Fortuna ist blind - Kapitel 6

VI – Die zweite Leiche

Die Stimmung im Hause Kettridge war trostlos an diesem Tag. Das Mittagessen wurde schweigend eingenommen. John kam gar nicht erst herunter und Franklin zog sich schon nach der Vorspeise zurück. Die Ereignisse der letzten Nacht und die Vernehmungen am Vormittag hatten sichtlich an den Nerven von allen Anwesenden gezehrt. Einzig der Oberst war wie immer. Distanziert und schweigsam. Er schien vom Tod des alten Kettridge unberührt geblieben zu sein. Allerdings – so dachte Mrs. Oliver, als sie sich die Worte von Mr. Leighton ins Gedächtnis zurück rief – war dies ja nicht weiter verwunderlich. Kettridge und Withers hatten sich ja mehr geduldet als gemocht. Sie waren einzig verbunden gewesen durch die Heirat ihrer Kinder. Maxwell und Eunice. Und während des gesamten Mittagessens hing der unausgesprochene Vorwurf in der Luft, dass Franklin der Mörder seines Vaters war. Wahrscheinlich hatte er sich deshalb auch so schnell wieder von der Tafel entfernt. Auch zum Tee erschien er nicht mehr.
»Meine Brüder lassen sich entschuldigen«, verkündete John, als er zum Tee dann doch wieder herunterkam und zu den anderen stieß, die sich im Salon niedergelassen hatten und von Glover mit Tee, Sandwichs, weichen Brötchen und Marmelade bewirtet wurden. »Und auch Eunice hat sich lieber für einen Spaziergang an der frischen Luft entschieden. Ist ja kein Wunder, so bedrückend wie die Atmosphäre hier im Haus seit der Ankunft der Polizei ist.« Der junge Mann seufzte und ließ sich kraftlos in einem freien Sessel nieder.
»Na, wenn die Anwesenheit der Polizei dazu führt, dass Miss Eunice endlich meine Ratschläge befolgt, dann soll es mir Recht sein«, murmelte Dr. Rasmussen und verrührte die Milch in seinem Tee.
»Sie führt wohl eher dazu, dass jetzt die Wolken hier so tief hängen.« John nahm von Glover eine Tasse Tee entgegen. Etwas zu essen lehnte er allerdings ab.
»Sie müssen etwas zu sich nehmen, Junge«, schaltete sich da Dr. Rasmussen wieder ein. »Wo Sie doch schon auf das Mittagessen verzichtet und beim Frühstück auch nur Kaffee getrunken haben.«
»Na gut, dann geben Sie mir bitte noch ein Gurkensandwich, Glover«, bestellte der Sohn des Hauses widerwillig. Ihm war wirklich nicht nach Essen zumute heute.
Nun schaltete sich auch Mrs. Oliver in das Gespräch ein. »Sind Sie sicher, dass die Polizei an der Stimmung hier Schuld ist und dass es nicht vielleicht doch am Tod Ihres Vaters liegt?«, fragte sie, einem spontanen Impuls folgend.
»Ja … Nein.« John seufzte. »Ach, ich weiß nicht. Bestimmt beides. Aber der Inspektor wirkt auf mich wie die Axt im Walde.«
»Der Inspektor ist ein Idiot«, brummte Colonel Withers von seiner Position am Kamin aus.
»So?« Dr. Rasmussen zog die Stirn kraus. »Auf mich hat er einen sehr kompetenten und effektiven Eindruck gemacht.«
John blickte verzweifelt in die Runde. »Er … Er wird es Franklin nachweisen, nicht wahr? Ich meine, es ist doch eindeutig. Motiv, Tatwaffe, Fluchtweg, das blutige Ta…«
Ein lautes Räuspern von Mrs. Oliver unterbrach seinen Redeschwall. Sie schaute John an, kniff die Lippen zusammen und führte ihren Zeigefinger zu ihrem Mund. Er schien zu verstehen und blieb still.
»Entschuldigen Sie bitte, aber ich glaube, das Gebäck ist etwas trocken«, meinte die Schriftstellerin daraufhin mit einem Lächeln, das kein Wässerchen trüben konnte.
