Fortuna ist blind - Kapitel 5

V – Die Indizien

»Es ist alles so furchtbar.« John Kettridge stand vor dem Panoramafenster im Salon und schaute hinaus zum Strand. Er hatte die Arme um sich geschlungen. »Und es macht mich so verflucht nervös. Dass im Park nach der Tatwaffe gesucht wird, das verstehe ich ja noch. Aber was verspricht sich dieser Inspektor davon, wenn er Mr. Smith hier die ganze Zeit mit einer Stoppuhr von einem Ort zum anderen jagt?«
Er drehte sich um und blickte in die Gesichter von seinem Bruder Franklin und der Schriftstellerin Ariadne Oliver, die auf einem Sofa saßen. Sie warteten hier alle drei noch auf ihre Vernehmung durch den Beamten von Scotland Yard.
Franklin zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass der Constable im Flur zur Küche fast Glover umgerannt hätte, als dieser das Frühstücksgeschirr zum Spülen bringen wollte.«
Mrs. Oliver zupfte gedankenverloren an ihren Haaren herum, die sie sich an diesem Morgen zu einer gewagten Hochsteckfrisur aufgetürmt hatte. Im Gegensatz zu den beiden Brüdern wirkte sie frisch und ausgeruht. Allerdings hatte sie ja auch nicht vor kurzem einen engen Familienangehörigen verloren. Noch dazu durch Mord. »Wahrscheinlich will der Inspektor wissen, wie lang man für bestimmte Strecken braucht. Immerhin muss der Täter ja irgendwie unbemerkt in das Haus zurückgekommen sein.«
»Das will ich doch nicht hoffen«, meinte John erschreckt. »Kann es denn nicht auch irgendjemand von außerhalb getan haben? Die Vorstellung, unter einem Dach mit einem Mörder zu sein, behagt mir gar nicht.«
Franklin stand auf und trat zu ihm. »Ich verspreche dir, dass dir nichts geschehen wird. Ich passe auf dich auf.«
»Danke, Frank.«
»Dafür sind große Brüder doch da.«
Auch große Brüder können Mörder sein, dachte Mrs. Oliver still bei sich, sagte aber nichts weiter dazu. Ihrer Meinung nach war nur der Mörder die einzig sichere Person hier. Ein dezentes Räuspern ließ sie zur Tür schauen. Es war Glover. »Mr. Franklin wird zum Inspektor gebeten.«
»Danke, Glover.« Franklin klopfte John noch einmal aufmunternd auf den Rücken und verließ dann das Zimmer.
Glover machte ihm Platz. »Wünschen die anderen Herrschaften vielleicht noch einen Kaffee oder etwas anderes für die Wartezeit?«
»Nein danke«, lehnte John ab. »Ich bekomme heute sowieso kaum etwas herunter.«
Auch Mrs. Oliver stand der Sinn im Moment nicht nach einem Heißgetränk. Dafür hatte sie aber etwas anderes auf dem Herzen. »Mr. Glover? Sagen Sie bitte, hatten Sie ihre Kontrollrunde gestern Abend schon gemacht?«
Glover hob erstaunt die Augenbrauen. »Seltsam. Das hat mich der Inspektor auch schon gefragt, Madam. Aber ja, das war bereits erledigt.«
»Und alle Türen waren ordentlich verschlossen?«
»Ja, Madam. Ich habe alle Türen höchstpersönlich abgeschlossen.«
»Wer besitzt alles einen Schlüssel?«
»Der verstorbene Mr. Kettridge besaß einen vollständigen Satz. Ich natürlich auch. Seine Söhne besitzen Haustür- und Terrassenschlüssel und Mr. Peltonen einen für den Dienstboteneingang. Und ein Haustürschlüssel hängt in der Eingangshalle.«
»Ah.« Mrs. Olivers Augen leuchteten auf als ihr dieser Ausruf der Erkenntnis entschlüpfte und John überrascht zu ihr blickte. »Dieser Schlüssel könnte noch sehr wichtig sein. Mr. Glover, bitte denken Sie jetzt gut nach.« Sie blickte den Hausangestellten scharf an. »Hing der Hausschlüssel am Haken, als Sie die Tür abgeschlossen haben?«
»Auch das hat mich die Polizei schon gefragt, Madam. Und ich muss zu meinem Leidwesen gestehen, dass ich nicht darauf geachtet habe. Ich kann weder das eine noch das andere bezeugen.«
»Oh.« Mrs. Oliver wirkte ehrlich enttäuscht.
»Wäre das dann alles, Madam?«
»Ja, danke, Mr. Glover.«
Der Butler entfernte sich und Mrs. Oliver seufzte. »Das wäre auch zu schön gewesen. So ein schöner Hinweis.«
John strich sich über den Hinterkopf. »Ich verstehe nicht ganz.«
Mrs. Oliver wendete sich dem jungen Mann zu. »Nehmen wir doch einfach mal an, dass der Hausschlüssel noch am Haken hing, als Glover seine Runde gemacht hat. Dann muss ihn doch irgendwer in der Zwischenzeit benutzt haben. Denn er lag ja am Boden, als der Oberst und ich ihn nehmen wollten.«
»Ja, das klingt logisch. Aber was schließen Sie daraus, Mrs. Oliver?«
»Es ist doch sehr wahrscheinlich, dass es der Mörder war, der den Schlüssel benutzt hat. Und das würde wiederum heißen, dass Sie und Ihre Brüder von jedem Verdacht befreit sind. Denn sie hätten ja ihre eigenen Schlüssel benutzen können. Das würde den Täterkreis einschränken.«
»Sie meinen auf Dr. Rasmussen und Colonel Withers?«
»Ja. Und auf Eunice und mich selbst. Allerdings halte ich mich selbst aus verständlichen Gründen für unschuldig. Ich morde grundsätzlich nie ohne Motiv.«
»Wie beruhigend.« John verzog sein schmales Gesicht. Ihm war im Moment nicht nach Scherzen zumute. Er wirkte nach wie vor sehr nervös und furchtsam. »Aber Eunice können Sie auch streichen. Sie hätte ja Maxwells Schlüssel nehmen können. Aber was nützt es?« Er ließ resigniert die Schultern hängen. Sein Blick wanderte wieder aus dem Fenster. »Glover erinnert sich ja nicht daran.«
Mrs. Oliver schaute auf ihre Beine und rückte ihren Rock zurecht. »Für wie ehrenhaft halten Sie eigentlich Mr. Glover?«, fragte sie beinahe beiläufig.
