. Die Erschütterung ließ den zweiten Apfel das Gleichgewicht verlieren und ebenfalls der Schwerkraft folgen. Mrs. Oliver schlang das Handtuch um sich, um ihre Blöße zu bedecken, und stieg aus der Wanne, darauf bedacht, nicht in der Hektik auszurutschen. Sie schlüpfte in ihre Puschen, die Temperance für sie bereitgelegt hatte, und machte zwei schnelle Schritte zum Fenster. Das Anwesen war nur spärlich beleuchtet, trotzdem war es ihr so, als hätte sie gerade eine Gestalt im Dunkeln verschwinden sehen. Doch wer hatte geschrieen? Mrs. Oliver zog sich eilig etwas über, um der Sache auf den Grund zu gehen. Auf dem Flur traf sie mit Colonel Withers zusammen, der sich mit einer Taschenlampe bewaffnet hatte. »Haben Sie den Schrei auch gehört?«
Der Oberst brummte etwas, das wie eine Bestätigung klang.
»Es muss vom Hof gekommen sein«, fuhr sie fort. »Ich habe jemanden weglaufen sehen.«
»Dann schauen wir doch mal nach. Bleiben Sie hinter mir.«
Mrs. Oliver hielt sich also hinter Withers, als sie gemeinsam die Treppe hinab stiegen und zum Portal gingen. Auf halber Höhe zog sie ihren Begleiter zurück. »Pst, da kommt jemand.«
In der Tat hörte man eine Tür zuschlagen und dann eilige Schritte aus dem Dienstbotentrakt. Es klang nach Stiefeln mit harter Sohle. Der Oberst schaltete die Taschenlampe aus, ergriff Mrs. Olivers Hand und zog seine Begleiterin mit sich hinab und hinter den Treppenlauf. Beide hielten den Atem an, als die Schritte lauter wurden und schließlich eine dunkle Gestalt die Eingangshalle betrat. Withers zögerte keine Sekunde, trat aus seinem Versteck und ließ seine Taschenlampe grell aufblitzen. Der nächtliche Wanderer hielt sich abwehrend die Hand vor die geblendeten Augen.
Der Oberst hatte ihn trotzdem erkannt. »Peltonen!?« Gemeinsam mit Mrs. Oliver trat er näher, den Lichtstrahl immer noch auf das Gesicht des Chauffeurs gerichtet.
Der ansonsten immer rotwangige Finne war kreidebleich. Seine Stimme zitterte. »Bitte kommen Sie … draußen … Mr. Kettridge …«
»Wir kümmern uns darum«, versicherte Colonel Withers. »Und Sie besorgen sich am Besten einen ordentlichen Schluck Scotch, bevor Sie uns hier noch umkippen.«
Peltonen nickte. »Danke sehr, Sir.« Dann zog er sich zurück.
Der Oberst indessen ging zur Haustür, griff zu dem daneben angebrachten Schlüsselbrett – und fasste ins Leere. »Nanu.«
Mrs. Oliver machte einen Schritt zur Wand und betätigte den Lichtschalter. Suchend schaute sie umher. »Dort unten.«
»Tatsächlich. Sehr nachlässig.«
Nachdem Withers den Hausschlüssel aufgehoben und eingesteckt hatte, verlor er keine Zeit mehr und Mrs. Oliver hatte Mühe ihm zu folgen. Als sie die Freitreppe hinunter stakste, war der alte Soldat schon dabei, die Umgebung abzuleuchten. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, doch dann fiel ihr ein unförmiger Schemen an einer Stelle auf, an der eigentlich ein symmetrischer Springbrunnen stehen sollte. Ohne das geringste Anzeichen von Furcht ging sie darauf zu. »Bitte leuchten Sie einmal hier, Colonel.«
Die Hand des Obersts schwenkte um. Mrs. Oliver unterdrückte einen Aufschrei. Der alte Mr. Kettridge lag quer über dem runden Becken des neugotischen Brunnens, dessen Düse eine hellrote Fontäne ausspie. Das Blut des Hausherrn hatte sich mit dem Wasser vermischt.