»Ihre Äpfel sind saftiger, was«, ließ der Doktor ein Verlegenheitslachen ertönen. »Trinken Sie etwas, dann wird es schon wieder.«
Mrs. Oliver leistete diesem guten Ratschlag auch sogleich Folge und leerte ihre Teetasse. Scheinbar hatten weder Rasmussen noch Withers etwas gemerkt. Dennoch wurde ihr die Luft hier im Salon, an der sie bisher nichts auszusetzen gehabt hatte, nun doch auch etwas stickig. »Ich denke, ich werde es einmal Eunice nach tun und mir auch einmal die Beine vertreten. Wenn mich die Herren entschuldigen wollen?«
Sie wollten. Und so stand die Autorin schließlich auf und verließ den Salon durch die Terrassentür. Es war ein bisschen so wie ein Deja-vu. Ihr Blick ging automatisch zu dem Strauch, an dem sie das Taschentuch gefunden hatte. Hatte sie diesen Tag noch als Unbeteiligte begonnen, so steckte sie jetzt knietief mit drin. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht? Sven Hjerson wäre das nicht passiert. Er hätte sich nicht von einem Verdächtigen derart beeinflussen lassen. Aber er war ja auch ein Mann. Sie schnaufte verächtlich. Er besaß weder mütterliche Instinkte noch weibliche Intuition. Es würde ihn ohnehin nicht mehr lange geben. Die vergiftete Karotte war beschlossene Sache. Und das passende Gift würde sie auch bald finden. Ganz gewiss. Und kein blutiges Taschentuch würde sie dabei verraten können. Ein überlegenes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht als sie weiter ging.
»Mrs. Oliver!«
Die Angesprochene fuhr erschrocken zusammen. Bitte nicht schon wieder. Langsam drehte sie sich um. Doch diesmal war es nicht Franklin, sondern sein jüngerer Bruder John.
»Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Ist schon gut, Mr. Kettridge. Was kann ich denn noch für Sie tun?«
»Ich … Ich glaube, Sie haben schon ziemlich viel für mich getan. Haben Sie das blutbefleckte Taschentuch abgenommen, bevor es die Polizei gefunden hat?«
»Ja, das habe ich, Mr. Kettridge.«
»Aber warum denn? Wenn das raus kommt – bei Gott, es wäre ja eben schon fast herausgekommen – dann bringt Ihnen das doch nur Scherereien ein.«
»Nun.« Mrs. Oliver zögerte kurz. »Ich habe es zuerst abgemacht, um es dem Inspektor zu zeigen. Doch dann hat mich ihr Bruder Franklin damit gesehen.«
Johns Augen weiteten sich. »Franklin hat …? Hat er Ihnen gedroht? Wollte er Ihnen etwas antun, wenn Sie das Taschentuch nicht verschwinden lassen? War es so? Ist es das? Oh, Franklin.«
»Nein, Mr. Kettridge. Beruhigen Sie sich. Er hat nichts dergleichen getan. Aber er war verzweifelt. Ehrlich verzweifelt. Ich konnte nicht anders.« Sie machte eine kurze Pause und wog ihre weiteren Worte zunächst gut ab. »Ich glaube nicht, dass er schuldig ist«, meinte sie schließlich. Es beruhigte ihren Gesprächspartner jedoch keineswegs.
»Und wenn doch? Warum sollte er denn sonst verzweifelt sein? Er war doch immer so stark, so selbstsicher.«
Mrs. Oliver blickte John ruhig an. »Er bedeutet Ihnen viel, nicht wahr?«
Ihr Gesprächspartner nickte. »Ja. Er ist der beste große Bruder, den man sich wünschen kann. Wissen sie, so harmonisch unser Familienleben auch nach außen zu sein schien, manche Dinge lassen sich einfach nicht völlig ausgleichen. Ja, sie scheinen beinahe naturgegeben zu sein.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«
»Na ja.« John trat zum hölzernen Geländer und hielt sich daran fest. »Franklin war das Wunschkind meiner Eltern. Der Stammhalter. Ihr Augenstern. Und Maxwell ist der Jüngste gewesen. Das Nesthäkchen. Nur ich war nichts Besonderes. Ich war nur das mittlere Kind. Doch Franklin, Franklin war immer für mich da.«
»Ich verstehe.« Das Bild, was Dr. Rasmussen ihr von der Familie gezeichnet hatte, bekam zusehends mehr und mehr Risse.
»Es würde eine Welt für mich zusammen brechen, wenn er der Mörder unseres Vaters wäre.«
»Das glaube ich Ihnen.«
»Doch wer sollte es sonst gewesen sein? Wer bloß? Und wenn er es nicht war, wer war es dann? Ist es vielleicht Maxwells Taschentuch?«
Mrs. Oliver strich nachdenklich über eine Haarsträhne, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. Maxwell? Ja, dies war auch ihr erster Gedanke gewesen. Doch dann hatte ihr Inspektor Brook das Motiv genommen. Maxwell hätte Franklin umbringen müssen und nicht seinen Vater. Doch selbst im Dunkeln hätte man die beiden nicht miteinander verwechseln können. »Und was ist, wenn jemand absichtlich das Taschentuch dort abgelegt hat, um Sie und Ihre Brüder zu verdächtigen?«, äußerte sie eine weitere Vermutung. »Wenn es doch jemand von außerhalb war? Alle Hinweise fand man im Park. Keine im Haus. Und der hinunter gefallene Schlüssel ist als Indiz nicht stichhaltig genug.«
»Dann hätte ich, ehrlich gesagt, umso mehr Angst, Mrs. Oliver. Denn zumindest einmal muss der Mörder ja im Haus gewesen sein, um sich den Dolch und das Taschentuch anzueignen.«
Das konnte die Autorin nicht leugnen.