John drehte sich nicht um. Er sprach mit dem Rücken zu ihr. »Er und seine Frau sind schon lange in unseren Diensten. Absolut vertrauenswürdig. Warum?«
»Ich dachte nur, dass er sich vielleicht doch erinnert und sein Wissen gewinnbringend nutzen will.«
»Eine Erpressung?« John lachte kalt auf. »Da geht Ihre Fantasie mit Ihnen durch. So etwas würde Mr. Glover sicher nicht tun. Außerdem hat jede Medaille zwei Seiten. Der Schlüssel beweist absolut gar nichts. Jeder mit eigenem Schlüssel könnte ihn auf den Boden geworfen haben, um den Anschein zu erwecken, dass der Täter außerhalb der Familie zu suchen sein muss. Echte Morde können Sie nicht mit den Maßstäben aus Kriminalromanen messen, Mrs. Oliver. Ich …« Er hielt inne und schien stocksteif zu werden. Mit fahlem Gesicht wendete er sich um und verließ beinahe wankend den Raum. »Bitte entschuldigen Sie mich. Mir ist nicht gut.«
»Kann ich Ihnen helfen, Mr. Kettridge?«
Mrs. Oliver schaute ihm besorgt nach. Nachdenklich stand sie auf. Was war nur in ihn gefahren? Die Schriftstellerin ging zu dem großen, einladenden Fenster. Hier hatte er gestanden. Hatte er etwas entdeckt? Aufmerksam schaute die Autorin hinaus. Vor diesem Fenster lag die Terrasse und man konnte bis hinunter an den Strand sehen. Mrs. Oliver öffnete die Terrassentür und trat hinaus. »Wenn ich doch nur darauf geachtet hätte, wohin Johns Blick gegangen ist«, schalt sie sich leise selbst. Jetzt hätte es einen Hercule Poirot gebraucht. Was sagte ihr denn ihre weibliche Intuition? Sie hatten darüber geredet, wie der Mörder ins Haus zurückgekommen ist. Ihr Blick ging zu dem kleinen Weg, der an dem Haus vorbei führte und die Terrasse mit der Frontseite verband. »Was haben wir denn da!« Tatsächlich hatte sie etwas entdeckt. In einem Busch in der Beeteinfassung neben dem Weg hing ein blutverschmiertes Herrentaschentuch. Ein geradezu klassischer Hinweis. Auch in echten Morden konnte also eine Spur Kriminalroman stecken. Zufrieden lächelnd nahm sie das Fundstück an sich.
»Mrs. Oliver?« Franklins Stimme tönte aus dem Salon.
»Ich bin auf der Terrasse.« Sie ging ihm rasch entgegen und man traf sich auf halber Strecke.
»Der Inspektor möchte jetzt mit Ihnen sprechen. Was haben Sie denn da?« Der Blick von Franklin Kettridge war auf das Taschentuch in Mrs. Olivers Hand gefallen.
»Eine Spur möchte ich meinen.« Sie hielt es ihm entgegen. »Es hing dort vorne an einem Zweig.«
Franklins wettergegerbtes Gesicht wurde sehr ernst. Auf dem Taschentuch war ein stilisiertes K eingestickt. »Sie hätten es mir besser nicht zeigen sollen, Mrs. Oliver. John, Maxwell und ich besitzen alle einen Satz solcher Taschentücher. John und Maxwell kann dieser Fund egal sein, aber mir nicht.«
»Ich verstehe nicht …« Mrs. Oliver hielt den Atem an. Diese Situation gerade war ganz und gar unbehaglich und der ansonsten so charmante und weltmännische Franklin wirkte sonderbar gefährlich auf sie. Wie ein in die Enge getriebenes Tier.
»Es ist doch ganz einfach. Oder nicht? Ich bin der Mörder. Dem Inspektor fehlt nur noch ein einziges, kleines Puzzleteil, um mich zu überführen. Und Sie haben es in der Hand. Was bleibt mir denn jetzt noch anderes übrig, um mich vor dem Galgen zu retten?«
Ein verzweifeltes Augenpaar blickte Mrs. Oliver an.

Im Arbeitszimmer des Ermordeten saß derweil Inspektor Brook hinter dem Schreibtisch und wartete ungeduldig auf die nächste zu vernehmende Person. Er war ein hagerer Mann mit einem nervösen Tick, der nun unablässig mit den Fingern seiner linken Hand auf die Tischplatte klopfte. Mit der anderen Hand ordnete er die diversen Notizen, die Constable Smith gestern Abend und auch die, die er selbst schon am heutigen Vormittag gemacht hatte. In Scotland Yard war der Inspektor gefürchtet für seine Pedanterie. Er war der festen Überzeugung, dass man jeden Mörder überführen konnte, wenn man nur den Tathergang genau genug rekonstruierte. Eine lückenlose Indizienkette war für ihn das A und O. Als nun endlich die nächste Zeugin den Raum betrat, hielt er in seinen rastlosen Bewegungen inne und nahm die eingetretene Frau genau ins Visier. Brook schaute in ein lebhaftes Gesicht, dessen wenige Sorgenfältchen dem charismatischen Gesamteindruck keinen Abbruch taten. »Ariadne Oliver, die Schriftstellerin, nicht wahr?«
Die Dame nickte.