»Holen Sie den Doktor, wecken Sie die anderen und verständigen Sie die örtliche Polizei«, wies Mrs. Oliver den Colonel an. »Ich bleibe so lange bei der Leiche.«
Withers zögerte erst, eine Dame ganz allein bei einem frischen Leichnam zu lassen, reichte ihr dann aber doch die Taschenlampe und ging wieder in das Haus.
»Ich weiß schon, was ich tue«, hatte ihm Mrs. Oliver noch einmal versichert. Und sie wusste es auch tatsächlich ganz genau. Immerhin war sie die einzige, von der sie hundertprozentig wusste, dass sie nicht die Mörderin von Mr. Kettridge war. Sie hatte seinen Todesschrei vernommen als sie in der Badewanne lag. Alle anderen waren verdächtig und sie wollte keinem von ihnen die Chance geben, Indizien vom Tatort zu entfernen. Auch dem Colonel nicht. Vorsichtig trat Mrs. Oliver näher an den leblosen Körper von William Kettridge heran und leuchtete seinen Körper ab. In seiner Brust befand sich eine tiefe Wunde. Es war auf ihn eingestochen worden. Langsam streckte sie ihre Hand nach ihm aus und fühlte seinen Puls. Es war keiner auszumachen. Obwohl es ein lauer Sommerabend war, fröstelte es sie. Als sich die Autorin wieder dem Haus zuwandte, sah sie Dr. Rasmussen im Morgenrock und mit Arzttasche auf sich zukommen. Kurzatmig blieb er neben ihr stehen.
»Lassen Sie mich mal sehen«, keuchte er.
»Ich glaube, Sie werden ihm auch nicht mehr helfen können, Doktor. Wir haben einen Mörder hier frei herumlaufen.«
»Aber wer um Gottes Willen könnte das denn getan haben?«
»Einer seiner Söhne natürlich! Ich sagte Ihnen doch gestern nach dem Dinner schon, dass da etwas nicht stimmt.«
Dr. Rasmussen und Mrs. Oliver sahen sich einen Moment lang schweigend an, dann machte sich der Arzt daran, noch einmal die Leiche zu untersuchen, darauf bedacht, ihre Stellung nicht zu verändern. Dennoch musste er sie einmal kurz anheben. »Mr. Kettridge ist nicht ertrunken. Es war ein gezielter Stich von vorne ins Herz. Zweischneidige Klinge. Vermutlich ein Dolch. Er muss anschließend über dem Becken zusammengebrochen sein. Eine absolut tödliche Verwundung«, lautete seine vorläufige Diagnose.
»Schrecklich.«
»Sie sagen es.« Dr. Rasmussen trat zurück. »Ich verschreibe auch lieber Bäder, Massagen und Packungen als so etwas sehen zu müssen. Und die von mir verordneten Bäder finden ganz sicher nicht mit dem Zusatz von Eigenblut statt.« Er schnaufte. »Möchten Sie nicht doch lieber ins Haus gehen, Mrs. Oliver?«
»Erst wenn die Polizei da ist.«
Nach einer Viertelstunde war es dann schließlich soweit. Die tapfer durchhaltende Mrs. Oliver wurde von einem uniformierten Polizeibeamten bei ihrer Totenwache abgelöst und zu den anderen ins Haus gebeten. Ein zweiter Polizist begleitete sie. Dr. Rasmussen hingegen blieb am Tatort und wollte noch auf den Polizeiarzt warten.