»Und vielleicht ist es jemand, der unsere ganze Familie hasst«, fuhr John fort. »Dann sind wir alle in Gefahr. Das möchte ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen. In dem Falle hätte ich lieber Gewissheit.« Er blickte aufs Meer hinaus. »Egal, was für ein Opfer es dann erfordert.«
»Wie meinen Sie das, Mr. Kettridge?«
John wendete sich wieder mit ernstem Gesicht Mrs. Oliver zu. »Ich meine, dass Sie dem Inspektor Ihr Fundstück vielleicht doch besser zeigen sollten. Vielleicht kommt er ja zum selben Entschluss wie Sie, dass der Täter es absichtlich verloren hat. Und selbst wenn sie Franklin dann verhaften sollten, wäre er in seiner Gefängniszelle dann zumindest sicherer als hier.« Mit diesen Worten stieß er sich vom Geländer ab und ging ins Haus zurück.
Mrs. Oliver sah ihm verstört nach. Wollte er seinen Bruder beschützen oder belasten? War es vielleicht Johns Taschentuch? Es war alles so verwirrend. Wenn sie doch nur jemanden hätte, mit dem sie vorurteilsfrei über die Familie sprechen könnte. Nur wer könnte das sein? Dr. Rasmussen hatte sich diesbezüglich ja nicht als sehr reliabel bewiesen. Und Mr. Leighton wusste auch nur das, was allgemein bekannt war. Obwohl …
Der Gedanke an Mr. Leighton hatte sie auf eine Idee gebracht. Sie verließ die Terrasse, trat auf den Kiesweg und ging ums Haus, das sie durch den Dienstboteneingang wieder betrat. Ihr Ziel war die Küche, wo sie sich kurz umblickte. An den Wänden standen wuchtige Holzschränke, die das Kochgeschirr aufbewahrten und an denen die weiße Farbe stellenweise schon abblätterte. In der Mitte war ein großer, altmodischer Herd. »Mrs. Glover?«
Eine hagere, ältere Frau mit einer Kochschürze drehte sich zu Mrs. Oliver um. Sie wirkte in Anbetracht des guten und reichhaltigen Essens, das sie immer zubereitete, selbst erstaunlich ausgezehrt. Wenn man nicht wüsste, dass sie mit dem Diener verheiratet war, konnte man sie mit ihrer strengen Frisur und ihrem straff gewickelten Dutt auch glatt für das perfekte Abbild einer alten Jungfer halten.
»Ja? Sie wünschen?«
»Ich wollte mit Ihnen ein paar Worte wechseln, wenn es Ihre Zeit erlaubt. Über die Tragödie, die sich letzte Nacht hier ereignet hat.«
Mrs. Glover wischte ihre Hände an der Schürze ab. »So? Ich hab schon der Polizei gesagt, dass ich weder etwas gesehen noch gehört habe.«
»Oh, Sie verstehen mich falsch, Mrs. Glover«, entgegnete Mrs. Oliver mit gespielter Entrüstung. »Deshalb bin ich nicht hier. Mir geht es vielmehr um die Familie«, führte sie weiter aus. »Ich würde den armen Leuten so gerne irgendwie beistehen in diesen Stunden, aber ich weiß nicht wie. Ich kenne sie ja kaum. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht etwas erzählen.«
»Hm … So ist das also.«
»Natürlich. Ich habe sicher nicht vor, mich in die Arbeit der Polizei einzumischen.«
»Dann setzen Sie sich doch bitte. Kann ich Ihnen noch etwas anbieten?«
»Nein danke.« Mrs. Oliver zog sich einen der knorrigen Küchenstühle herbei und ließ sich darauf nieder. »Es muss ja besonders schwer für seine Söhne schwer sein, nach ihrer Mutter nun auch noch den Vater zu verlieren.«
»Davon können Sie ausgehen. Mr. Kettridge hat mich nach dem Tod von Mrs. Kettridge oft um Rat gefragt, was seine Söhne anging.«
»Dann haben Sie auch Kinder?«
»Nein. Mein Mann und ich sind kinderlos geblieben. Ich hoffe es stört Sie nicht, wenn ich weiterarbeite?« Ein kurzer Blick zu Mrs. Oliver zerstreute ihre Befürchtungen. »Es war wohl vielmehr so, dass er zu mir kam, weil ich eine Frau bin.«
»Verstehe.«
»Es ist vielleicht nicht gerade standesbewusst für einen hohen Herrn, aber darum hat sich Mr. Kettridge nicht gekümmert. Er hatte nie Berührungsängste mit dem Personal. Wahrscheinlich, weil er selbst aus einfachen, bürgerlichen Verhältnissen stammte«, erzählte sie, während sie damit begann, das Abendessen vorzubereiten. »Man merkte es manchmal auch an seinem rauen Umgangston. Aber er hat sich wirklich bemüht, seinen Kindern ein guter Vater zu sein. Hatte immer Respekt vor ihnen und sie auch immer vor ihrem Vater.«
»Bis auf das eine Mal«, warf Mrs. Oliver ein.