»Bitte nehmen Sie doch Platz.«
Mrs. Oliver setzte sich auf einen Lehnstuhl, der vor dem Schreibtisch stand und nun verdächtig knarrte. »Ich weiß ganz genau, wer es war.«
Inspektor Brook fasste sie scharf ins Auge. »Ach. Na dann schießen Sie mal los.«
»Sein Sohn natürlich!«
»Aha.«
»Ich wusste, Sie würden verstehen.«
»Zweifelsohne. Es ist alles völlig klar. Nur eine kleine, beinah unerhebliche Frage hätte ich da noch.«
»Ja? Bitte?«
»Welcher Sohn war es denn, Mrs. Oliver? Franklin? John? Maxwell? Wir haben immerhin drei zur Auswahl. Oder darf ich mir das aussuchen?« Brooks Gesichtszüge verrieten blanke Ironie.
»Maxwell selbstverständlich. Tief in ihm drin schlummert etwas.«
»Ein mörderischer Instinkt?«
»Auf jeden Fall ist er nicht so oberflächlich wie er immer tut. Er fühlte sich getroffen, als ich ihn gestern Mittag auf seine Familie ansprach.«
»Hören Sie, Mrs. Oliver«, versuchte der Inspektor es noch einmal im Guten. »Wenn Sie irgendetwas gegen seine Familie gesagt haben, was er als Beleidigung hätte auffassen können, warum lag dann sein Vater tot über dem Springbrunnen und nicht Sie?« Für einen Moment kam Brook der Gedanke, ob das nicht sogar angenehmer für ihn gewesen wäre.
»Maxwell wurde doch erst so wütend, als ich ihn darauf ansprach, dass Franklin ja nur adoptiert ist. Es ist doch sonnenklar, dass er ihm das Erbe missgönnt. Ihm blieb doch nur diese eine Wahl. Sein Vater musste sterben, bevor das neue Testament in Kraft treten konnte.«
»Nun, eine nette Theorie, doch ich kann sie mit einem kurzen Satz widerlegen.« Brook zupfte an seinem Jackett. »Das neue Testament ist bereits in Kraft. Mr. Kettridge war gestern unter anderem bei einem Notar.«
»Wie tragisch.« Mrs. Oliver schaute geknickt drein. »Dann hat Maxwell seinen Vater ja ganz umsonst umgebracht.«
»Oder überhaupt nicht. Maxwell wusste nämlich, dass sein Vater zum Notar fahren würde.«
»Na, das kann er hinterher doch leicht behaupten.«
»Franklin hat es ihm gesagt, bevor er mit seinem Vater losgefahren ist.«
»Oh.«
»Sie sagen es.«
»Und wusste John das auch?«
»Das werde ich noch überprüfen.« Brook beugte sich über den Tisch und stützte die Ellenbogen auf. »Deshalb kommen wir jetzt mal zu Ihnen, Mrs. Oliver. Sie haben nämlich etwas sehr Wichtiges mit den Kettridges gemeinsam.«
»Habe ich?«
Der Inspektor nickte. Sein Blick war starr auf die ältere Dame gerichtet. »Sie gehören ebenfalls zu den Verdächtigen.«
»Ich?« Die Autorin schaute ihn entgeistert an. »Ich habe doch gar kein Motiv.«
»Das finde ich schon noch.«
»Und ich lag in der Badewanne, als der Mord passiert ist.«
»Dafür gibt es keinen einzigen Beweis.« Brooks Tonfall war ernst. »Ihre Anwesenheit im ersten Stock wurde erst einige Minuten nach dem Mord bezeugt. Die Zeit dazwischen reichte aus um vom Park in Ihr Zimmer zurückzukommen. Constable Smith hat es für mich nachgestellt und die Zeit gestoppt.«
»Für Colonel Withers gilt aber dann das gleiche«, warf sie ein.
»In der Tat. Deshalb nun meine Frage: Haben Sie irgendetwas an ihm bemerkt? War er vielleicht außer Atem?«
»Nein. Er war kurz angebunden wie immer, aber ganz bestimmt nicht kurzatmig. Das hätte ich gemerkt.«
»Gut. Der Colonel hat ausgesagt, dass der Hausschlüssel am Boden lag und nicht am Haken hing. Können Sie das bestätigen?«
»Ja, das kann ich«, nickte Mrs. Oliver. »Und ich weiß auch, was Sie denken. Sie denken, dass der Weg durch die Halle der Fluchtweg des Mörders gewesen muss.«
»Ich denke, dass der Weg durch die Halle die riskanteste Möglichkeit ist, um zurück ins Haus zu gelangen. Und es deckt sich auch nicht mit dem Fundort der Tatwaffe.«
»Sie haben die Tatwaffe gefunden?«
Brook lächelte triumphierend. Er fiel bei Vernehmungen nie mit der Tür ins Haus und spielte seine Trümpfe immer zu passender Zeit aus. »So ist es.« Er öffnete die oberste Schublade des Schreibtischs, holte einen, in einem Tuch eingewickelten Gegenstand hervor, legte ihn auf den Tisch und schlug den Stoff zurück. Es wurde ein leicht geschwungener Dolch offenbar, der von der Schriftstellerin als ägyptisch identifiziert wurde.
»Das ist doch …« Sie hielt im Satz inne.