Im Salon war nun nichts mehr von der gelösten Ferienstimmung zu spüren, die hier vor wenigen Stunden noch geherrscht hatte. Mrs. Oliver hatte die Hand an ihren Kragen gelegt, um ihn ja dicht zu verschließen. Die Luft im Haus schien stickig zu sein. Misstrauen, Trauer und Bestürzung lagen wie dicke, unsichtbare Vorläufer eines Gewitters unter der mit Stuck geschmückten Decke. Mrs. Oliver schaute sich um. Eunice lag wie dahin gegossen auf der cremefarbenen Chaiselongue und hielt sich den Kopf. Ihr Mann Maxwell saß auf einem Stuhl neben ihr, hatte ihre Hand genommen und starrte voller Bitterkeit vor sich hin. Er wirkte schläfrig. Franklin stand mit John am Fenster und hatte einen Arm um seinen Bruder gelegt, der in diesem Augenblick einen sehr schutzlosen Eindruck machte. Colonel Withers stand vor dem Barschrank, neben ihm ein leeres Whiskeyglas.
»Constable Smith«, stellte sich der uniformierte Beamte vor. »Ich will Sie nicht lange aufhalten, meine Herrschaften«, begann er dann die Untersuchung. »Ich müsste nur von Ihnen wissen, wo jeder von Ihnen während der Tatzeit war. Dann sollten Sie versuchen, noch ein wenig zu schlafen. Für morgen früh erwarten wir einen Inspektor von Scotland Yard, der die Ermittlungen dann weiterführen wird.«
Um ihr weitere Anstrengungen zu ersparen, nahm er Mrs. Olivers Aussage als Erstes auf, was diese dankbar zur Kenntnis nahm. Dennoch ließ sie es sich nicht nehmen, auch noch die Aussagen der anderen abzuwarten. Das Ergebnis war ernüchternd, denn alle gaben an, entweder schon geschlafen zu haben oder allein in ihrem Zimmer gewesen zu sein. Merklich erschöpft und keinen Deut schlauer, ließ sich Mrs. Oliver schließlich eine halbe Stunde später in ihr Bett fallen und zog die Decke über sich. Langsam kehrte wieder Ruhe in das Haus ein. Nur ein einsamer Apfel schwamm immer noch über einer dunklen Tintenwolke tapfer seine Kreise.
 
IV – Der Mord

»Ist mein Bad bereit?«
Das Hausmädchen, das in der Tür zum Badezimmer stand, als Mrs. Oliver am späten Abend wieder ihr Zimmer betrat, nickte. »Ja, Madam.«
»Danke sehr, Temperance. Ich brauche Sie heute nicht mehr.«
Die junge Frau nickte und zog sich dann still zurück. Ariadne Oliver hingegen griff, beschwingt von einem überaus befriedigenden Ergebnis beim Bridge, nach der Obstschale und nahm sie mit sich in das angrenzende Badezimmer. Dort drapierte sie zwei Äpfel, einen Notizblock und einen Füllfederhalter auf der Badewannenablage und fühlte dann mit der Hand die Wassertemperatur. Das Wasser war angenehm warm. Mrs. Oliver entkleidete sich und stieg vorsichtig in die altmodische, mit Klauenfüßen versehene Wanne. Sie nahm eine bequeme Position ein und griff nach einem der rot glänzenden Äpfel, in den sie anschließend herzhaft hineinbiss. So ließ es sich doch aushalten! Nachdem der Apfel verzehrt und das Kerngehäuse auf der Ablage zwischengelagert war, nahm sie den Block und den Stift zur Hand. Nun hieß es, sich um die unangenehmen Dinge zu kümmern: den Tod von Sven Hjerson. Dass sie ihn umbringen würde, war für Mrs. Oliver mittlerweile beschlossene Sache. Sie konnte sich ja nicht einfach von ihm scheiden lassen, immerhin waren sie ja nicht verheiratet. Es blieb also nur diese einzige Möglichkeit, um ihn endgültig und für immer loszuwerden. Ebenso klar war auch das Motiv, das sie gerade mit spitzer Feder zu Papier brachte: Rache. Hjerson musste sterben für das, was er einem anderen Menschen, nein, was er ihr angetan hatte. Für all den Ärger, den sie mit ihm hatte. Für all die schlaflosen Nächte, die sie seinetwegen hatte durchstehen müssen. Nach all den Jahren – Jahrzehnten gar – wurde es endlich einmal Zeit für einen anderen Mann in ihrem Leben. Es würde eine Befreiung sein. Ja, einen Befreiungsschlag plante sie, keinen Mord. Das klang doch gleich viel besser. Außerdem war sie auf der sicheren Seite. Verdächtige gab es genug. Hjerson hatte sich im Laufe der Jahre viele Feinde gemacht. Und eine passende Mordmethode würde ihr als Schriftstellerin sicher auch noch einfallen. Auf jeden Fall sollte es ihn bei seiner Arbeit treffen. Nicht zu Hause. Das wäre kein passender Tod für diesen Mann. Einen Rest von Respekt vor ihm besaß Mrs. Oliver immerhin noch.