Mrs. Glover schaute auf. »Was meinen Sie?«
»Eunice Withers.«
»Ach so. Maxwells Hochzeit. Ich riet ihm, nicht zu streng mit den jungen Leuten zu sein.«
»Und er hat auf sie gehört, scheint mir. Immerhin hat er sie und ihren Vater ja dann hier aufgenommen.«
»Aber nicht aus reiner Nächstenliebe.« Mit der Geschwindigkeit einer versierten Köchin hackte sie eine Karotte in Scheiben. Mrs. Oliver musste an Hjerson denken. »Man soll ja eigentlich nicht schlecht über Tote sprechen, aber Mr. Kettridge hat sie nur zu sich geholt, um sie sich dann hier wie ein Paar exotische Vögel zu halten. In einem goldenen Käfig.«
»Ach was?« Das erstaunte die Schriftstellerin nun doch. Obgleich das etwas herrische Temperament William Kettridges so etwas durchaus nahe gelegt haben würde.
»Ja. Alle sind sie von ihm finanziell abhängig. Seine Söhne, seine Schwiegertochter, der Oberst.«
»Das zeugt nun aber nicht mehr von viel Respekt gegenüber seinen Kindern.«
»Oh, doch. Mr. Kettridge war zwar sehr knauserig, aber der Selbstverwirklichung seiner Söhne hat er nie im Wege gestanden. Niemals. Sonst hätte er Franklin sicher nicht erlaubt Archäologie zu studieren und in der ganzen Welt herumzureisen. Und John war schon immer sehr an den geschäftlichen Dingen interessiert.« Sie hielt kurz nachdenklich inne ehe die nächste Mohrrübe dran glauben musste. »Man hätte fast meinen können, dass er versucht hat sich seinem Vater zu beweisen.«
Interessant, dachte Ariadne Oliver bei sich. Da war es doch tragisch, dass nun Franklin die Lorbeeren erntete. Fortuna ist blind. »Und Maxwell?«, brachte sie dann die Sprache auf den jüngsten Bruder.
»Der gefällt sich in seiner Rolle als reicher Nichtstuer. Nur Eunice hätte wohl besser Franklin geheiratet. Man hat das Gefühl, dass sie hier im Haus langsam eingeht. Sie sehen ja selbst wie fahl und kränklich sie immer aussieht.«
»Ist deshalb Dr. Rasmussen hier?«
»Ja. Ich nehme es zumindest an. Er hat auch viele Gespräche mit dem alten Mr. Kettridge geführt.«
Sie vernahmen Schritte aus der Richtung des Flurs. Ein Mann erschien in der Küchentür. Es war Mr. Glover. »Liebling, hast du Temperance gesehen?«
»Nein. Dabei sollte sie mir eigentlich beim Abendessen helfen.«
»Das junge Ding wird auch immer unzuverlässiger«, brummte Mr. Glover ärgerlich. Erst jetzt bemerkte er die Anwesenheit von Mrs. Oliver. Er neigte sogleich sein Haupt. »Oh, verzeihen sie, Madam. Ich wollte Sie nicht unterbrechen.«
»Sie haben mich keineswegs unterbrochen, Mr. Glover.« Mrs. Oliver stand auf. »Zumal ich ja hier der Eindringling in Ihrem Herrschaftsbereich bin. Ich will auch nicht weiter stören. Nur eines noch, Mrs. Glover. Glauben Sie, dass Maxwell aus Liebe geheiratet hat oder, um gegen seinen Vater zu revoltieren?«
Die Köchin zögerte leicht. Diese Frage kam ihr dann doch etwas zu privat vor. »Es muss wohl Liebe gewesen sein«, antwortete sie dennoch. »Was, außer der Liebe zu einer Frau, könnte denn sonst noch stärker sein als die Liebe zu einem Vater?«
Ja, was? Mrs. Oliver bedankte sich freundlich, verabschiedete sich von dem Ehepaar Glover und verließ dann die Küche.