»Sie kennen diesen Dolch, Mrs. Oliver?«
Das konnte sie nicht leugnen. »Ja, Herr Inspektor. Ich kann es zwar nicht beschwören, aber einen beinahe identischen Dolch sah ich vor ein paar Jahren, als ich Franklin Kettridge auf einer Nilkreuzfahrt kennen lernte. Er zeigte mir damals auch seine neuesten Fundstücke.«
»Es ist Franklins Dolch«, bestätigte Brook. »Ich nehme an, Sie wissen, was das heißt.«
Mrs. Oliver nickte. Sie verstand sehr gut. Das war es, was Franklin eben auf der Terrasse gemeint hatte. Tatwaffe und Motiv sprachen eindeutig gegen ihn. »Wo wurde der Dolch gefunden?«
»Das werde ich Ihnen gleich sagen. Nur eines noch.« Er fasste sie scharf ins Auge. Seine Hand spielte mit dem Notizzettel, auf dem sich die Aussage von Mrs. Oliver befand. »Sie haben angegeben, dass sie nach dem Mord eine Gestalt haben im Dunkeln verschwinden sehen. Denken Sie jetzt genau nach, Mrs. Oliver. In welche Richtung ist diese Gestalt verschwunden?«
Die Autorin schloss einen Moment die Augen und konzentrierte sich auf die gestrige Nacht. Wohin war er gelaufen? Oder sie. Jetzt nur nichts durcheinander bringen, immerhin konnte es ein sehr wichtiges Detail für die Ermittlungen sein. »Die Gestalt«, fing Mrs. Oliver an, hielt dann inne und riss die Augen auf. Ein kalter Schauer fuhr über ihren Rücken. »Die Gestalt verschwand zur Rückseite des Gebäudes.« Sie atmete tief durch. Es passte. Es passte zu dem Taschentuch auf der Terrasse. Und Brook vor ihr wirkte auch sehr zufrieden mit ihrer Antwort. »Bitte … bitte sagen Sie mir nun wo man den Dolch gefunden hat.«
»In einem Gebüsch an der Seite des Gebäudes. In der Nähe des Dienstboteneingangs«, gab der Inspektor Auskunft.
»An der Seite des Gebäudes«, wiederholte Mrs. Oliver leise. Die gesamte Tragweite von Franklins Verzweiflung wurde ihr nun vollständig bewusst. Sie kannte ja die Aussage, die er dem Constable letzte Nacht gemacht hatte. Demnach war er der letzte, der seinen Vater lebend gesehen hatte, als sie gemeinsam die Garage verließen, in der Peltonen sich noch um den Wagen kümmern wollte, und sich dann kurze Zeit später trennten.
»Wir können nun also ziemlich sicher davon ausgehen, dass das der Fluchtweg des Mörders war und das Hauptportal vergessen.«
Mrs. Oliver nahm die Stimme des Inspektors nur aus der Ferne wahr, während vor ihrem geistigen Auge gerade ein unschöner Film ablief. Franklin ging weiter mit seinem Vater mit, zog kaltblütig den Dolch, den er allein zu diesem Zweck schon vor der Fahrt zum Notar mitgenommen hatte, stach auf seinen Erzeuger – nein, halt, er war ja nur adoptiert – ehemaligen Vormund ein und trat dann die Flucht an.
»Die Tatwaffe musste der Mörder natürlich loswerden, bevor er wieder das Haus betrat, wo die Gefahr natürlich groß war, jemandem zu begegnen«, fuhr Brook fort.
Und sich die blutigen Hände abwischen, fügte Mrs. Oliver noch gedanklich hinzu. Das Taschentuch. Eilig ins Jackett gesteckt, unbemerkt im Gebüsch hängen geblieben. Sie besaß das letzte fehlende Teil des Puzzles. Und sie war mit dem Vorsatz zum Inspektor gegangen, ihm diesen Fund zu verschweigen. Deckte sie damit nun einen skrupellosen Mörder?
»Wir müssen uns also auf die Personen konzentrieren, die einen Schlüssel zum Dienstboteneingang oder zur Terrassentür haben.«
Der Dienstboteneingang! Das war Mrs. Olivers letzte Hoffnung. »Und … und wenn ich gar nicht den Mörder gesehen habe?«, warf sie zaghaft ein. »Vielleicht sah ich Peltonen, wie er die Leiche fand. Er kam ja dem Colonel und mir kurz darauf unten entgegen.«
Doch Brook winkte ab. »Ich habe Smith alles nachstellen lassen, auch das. Sie müssen den Mörder gesehen haben. Alles andere würde von der Zeit her nicht aufgehen.« Der Inspektor beugte sich etwas vor. »Es sei denn Sie wollen implizieren, dass Peltonen der Mörder ist. Das kaufe ich Ihnen aber nur ab, wenn Sie auch noch ein schlüssiges Motiv drauflegen.« Doch noch ehe seine Gesprächspartnerin antworten konnte, hob er abwehrend die Hand. »Sagen Sie lieber nichts. Ich bin sicher, dass einem kreativen Geist wie dem ihren sicher ein halbes Dutzend Motive einfallen und wir wollen die Sache nicht komplizierter machen als sie ist. Außerdem habe ich nicht ewig Zeit. Deshalb nur noch eine letzte Frage. Haben Sie ansonsten noch irgendeinen Anhaltspunkt, der wichtig sein könnte für mich?« Sein Mundwinkel zuckte nervös.
»Ich …« Mrs. Oliver rang mit sich. Sie hatte einen. Einen, der Kettridges Söhne schwer belasten würde und einem von ihnen den Tod durch den Strang bringen konnte. Franklin, dem Archäologen, dem Abenteurer, dem Freiheitsliebenden. Er würde sicher schon in der Todeszelle elendig zugrunde gehen. »Nein. Nein, Herr Inspektor, ich habe keinen Anhaltspunkt mehr.« Mit diesen Worten stand sie auf, verabschiedete sich von Brook und verließ den Raum.