Ein Geräusch von draußen riss die Ränke schmiedende Autorin jäh aus ihren Gedanken und ließ sie zum Fenster schauen. Ein Auto fuhr gerade über den Kies im Hof, Scheinwerfer blitzten auf, dann war wieder alles still. Mrs. Oliver seufzte leise und ließ ihren Blick schweifen, bis er schließlich an dem zweiten Apfel hängen blieb. Könnte man nicht …? Nein. Oder doch? Ja. Das war die Idee! Eine vergiftete Karotte! Immerhin war Hjerson ja ein Vegetarier. Es fragte sich nur noch, welches Gift man nehmen sollte. Mrs. Oliver schrieb verschiedene Alternativen auf: Blausäure. Strychnin. Arsen. Gerade als sie Curare schreiben wollte, gellte ein markerschütternder Schrei durch die Nacht. Mrs. Oliver zuckte erschrocken zusammen, der Füllfederhalter fiel ihr aus der Hand und durchschlug eine Schaumkrone. Rasch erhob sie sich und griff nach einem Handtuch. Dabei stieß sie gegen die Badewannenablage. Die Erschütterung ließ den zweiten Apfel das Gleichgewicht verlieren und ebenfalls der Schwerkraft folgen. Mrs. Oliver schlang das Handtuch um sich und stieg aus der Wanne, darauf bedacht, nicht in der Hektik auszurutschen. Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe, die Temperance für sie bereitgelegt hatte, und machte zwei schnelle Schritte zum Fenster. Das Anwesen war nur spärlich beleuchtet, trotzdem war es ihr so, als hätte sie gerade eine Gestalt im Dunkeln verschwinden sehen. Doch wer hatte geschrieen? Mrs. Oliver zog sich eilig etwas über, um der Sache auf den Grund zu gehen. Auf dem Flur traf sie mit Colonel Withers zusammen, der sich mit einer Taschenlampe bewaffnet hatte. »Haben Sie den Schrei auch gehört?«
Der Oberst brummte etwas, das wie eine Bestätigung klang.
»Es muss vom Hof gekommen sein«, fuhr sie fort. »Ich habe jemanden weglaufen sehen.«
»Dann schauen wir doch einmal nach. Bleiben Sie hinter mir.«
Mrs. Oliver hielt sich hinter Withers, als sie gemeinsam die Treppe hinab stiegen und zum Portal gingen. Auf halber Höhe zog sie ihren Begleiter zurück. »Pst, da kommt jemand.«
In der Tat hörte man eine Tür zuschlagen und dann eilige Schritte aus dem Dienstbotentrakt. Es klang nach Stiefeln mit harter Sohle. Der Oberst schaltete die Taschenlampe aus, ergriff Mrs. Olivers Hand und zog seine Begleiterin mit sich hinab und hinter den Treppenlauf. Beide hielten den Atem an, als die Schritte lauter wurden und schließlich eine dunkle Gestalt die Eingangshalle betrat. Withers zögerte keine Sekunde, trat aus seinem Versteck und ließ seine Taschenlampe grell aufblitzen. Der nächtliche Wanderer hielt sich abwehrend die Hand vor die geblendeten Augen.