Der Diener schaute ihr misstrauisch nach. »Hat sie dir die ganze Zeit so sonderbare Fragen gestellt?«
»Ihr geht das Schicksal der Familie halt nahe. Ist das so unverständlich?«
»Merkwürdig ist es. Herumschnüffeln tut sie, sonst nichts. Ich frage mich, was sie wirklich damit bezweckt.«
Doch seine Frau seufzte nur und gab die Möhrenscheiben in eine große Schüssel.

Als Mrs. Oliver wenige Minuten später ihr Zimmer betrat, um sich selbst ebenfalls für das Abendessen noch einmal frisch zu machen, traf sie dort auf das vermisste Hausmädchen. »Temperance. Was machen Sie denn hier? Mr. Glover sucht sie schon.«
Die Dienstmagd schaute schuldbewusst zu Boden. Irgendetwas schien sie zu bedrücken.
Mrs. Oliver schloss die Tür hinter sich und trat auf sie zu. »Was ist denn los, Kindchen?«
Temperance schaute zaghaft wieder auf. »Ich habe eine Entdeckung gemacht«, begann sie leise. »Und ich weiß nicht, wem ich es anvertrauen kann. Hier im Hause könnte doch jeder der Mörder sein.«
Da hatte sie wohl Recht. Zumindest schien es Mrs. Oliver näher zu liegen als die Vermutung, der Täter sei von außerhalb gekommen.
»Ich will nicht auch mit einem Loch in der Brust enden.«
»Oh, ich bin sicher, dass werden Sie nicht, Temperance«, versuchte Mrs. Oliver auch sogleich das Mädchen zu beruhigen. »Es ist gut, dass Sie zu mir gekommen sind. Aber alles, was Sie entdeckt haben, sollten Sie auch der Polizei mitteilen.«
»Der Polizei?« Sie zuckte zusammen. »Ich will nicht mit der Polizei reden. Sie wird böse auf mich sein. Und außerdem, vielleicht ist meine Entdeckung ja auch gar nicht so wichtig und stiftet nur wieder Verwirrung und die Polizei wird noch böser auf mich.«
»Moment mal. Eins nach dem anderen, mein Kind. Warum sollte die Polizei denn böse auf Sie sein?«
Die heranwachsende, junge Frau blickte wieder zu Boden. »Wegen dem Hausschlüssel.«
Mrs. Oliver horchte auf. »Der Hausschlüssel?«
»Ja. Ich habe gehört, dass die Polizei da einen großen Wirbel darum gemacht hat. Sie muss ihn für sehr wichtig halten, dabei …«
»Ja?«, versuchte die Autorin das Mädchen zu ermutigen.
Temperance blickte die ältere Frau wieder an. »Ich habe den Schlüssel als letzte benutzt. Wenn Mr. Glover das erfährt, wird er wieder wütend auf mich sein. Der Schlüssel ist nur für Herrschaft, wissen Sie.«
Mrs. Oliver nickte verstehend. »Nur weiter, mein Kind.«
Das Hausmädchen atmete tief durch. »Ich habe mich heimlich mit meinem Freund getroffen«, gestand sie schließlich. »Da Mr. Glover schon alle Türen verschlossen hatte, blieb mir nur die Haustür, um mich heimlich in den Park zu schleichen.«
»Und dort haben Sie dann etwas beobachtet«, schloss die Autorin.
»Im Park?« Verständnislos blickte Temperance sie an. »Nein. Ich bin nur rasch zurück ins Haus gelaufen als wir das Auto heim kommen hörten. Dabei muss dann der Schlüssel heruntergefallen sein.«
»Und Ihre Entdeckung?«
»Ich habe Colonel Withers heute morgen beim Betten machen gesehen, wie er Briefe im Kamin seines Zimmers verbrannt hat«, offenbarte das Hausmädchen mit todernster Miene. »Ich fand das so kurz nach dem Mord sehr verdächtig. Aber nachher heißt es noch, dass ich den Herrschaften hinterher spioniere. Ich will doch nichts falsch machen, Madam.«
»Keine Sorge, Temperance. Sie haben alles richtig gemacht. Ich werde mit dem Inspektor sprechen deswegen. Ich verspreche Ihnen, dass niemand auf Sie böse sein wird.«
»Danke, Madam.«
»Ist schon in Ordnung. Aber wenn ich alles richtig verstanden habe, dann war Ihr Freund in der Mordnacht auch im Park. Glauben Sie, dass er etwas gesehen haben könnte?«
»Robert?« Das Hausmädchen schüttelte heftig den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Er hätte viel zu viel Angst gehabt, von Mr. Kettridge erwischt zu werden. Aber ich musste ihn einfach noch mal sehen, wo er doch jetzt auf diesem großen Frachter angeheuert hat und nun wochenlang auf See ist.«
»Das verstehe ich sehr gut.«
»Aber er hat versprochen, mir von jedem Hafen eine Karte zu senden. Er ist so lieb.« Ihre Augen leuchteten.