 
V – Die Indizien

»Es ist alles so furchtbar.« John Kettridge stand vor dem Panoramafenster im Salon und schaute hinaus zum Strand. Er hatte die Arme verschränkt und hielt sie dicht am Körper. »Und es macht mich so verflucht nervös. Dass im Park nach der Tatwaffe gesucht wird, das verstehe ich ja noch. Aber was verspricht sich dieser Inspektor davon, wenn er Mr. Smith hier die ganze Zeit mit einer Stoppuhr von einem Ort zum anderen jagt?«
Er drehte sich um und blickte in die Gesichter Franklin und Ariadne Oliver, die auf einem Sofa saßen. Sie warteten hier alle drei noch auf ihre Vernehmung durch den Beamten von Scotland Yard.
Franklin zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass der Constable im Flur zur Küche fast Glover umgerannt hätte, als dieser das Frühstücksgeschirr zum Spülen bringen wollte.«
Mrs. Oliver zupfte gedankenverloren an ihren Haaren herum, die sie sich an diesem Morgen zu einer gewagten Hochsteckfrisur aufgetürmt hatte. Im Gegensatz zu den beiden Brüdern wirkte sie frisch und ausgeruht. Allerdings hatte sie ja auch nicht vor kurzem einen engen Familienangehörigen verloren. Noch dazu durch Mord. »Wahrscheinlich will der Inspektor wissen, wie lang man für bestimmte Strecken braucht. Immerhin muss der Täter ja irgendwie unbemerkt in das Haus zurückgekommen sein.«
»Das will ich doch nicht hoffen«, meinte John erschreckt. »Kann es denn nicht auch irgendjemand von außerhalb getan haben? Die Vorstellung, unter einem Dach mit einem Mörder zu sein, behagt mir gar nicht.«
Franklin stand auf und trat zu ihm. »Ich verspreche dir, dass dir nichts geschehen wird. Ich passe auf dich auf.«
»Danke, Frank.«
»Dafür sind große Brüder doch da.«
Auch große Brüder können Mörder sein, dachte Mrs. Oliver still bei sich, sagte aber weiter nichts dazu. Ihrer Meinung nach war nur der Mörder die einzig sichere Person hier. Ein dezentes Räuspern ließ sie zur Tür schauen. Es war Glover. »Mr. Franklin wird zum Inspektor gebeten.«
»Danke, Glover.« Franklin klopfte John noch einmal aufmunternd auf den Rücken und verließ dann das Zimmer.
Glover machte ihm Platz. »Wünschen die anderen Herrschaften vielleicht noch einen Kaffee oder etwas anderes für die Wartezeit?«
»Nein, danke«, lehnte John ab. »Ich bekomme heute sowieso kaum etwas herunter.«
Auch Mrs. Oliver stand der Sinn im Moment nicht nach einem Getränk. Dafür hatte sie aber etwas anderes auf dem Herzen. »Mr. Glover? Sagen Sie bitte, hatten Sie ihre Kontrollrunde gestern Abend schon gemacht?«
Glover hob erstaunt die Augenbrauen. »Seltsam. Das hat mich der Inspektor auch schon gefragt, Madam. Aber ja, das war bereits erledigt.«
»Und alle Türen waren ordentlich verschlossen?«
»Ja, Madam. Ich habe alle Türen höchstpersönlich abgeschlossen.«
»Wer besitzt alles einen Schlüssel?«
»Der verstorbene Mr. Kettridge besaß einen vollständigen Satz. Ich natürlich auch. Seine Söhne besitzen Haustür- und Terrassenschlüssel und Mr. Peltonen einen für den Dienstboteneingang. Und ein Haustürschlüssel hängt in der Eingangshalle.«
»Ah.« Mrs. Olivers Augen leuchteten auf, als ihr dieser Ausruf der Erkenntnis entschlüpfte und John überrascht zu ihr blickte. »Dieser Schlüssel könnte noch sehr wichtig sein. Mr. Glover, bitte denken Sie jetzt gut nach.« Sie blickte den Hausangestellten scharf an. »Hing der Hausschlüssel am Haken, als Sie die Tür abgeschlossen haben?«
»Auch das hat mich die Polizei schon gefragt, Madam. Und ich muss zu meinem Leidwesen gestehen, dass ich nicht darauf geachtet habe. Ich kann weder das eine noch das andere bezeugen.«
»Oh.« Mrs. Oliver wirkte ehrlich enttäuscht.
»Wäre das dann alles, Madam?«
»Ja, danke, Mr. Glover.«
Der Butler entfernte sich und Mrs. Oliver seufzte. »Das wäre wohl auch zu einfach gewesen. So ein schöner Hinweis.«
John strich sich über den Hinterkopf. »Ich verstehe nicht ganz.«
Mrs. Oliver wandte sich dem jungen Mann zu. »Nehmen wir doch einfach mal an, dass der Hausschlüssel noch am Haken hing, als Glover seine Runde gemacht hat. Dann muss ihn doch irgendwer in der Zwischenzeit benutzt haben. Denn er lag ja am Boden, als der Oberst und ich ihn nehmen wollten.«
»Ja, das klingt logisch. Aber was schließen Sie daraus, Mrs. Oliver?«
»Es ist doch sehr wahrscheinlich, dass es der Mörder war, der den Schlüssel benutzt hat. Und das würde wiederum heißen, dass Sie und Ihre Brüder von jedem Verdacht befreit sind. Denn sie hätten ja ihre eigenen Schlüssel benutzen können. Das würde den Täterkreis einschränken.«
»Sie meinen auf Dr. Rasmussen und Colonel Withers?«
»Ja. Und auf Eunice und mich selbst. Allerdings halte ich mich selbst aus verständlichen Gründen für unschuldig. Ich morde grundsätzlich nie ohne Motiv.«
»Wie beruhigend.« John verzog sein schmales Gesicht. Ihm war im Moment nicht nach Scherzen zumute. Er wirkte nach wie vor sehr nervös und furchtsam. »Aber Eunice können Sie auch streichen. Sie hätte ja Maxwells Schlüssel nehmen können. Aber was nützt es?« Er ließ resigniert die Schultern hängen. Sein Blick wanderte wieder aus dem Fenster. »Glover erinnert sich ja nicht daran.«
Mrs. Oliver schaute auf ihre Beine und rückte ihren Rock zurecht. »Für wie ehrenhaft halten Sie eigentlich Mr. Glover?«, fragte sie beinahe beiläufig.