Der Oberst hatte ihn trotzdem erkannt. »Peltonen!?« Gemeinsam mit Mrs. Oliver trat er näher, den Lichtstrahl immer noch auf das Gesicht des Chauffeurs gerichtet.
Der ansonsten immer rotwangige Finne war kreidebleich. Seine Stimme zitterte. »Bitte kommen Sie … draußen … Mr. Kettridge …«
»Wir kümmern uns darum«, versicherte Colonel Withers. »Und Sie besorgen sich am Besten einen ordentlichen Schluck Scotch, bevor Sie uns hier noch umkippen.«
Peltonen nickte. »Danke sehr, Sir.« Dann zog er sich zurück.
Der Oberst indessen ging zur Haustür, griff zu dem daneben angebrachten Schlüsselbrett – und fasste ins Leere. »Nanu.«
Mrs. Oliver machte einen Schritt zur Wand und betätigte den Lichtschalter. Suchend schaute sie umher. »Dort unten.«
»Tatsächlich. Sehr nachlässig.«
Nachdem Withers den Hausschlüssel aufgehoben und eingesteckt hatte, verlor er keine Zeit mehr und Mrs. Oliver hatte Mühe ihm zu folgen. Als sie die Freitreppe hinunter stakste, war der alte Soldat schon dabei, die Umgebung abzuleuchten. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, doch dann fiel ihr ein unförmiger Schatten an einer Stelle auf, an der eigentlich ein symmetrischer Springbrunnen stehen sollte. Ohne das geringste Anzeichen von Furcht ging sie darauf zu. »Bitte leuchten Sie einmal hier, Colonel.«
Die Hand des Obersts schwenkte um. Mrs. Oliver unterdrückte einen Aufschrei. Der alte Mr. Kettridge lag quer über dem runden Becken des neugotischen Brunnens, dessen Düse eine hellrote Fontäne ausspie. Das Blut des Hausherrn hatte sich mit dem Wasser vermischt.
»Holen Sie den Doktor, wecken Sie die anderen und verständigen Sie die örtliche Polizei«, wies Mrs. Oliver den Colonel an. »Ich bleibe so lange bei der Leiche.«
Withers zögerte erst, eine Dame ganz allein bei einem frischen Leichnam zu lassen, reichte ihr dann aber doch die Taschenlampe und ging wieder in das Haus.
»Ich weiß schon, was ich tue«, hatte ihm Mrs. Oliver noch einmal versichert. Und sie wusste es auch tatsächlich ganz genau. Immerhin war sie die einzige, von der sie hundertprozentig wusste, dass sie nicht die Mörderin von Mr. Kettridge war. Sie hatte seinen Todesschrei vernommen als sie in der Badewanne lag. Alle anderen waren verdächtig und sie wollte keinem von ihnen die Chance geben, Indizien vom Tatort zu entfernen. Auch dem Colonel nicht. Vorsichtig trat Mrs. Oliver näher an den leblosen Körper von William Kettridge heran und leuchtete seinen Körper ab. In seiner Brust befand sich eine tiefe Wunde. Es war auf ihn eingestochen worden. Langsam streckte sie ihre Hand nach ihm aus und fühlte seinen Puls. Es war keiner auszumachen. Obwohl es ein lauer Sommerabend war, fröstelte es sie. Als sich die Autorin wieder dem Haus zuwandte, sah sie Dr. Rasmussen im Morgenrock und mit Arzttasche auf sich zukommen. Kurzatmig blieb er neben ihr stehen.
»Lassen Sie mich sehen«, keuchte er.