Mrs. Oliver musste unvermittelt lächeln. »Gut. Danke, Temperance.«
Damit entließ sie das Dienstmädchen, das ja ohnehin schon von Mr. Glover gesucht wurde, und ging erstmal ins Bad, wo sie ihre Frisur neu ordnete und dabei über ihre neuesten Erkenntnisse nachdachte. Doch wirklich weit kam sie mit ihren Überlegungen nicht. Es blieb dabei. Alle waren verdächtig. Selbst Eunice und Maxwell, die ein gemeinsames Schlafzimmer besaßen und das Fehlen des anderen sicher bemerkt hätten, konnten sich ja auch gegenseitig decken. Vor allem, wenn sie sich liebten. Und an das Personal hatte sie noch gar nicht gedacht. Aber vielleicht hatte Inspektor Brook auch Recht und es war doch Franklin der Mörder. So viele Möglichkeiten. Johns Wunsch nach Gewissheit konnte sie nun allzu gut verstehen. Doch es half alles nicht. Seufzend entschied sie sich dazu, etwas Ablenkung zu suchen, um den Kopf frei zu bekommen. Sie setzte sich an den kleinen Tisch in ihrem Zimmer, griff zu dem inzwischen wieder trockengelegten Füllfederhalter und brachte noch ein paar Alternativen für tödliche Giftstoffe zu Papier. Insgeheim rang sie dabei mit sich, ob sie vor dem Abendessen noch einmal zu der verführerischen Apfelschale greifen sollte, entschied sich aber angesichts Mrs. Glovers exzellenten Kochkünsten schweren Herzens dagegen.
»Ich wäre wohl auch sehr einfach zu vergiften«, murmelte sie geistesabwesend und wurde erst wieder durch ein lautes Klopfen aufgeschreckt.
»Mr. Kettridge, machen sie auf«, tönte eine Stimme vom Flur her. Es klang nach Inspektor Brook.
Neugierig verließ Mrs. Oliver ihr Zimmer. »Was ist denn los?«
Tatsächlich stand dort der Scotland-Yard-Beamte vor einer Zimmertür und gab seinem Laufburschen wieder einmal Anweisungen. »Holen sie den Diener her mit den Generalschlüsseln, Constable.«
Smith eilte los und Mrs. Oliver trat zu Brook. Dort wiederholte sie ihre Frage.
»Haftbefehl für Mr. Franklin«, klärte sie der Inspektor auf. »Der Fall ist sonnenklar und einwandfrei rekonstruiert. Seine letzte Expedition war ein Reinfall. Er brauchte dringend Geld. Und wer weiß, ob er nicht versucht zu fliehen und in einem anderen Land unterzutauchen.«
»Ich finde Ihre Untersuchung sehr einseitig, Herr Inspektor«, empörte sich die Autorin, die immer noch eine große Sympathie für Franklin hegte.
»Meine Untersuchung ist immer eines, gewissenhaft. Über Schuld oder Unschuld haben die Richter und die Geschworenen zu entscheiden, nicht ich. Oder haben Sie mir doch noch etwas mitzuteilen, Mrs. Oliver?«
»Ich …« Mrs. Oliver zögerte kurz. Vielleicht sollte sie doch offen zu dem Inspektor sein. Außerdem hatte sie ja Temeprance etwas versprochen. »Bitte kommen Sie mit.«
Brook folgte ihr in ihr Zimmer. Dort ging sein Blick erstmal umher. Auf die Apfelschale, die Reiseschreibmaschine in der karierten Schutzhülle und den beschriebenen Papierbogen auf dem Tisch. »Nun?«
Mrs. Oliver öffnete die oberste Schublade der Kommode und holte das blutbefleckte Herrentaschentuch hervor. »Dies hier habe ich in einem Strauch in der Nähe der Terrasse gefunden. Und vor ein paar Minuten war das Hausmädchen bei mir und hat mir erzählt, dass sie den Colonel heute Morgen dabei gesehen hat, wie er Briefe verbrannt hat. Außerdem war sie es, die den Hausschlüssel fallen gelassen hat. Sie hat sich mit ihrem Liebhaber gestern Nacht heimlich im Park getroffen und Angst, es ihnen zu erzählen.«
»Dummes Ding«, kommentierte Brook. Er stand mittlerweile am Tisch, ließ seine Augen über Mrs. Olivers Notizen streifen und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. »Würden Sie mir dann bitte das Beweisstück überlassen?« Er griff in seine Tasche, holte eine kleine Plastiktüte hervor und packte das Taschentuch dann dort ein.