John drehte sich nicht um. Er sprach mit dem Rücken zu ihr. »Er und seine Frau sind schon lange in unseren Diensten. Absolut vertrauenswürdig. Warum?«
»Ich dachte nur, dass er sich vielleicht doch erinnert und sein Wissen gewinnbringend nutzen will.«
»Eine Erpressung?« John lachte kalt auf. »Da geht Ihre Fantasie mit Ihnen durch. So etwas würde Mr. Glover sicher nicht tun. Außerdem hat jede Medaille zwei Seiten. Der Schlüssel beweist absolut gar nichts. Jeder mit eigenem Schlüssel könnte ihn auf den Boden geworfen haben, um den Anschein zu erwecken, dass der Täter außerhalb der Familie zu suchen sein muss. Echte Morde können Sie nicht mit den Maßstäben aus Kriminalromanen messen, Mrs. Oliver. Ich …« Er hielt inne und schien stocksteif zu werden. Mit fahlem Gesicht wandte er sich um und verließ beinahe wankend den Raum. »Bitte entschuldigen Sie mich. Mir ist nicht gut.«
»Kann ich Ihnen helfen, Mr. Kettridge?«
Mrs. Oliver schaute ihm besorgt nach. Nachdenklich stand sie auf. Was war nur in ihn gefahren? Die Schriftstellerin ging zu dem großen, einladenden Fenster. Hier hatte er gestanden. Hatte er etwas entdeckt? Aufmerksam schaute die Autorin hinaus. Vor diesem Fenster lag die Terrasse und man konnte bis hinunter an den Strand sehen. Mrs. Oliver öffnete die Terrassentür und trat hinaus. »Wenn ich doch nur darauf geachtet hätte, wohin Johns Blick gegangen ist«, schalt sie sich leise selbst. Jetzt war guter Rat teuer. Wo steckte nur Hercule Poirot, wenn man ihn einmal brauchte?
Mrs. Oliver hielt inne. Was sagte ihr denn ihre weibliche Intuition? Sie hatten darüber geredet, wie der Mörder ins Haus zurückgekommen ist. Ihr Blick ging zu dem kleinen Weg, der an dem Haus vorbei führte und die Terrasse mit der Frontseite verband. »Was haben wir denn da!« Tatsächlich hatte sie etwas entdeckt. In einem Busch in der Beeteinfassung neben dem Weg hing ein blutverschmiertes Herrentaschentuch. Ein geradezu klassischer Hinweis. Auch in echten Morden konnte also eine Spur Kriminalroman stecken. Zufrieden lächelnd nahm sie das Fundstück an sich.
»Mrs. Oliver?« Franklins Stimme tönte aus dem Salon.
»Ich bin auf der Terrasse.« Sie ging ihm rasch entgegen und traf ihn auf halber Strecke.
»Der Inspektor möchte jetzt mit Ihnen sprechen. Was haben Sie denn da?« Der Blick von Franklin Kettridge war auf das Taschentuch in Mrs. Olivers Hand gefallen.
»Eine Spur möchte ich meinen.« Sie hielt es ihm entgegen. »Es hing dort vorn an einem Zweig.«
Franklins wettergegerbtes Gesicht wurde sehr ernst. Auf dem Taschentuch war ein stilisiertes K eingestickt. »Sie hätten es mir besser nicht zeigen sollen, Mrs. Oliver. John, Maxwell und ich besitzen alle einen Satz solcher Taschentücher. John und Maxwell kann dieser Fund egal sein, aber mir nicht.«
»Ich verstehe nicht …« Mrs. Oliver hielt den Atem an. Diese Situation gerade war ganz und gar unbehaglich und der ansonsten so charmante und weltmännische Franklin wirkte sonderbar gefährlich auf sie. Wie ein in die Enge getriebenes Tier.
»Es ist doch ganz einfach. Oder nicht? Ich bin der Mörder. Dem Inspektor fehlt nur noch ein einziges, kleines Puzzleteil, um mich zu überführen. Und Sie haben es in der Hand. Was bleibt mir denn jetzt noch anderes übrig, um mich vor dem Galgen zu retten?«
Ein verzweifeltes Augenpaar blickte Mrs. Oliver an.

Im Arbeitszimmer des Ermordeten saß derweil Inspektor Brook hinter dem Schreibtisch und wartete ungeduldig auf die nächste zu vernehmende Person. Er war ein hagerer Mann mit einem nervösen Tick, so dass er nun unablässig mit den Fingern seiner linken Hand auf die Tischplatte klopfte. Mit der anderen Hand ordnete er einige kleine Notizzettel. In Scotland Yard war der Inspektor wegen seiner Pedanterie gefürchtet. Er war der festen Überzeugung, dass man jeden Mörder überführen konnte, wenn man nur den Tathergang genau genug rekonstruierte. Eine lückenlose Indizienkette war dabei das A und O!