»Ich glaube, Sie werden ihm auch nicht mehr helfen können, Doktor. Wir haben hier einen Mörder frei herumlaufen.«
»Aber wer um Gottes Willen könnte das denn getan haben?«
»Einer seiner Söhne natürlich! Ich sagte Ihnen doch gestern nach dem Dinner schon, dass da etwas nicht stimmt.«
Dr. Rasmussen und Mrs. Oliver sahen sich einen Moment lang schweigend an, dann machte sich der Arzt daran, noch einmal die Leiche zu untersuchen, darauf bedacht, ihre Stellung nicht zu verändern. Dennoch musste er sie einmal kurz anheben. »Mr. Kettridge ist nicht ertrunken. Es war ein gezielter Stich von vorne ins Herz. Zweischneidige Klinge. Vermutlich ein Dolch. Er muss anschließend über dem Becken zusammengebrochen sein. Eine absolut tödliche Verwundung«, lautete seine vorläufige Diagnose.
»Schrecklich.«
»Sie sagen es.« Dr. Rasmussen trat zurück. »Ich verschreibe auch lieber Bäder, Massagen und Packungen als so etwas sehen zu müssen. Und die von mir verordneten Bäder finden ganz sicher nicht mit dem Zusatz von Eigenblut statt.« Er schnaufte. »Möchten Sie nicht doch lieber ins Haus gehen, Mrs. Oliver?«
»Erst wenn die Polizei da ist.«
Nach einer Viertelstunde war es dann schließlich soweit. Die mutig durchhaltende Mrs. Oliver wurde von einem uniformierten Polizeibeamten bei ihrer Totenwache abgelöst und zu den anderen ins Haus gebeten. Ein zweiter Polizist begleitete sie. Dr. Rasmussen hingegen blieb am Tatort, um noch auf den Polizeiarzt zu warten.
Im Salon war nun nichts mehr von der gelösten Ferienstimmung zu spüren, die hier vor wenigen Stunden noch geherrscht hatte. Mrs. Oliver hatte die Hand an ihren Kragen gelegt, um ihn ja dicht zu verschließen. Die Luft im Haus schien stickig zu sein. Trauer, Bestürzung und Misstrauen lagen wie dicke, unsichtbare Vorläufer eines Gewitters unter der mit Stuck geschmückten Decke. Mrs. Oliver schaute sich um. Eunice lag wie dahingegossen auf der cremefarbenen Chaiselongue und hielt sich den Kopf. Ihr Mann Maxwell saß auf einem Stuhl neben ihr, hatte ihre Hand genommen und starrte voller Bitterkeit vor sich hin. Er wirkte schläfrig. Franklin stand mit John am Fenster und hatte einen Arm um seinen Bruder gelegt, der in diesem Augenblick einen sehr schutzlosen Eindruck machte. Colonel Withers stand vor dem Barschrank, neben ihm ein leeres Whiskeyglas.
»Constable Smith«, stellte sich der uniformierte Beamte vor. »Ich will Sie nicht lange aufhalten, meine Herrschaften«, begann er dann die Untersuchung. »Ich muss nur von Ihnen wissen, wo jeder von Ihnen während der Tatzeit war. Dann sollten Sie versuchen, noch ein wenig zu schlafen. Für morgen früh erwarten wir einen Inspektor von Scotland Yard, der die Ermittlungen dann weiterführen wird.«
Um ihr weitere Anstrengungen zu ersparen, nahm er Mrs. Olivers Aussage als Erstes auf, was diese dankbar zur Kenntnis nahm. Dennoch ließ sie es sich nicht nehmen, auch noch die Aussagen der anderen abzuwarten. Das Ergebnis war ernüchternd, denn alle gaben an, entweder schon geschlafen zu haben oder allein in ihren Zimmern gewesen zu sein. Merklich erschöpft und keinen Deut schlauer ließ sich Mrs. Oliver schließlich eine halbe Stunde später in ihr Bett fallen und zog die Decke bis an ihr Kinn. Langsam kehrte wieder Ruhe in das Haus ein. Nur ein einsamer Apfel schwamm immer noch über einer dunklen Tintenwolke tapfer seine Kreise.
 



 
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