»Inspektor?« hörte man dann Constable Smith vom Flur aus rufen.
»Hier bin ich«, antwortete Brook. »Ich komme schon.«
Er steckte die beiden Tüten ein und ging wieder hinaus auf den Flur. Mrs. Oliver folgte natürlich. Glover stand schon mit dem Schlüssel bereit.
»Schließen sie auf«, befahl der Inspektor.
Glover versuchte es. Erfolglos. »Wir brauchen irgendetwas zum Durchstoßen. Es steckt schon ein Schlüssel von der anderen Seite drin.«
»Holen Sie einen Schraubenzieher.«
Der Butler nickte und entfernte sich rasch.
»Mir gefällt das ganz und gar nicht«, murmelte Mrs. Oliver, die eine düstere Ahnung überkommen hatte.
Brook schwieg. Erst als Glover schwer atmend wieder zu ihnen gestoßen war, kam wieder Leben in ihn. »Smith!«
Der Constable nahm den schlanken Schraubenzieher entgegen, kniete sich vor die Tür und begann, am Schloss herumzufuhrwerken. Schließlich hörte man den Schlüssel auf der anderen Seite zu Boden fallen. Smith rückte zur Seite und ließ Glover den Raum aufschließen.
»Lassen Sie mich«, übernahm der Inspektor wieder die Führung, öffnete die Tür und betrat das Zimmer. Seine Miene wurde ernst. »Niemand fasst etwas an. Am Besten sie warten alle hier.«
Mrs. Oliver hatte es immerhin bis in den Türrahmen geschafft. Als der Inspektor nun ein paar Schritte vorwärts machte und so das Blickfeld frei gab, offenbarte sich ihr die ganze Tragödie. Franklin Kettridge hing mit verzerrten Gesichtszügen quer über seinem Stuhl. Seine rechte Hand hielt ein verschlossenes Glasgefäß und auf seinem Schoß lag seine Indianerpfeife, die noch leicht glimmte. Inspektor Brook, der sich inzwischen Handschuhe übergezogen hatte, prüfte an der Halsschlagader den Puls und schüttelte den Kopf. Dann drehte er leicht das Glasgefäß in der Hand des Toten, um das Etikett zu lesen. »Nikotin.«
»Wir benutzen es gegen Blattläuse«, erklärte Glover und fing an, leicht zu zittern. »Es ist so furchtbar. Erst Mr. Kettridge, nun Mr. Franklin. Beide innerhalb von noch nicht mal 24 Stunden. Ich halte das nicht mehr aus. Wer wird der nächste sein, Herr Inspektor? Können Sie mir das sagen?«
»Es wird die letzte Leiche gewesen sein. Er hat seinen Vater getötet und dann den einfachsten Ausweg gesucht.«
»Machen Sie es sich da nicht etwas zu einfach, Herr Inspektor?«, schaltete Mrs. Oliver sich ein.
»Die Erfahrung zeigt, dass es in den meisten der Fälle so einfach ist. Vielleicht vergisst man es als Schriftstellerin manchmal, aber das wirkliche Leben ist oftmals so trivial. Er wäre nicht der Erste, der unter dem Druck meiner Ermittlungen zusammen gebrochen ist.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen, wenn Sie die armen Leute immer zu Unrecht verdächtigen.«
Brook blickte die Autorin scharf an. »Wollen Sie damit etwa sagen, dass ich Mr. Franklin auf dem Gewissen habe?«
»Ich will damit sagen, dass hier ein gefährlicher Doppelmörder frei herumläuft.«
Der Inspektor atmete tief durch. »Ich weiß ja, dass Frauen mitunter ihre eigene Logik haben, aber welcher Mörder würde denn einen anderen Menschen derart verdächtig machen und dann, anstatt abzuwarten bis der andere am Galgen endet, das Risiko eingehen, diesen ebenfalls umzubringen?« Er verzog das Gesicht. »Das macht doch keinen Sinn und ist durch kein Motiv der Welt zu erklären.«
»Sie haben einfach zu wenig Fantasie«, hielt die Autorin dagegen.