Als nun endlich die nächste Zeugin den Raum betrat, hielt er in seinen rastlosen Bewegungen inne und nahm die eingetretene Frau genau ins Visier. Brook schaute in ein lebhaftes Gesicht, dessen wenige Sorgenfältchen dem charismatischen Gesamteindruck keinen Abbruch taten. »Ariadne Oliver, die Schriftstellerin, nicht wahr?«
Die Dame nickte.
»Bitte nehmen Sie doch Platz.«
Mrs. Oliver setzte sich in einen Lehnstuhl, der vor dem Schreibtisch stand und nun verdächtig knarrte. »Ich weiß ganz genau, wer es war.«
Inspektor Brook fasste sie scharf ins Auge. »Ach. Na dann schießen Sie mal los.«
»Sein Sohn natürlich!«
»Aha.«
»Ich wusste, Sie würden verstehen.«
»Zweifelsohne. Es ist alles völlig klar. Nur eine kleine, beinah unerhebliche Frage hätte ich da noch.«
»Ja? Bitte?«
»Welcher Sohn war es denn, Mrs. Oliver? Franklin? John? Maxwell? Wir haben immerhin drei zur Auswahl. Oder darf ich mir das aussuchen?« Brooks Gesichtszüge verrieten blanke Ironie.
»Maxwell selbstverständlich. Tief in ihm schlummert etwas.«
»Ein mörderischer Instinkt?«
»Auf jeden Fall ist er nicht so oberflächlich wie er immer tut. Er fühlte sich getroffen, als ich ihn gestern Mittag auf seine Familie ansprach.«
»Hören Sie, Mrs. Oliver«, versuchte der Inspektor es noch einmal im Guten. »Wenn Sie irgendetwas gegen seine Familie gesagt haben, was er als Beleidigung hätte auffassen können, warum lag dann sein Vater tot über dem Springbrunnen und nicht Sie?« Für einen Moment kam Brook der Gedanke, ob das nicht sogar angenehmer für ihn gewesen wäre.
»Maxwell wurde doch erst so wütend, als ich ihn darauf ansprach, dass Franklin ja nur adoptiert ist. Es ist doch sonnenklar, dass er ihm das Erbe missgönnt. Ihm blieb doch nur diese eine Wahl. Sein Vater musste sterben, bevor das neue Testament in Kraft treten konnte.«
»Nun, eine nette Theorie, doch ich kann sie mit einem kurzen Satz widerlegen.« Brook zupfte an seinem Jackett. »Das neue Testament ist bereits in Kraft. Mr. Kettridge war gestern unter anderem bei einem Notar.«
»Wie tragisch.« Mrs. Oliver schaute geknickt drein. »Dann hat Maxwell seinen Vater ja ganz umsonst umgebracht.«
»Oder überhaupt nicht. Maxwell wusste nämlich, dass sein Vater zum Notar fahren würde.«
»Na, das kann er hinterher doch leicht behaupten.«
»Franklin hat es ihm gesagt, bevor er mit seinem Vater losgefahren ist.«
»Oh.«
»Sie sagen es.«
»Und wusste John das auch?«
»Das werde ich noch überprüfen.« Brook beugte sich über den Tisch und stützte die Ellenbogen auf. »Deshalb kommen wir jetzt einmal zu Ihnen, Mrs. Oliver. Sie haben nämlich etwas sehr Wichtiges mit den Kettridges gemeinsam.«
»Habe ich?«
Der Inspektor nickte. Sein Blick war starr auf die ältere Dame gerichtet. »Sie gehören ebenfalls zu den Verdächtigen.«
»Ich?« Die Autorin schaute ihn entgeistert an. »Ich habe doch gar kein Motiv.«
»Das finde ich schon noch.«
»Und ich lag in der Badewanne, als der Mord passiert ist.«
»Dafür gibt es keinen einzigen Beweis.« Brooks Tonfall war ernst. »Ihre Anwesenheit im ersten Stock wurde erst einige Minuten nach dem Mord bezeugt. Die Zeit dazwischen reichte aus, um vom Park in Ihr Zimmer zurückzukommen. Constable Smith hat es für mich nachgestellt und die Zeit gestoppt.«
»Für Colonel Withers gilt dann aber das gleiche«, warf sie ein.
»In der Tat. Deshalb nun meine Frage: Haben Sie irgendetwas an ihm bemerkt? War er vielleicht außer Atem?«
»Nein. Er war kurz angebunden wie immer, aber ganz bestimmt nicht kurzatmig. Das hätte ich gemerkt.«
»Gut. Der Colonel hat ausgesagt, dass der Hausschlüssel am Boden lag und nicht am Haken hing. Können Sie das bestätigen?«
»Ja, das kann ich«, nickte Mrs. Oliver. »Und ich weiß auch, was Sie denken. Sie denken, dass der Weg durch die Halle der Fluchtweg des Mörders gewesen muss.«
»Ich denke, dass der Weg durch die Halle die riskanteste Möglichkeit ist, um zurück ins Haus zu gelangen. Und es deckt sich auch nicht mit dem Fundort der Tatwaffe.«
»Sie haben die Tatwaffe gefunden?«
Brook lächelte triumphierend. Er fiel bei Vernehmungen nie mit der Tür ins Haus und spielte seine Karten immer zu passender Zeit aus. »So ist es.« Er öffnete die oberste Schublade des Schreibtischs, holte einen, in einem Tuch eingewickelten Gegenstand hervor, legte ihn auf den Tisch und schlug den Stoff zurück. Es wurde ein leicht geschwungener Dolch offenbar, der von der Schriftstellerin als ägyptisch identifiziert wurde.
»Das ist doch …« Sie hielt im Satz inne.
»Sie kennen den Dolch, Mrs. Oliver?«
Dies konnte sie nicht leugnen. »Ja, Herr Inspektor. Ich kann es zwar nicht beschwören, aber einen beinahe identischen Dolch sah ich vor ein paar Jahren, als ich Franklin Kettridge auf einer Nilkreuzfahrt kennen lernte. Er zeigte mir damals auch seine neuesten Fundstücke.«
»Es ist Franklins Dolch«, bestätigte Brook. »Ich nehme an, Sie wissen, was das heißt.«
Mrs. Oliver nickte. Sie verstand sehr gut. Das war es, was Franklin eben auf der Terrasse gemeint hatte. Tatwaffe und Motiv sprachen eindeutig gegen ihn. »Wo wurde der Dolch gefunden?«
»Das werde ich Ihnen gleich sagen. Nur eines noch.« Er fasste sie scharf ins Auge. Seine Hand spielte mit dem Notizzettel, auf dem sich die Aussage von Mrs. Oliver befand. »Sie haben angegeben, dass sie nach dem Mord eine Gestalt haben im Dunkeln verschwinden sehen. Denken Sie jetzt genau nach, Mrs. Oliver. In welche Richtung ist diese Gestalt verschwunden?«
Die Autorin schloss einen Moment die Augen und konzentrierte sich auf die gestrige Nacht. Wohin war er gelaufen? Oder sie. Jetzt nur nichts durcheinander bringen, immerhin konnte es ein sehr wichtiges Detail für die Ermittlungen sein. »Die Gestalt«, fing Mrs. Oliver an, hielt dann inne und riss die Augen auf. Ein kalter Schauer fuhr über ihren Rücken. »Die Gestalt verschwand zur Rückseite des Gebäudes.« Sie atmete tief durch. Es passte. Es passte zu dem Taschentuch auf der Terrasse. Und Brook vor ihr wirkte auch sehr zufrieden mit ihrer Antwort. »Bitte … bitte sagen Sie mir nun wo man den Dolch gefunden hat.«
»In einem Gebüsch an der Seite des Gebäudes. In der Nähe des Dienstboteneingangs«, gab der Inspektor Auskunft.
»An der Seite des Gebäudes«, wiederholte Mrs. Oliver leise. Die gesamte Tragweite von Franklins Verzweiflung wurde ihr nun vollständig bewusst. Schließlich kannte sie ja die Aussage, die er dem Constable letzte Nacht gemacht hatte. Er war demnach der letzte gewesen, der seinen Vater lebend gesehen hatte. Sie hatten sich getrennt, kurz nachdem sie die Garage verlassen hatten, in der Peltonen sich noch um den Wagen kümmern wollte.
»Wir können nun also ziemlich sicher davon ausgehen, dass das der Fluchtweg des Mörders war und das Hauptportal vergessen.«
Mrs. Oliver nahm die Stimme des Inspektors nur aus der Ferne wahr, während vor ihrem geistigen Auge gerade ein beunruhigender Film ablief. Franklin ging weiter mit seinem Vater mit, zog kaltblütig den Dolch, den er allein zu diesem Zweck schon vor der Fahrt zum Notar mitgenommen hatte, stach auf seinen Erzieher ein und trat dann die Flucht an.
»Die Tatwaffe musste der Mörder natürlich loswerden, bevor er wieder das Haus betrat, wo die Gefahr natürlich groß war, jemandem zu begegnen«, fuhr Brook fort.
Und sich die blutigen Hände abwischen, fügte Mrs. Oliver noch gedanklich hinzu. Das Taschentuch. Eilig ins Jackett gesteckt, unbemerkt im Gebüsch hängen geblieben. Sie besaß das letzte fehlende Teil des Puzzles. Und sie war mit dem Vorsatz zum Inspektor gegangen, ihm diesen Fund zu verschweigen. Deckte sie damit nun einen skrupellosen Mörder?
»Wir müssen uns also auf die Personen konzentrieren, die einen Schlüssel zum Dienstboteneingang oder zur Terrassentür haben.«
Der Dienstboteneingang! Das war Mrs. Olivers letzte Hoffnung. »Und … und wenn ich gar nicht den Mörder gesehen habe?«, warf sie zaghaft ein. »Vielleicht sah ich Peltonen, wie er die Leiche fand. Er kam ja dem Colonel und mir kurz darauf unten entgegen.«
Doch Brook winkte ab. »Ich habe Smith alles nachstellen lassen, auch das. Sie müssen den Mörder gesehen haben. Alles andere würde von der Zeit her nicht aufgehen.« Der Inspektor beugte sich etwas vor. »Es sei denn Sie wollen implizieren, dass Peltonen der Mörder ist. Das glaube ich Ihnen aber nur, wenn Sie auch noch ein schlüssiges Motiv nennen können.« Doch noch ehe seine Gesprächspartnerin antworten konnte, hob er abwehrend die Hand. »Sagen Sie lieber nichts. Ich bin sicher, dass einem kreativen Geist wie dem ihren sicher ein halbes Dutzend Motive einfallen und wir wollen die Sache nicht komplizierter machen als sie ist. Außerdem habe ich nicht ewig Zeit. Deshalb nur noch eine letzte Frage. Haben Sie ansonsten noch irgendeinen Anhaltspunkt, der wichtig sein könnte für mich?« Sein Mundwinkel zuckte nervös.
»Ich …« Mrs. Oliver rang mit sich. Sie hatte einen. Einen, der Kettridges Söhne schwer belasten würde und einem von ihnen den Tod durch den Strang bringen konnte. Franklin, dem Archäologen, dem Abenteurer, dem Freiheitsliebenden. Er würde sicher schon in der Todeszelle elendig zugrunde gehen. »Nein. Nein, Herr Inspektor, ich habe keinen Anhaltspunkt mehr.« Mit diesen Worten stand sie auf, verabschiedete sich von Brook und verließ den Raum.
 



 
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