»So.« Brook hob die Augenbrauen. »Das werfen Sie mir also vor. Dann wollen wir doch mal sehen, wie viel Fantasie ich habe.« Er wendete sich dem Constable zu. »Smith, bitte gehen Sie in das Zimmer dieser werten Dame und bringen mir den Bogen Papier, der dort auf dem Schreibtisch liegt.«
»Ja, Sir.«
Mrs. Olivers Augen verengten sich misstrauisch, als der Polizeibeamte das Zimmer verließ. Was hatte der Inspektor vor?
»Eine Schriftstellerin, die nicht mehr zwischen Fiktion und Realität unterscheiden kann«, begann er. »Sie stiftet Verwirrung mit wilden Theorien und unterschlägt Beweismaterial, das sie in einem strategisch günstigen Moment dann präsentiert.« Er nahm das Blatt Papier von Smith entgegen, schaute kurz darüber und hielt es dann Mrs. Oliver hin. Es war eine Liste mit verschiedenen Giften und das Wort ›Nikotin‹ war mit einem Ausrufezeichen versehen und eingekreist. »Motiv: Die unbedingte Wahnvorstellung, das perfekte Verbrechen begehen zu müssen.« Er zog den Zettel wieder zurück. »Nun, Mrs. Oliver?«
Die Schriftstellerin sah ein, dass diese Runde an den Inspektor ging. »Es ist wohl doch ein Selbstmord aus Reue«, gab sie widerstrebend zu. Trotzdem musste sie dem Inspektor in einem Punkt tatsächlich Recht geben. Das alles machte tatsächlich keinen Sinn. Was blieb einem also anderes übrig, als sich an die Fakten zu halten? Franklin Kettridge, ein Mörder. Hatte sie ihre weibliche Intuition denn wirklich so sehr im Stich gelassen?
 
VI – Die zweite Leiche

Die Stimmung im Hause Kettridge war trostlos an diesem Tag. Das Mittagessen wurde schweigend eingenommen. John kam gar nicht erst herunter und Franklin zog sich schon nach der Vorspeise zurück. Die Ereignisse der letzten Nacht und die Vernehmungen am Vormittag hatten sichtlich an den Nerven von allen Anwesenden gezehrt. Einzig der Oberst war distanziert und schweigsam wie immer. Er schien vom Tod des alten Kettridge unberührt geblieben zu sein. Allerdings – so dachte Mrs. Oliver, als sie sich die Worte von Mr. Leighton ins Gedächtnis zurück rief – war dies nicht weiter verwunderlich. Kettridge und Withers hatten sich ja mehr geduldet als gemocht. Sie waren einzig verbunden gewesen durch die Heirat ihrer Kinder. Während des gesamten Mittagessens hing zudem der unausgesprochene Vorwurf in der Luft, dass Franklin der Mörder seines Vaters war. Wahrscheinlich hatte er sich deshalb auch so schnell wieder von der Tafel entfernt. Auch zum Tee erschien er nicht mehr.
»Meine Brüder lassen sich entschuldigen«, verkündete John, als er zum Tee dann doch wieder zu den anderen stieß, die sich im Salon niedergelassen hatten und von Glover mit Tee, Sandwiches, weichen Brötchen und Marmelade bewirtet wurden. »Und auch Eunice hat sich lieber für einen Spaziergang an der frischen Luft entschieden. Ist wirklich kein Wunder, so bedrückend wie die Atmosphäre hier im Haus seit der Ankunft der Polizei ist.« Der junge Mann seufzte und ließ sich kraftlos in einem freien Sessel nieder.
»Nun, wenn die Anwesenheit der Polizei dazu führt, dass Miss Eunice endlich meine Ratschläge befolgt, dann soll es mir Recht sein«, murmelte Dr. Rasmussen und verrührte die Milch in seinem Tee.
»Sie führt wohl eher dazu, dass jetzt die Wolken hier so tief hängen.« John nahm von Glover eine Tasse Tee entgegen. Den Imbiss lehnte er allerdings ab.
»Sie müssen etwas zu sich nehmen, Junge«, schaltete sich da Dr. Rasmussen wieder ein. »Wo Sie doch schon auf das Mittagessen verzichtet und zum Frühstück nur Kaffee getrunken haben.«
»Wenn es unbedingt sein muss dann geben Sie mir bitte ein Gurkensandwich, Glover«, verlangte der Sohn des Hauses widerwillig. Ihm war wirklich nicht nach Essen zumute.
Nun schaltete sich auch Mrs. Oliver in das Gespräch ein. »Sind Sie sicher, dass die Polizei an der Stimmung hier Schuld ist und dass es nicht vielleicht doch am Tod Ihres Vaters liegt?«, fragte sie, einem spontanen Impuls folgend.
»Ja … Nein.« John seufzte. »Ach, ich weiß nicht. Bestimmt beides. Aber der Inspektor wirkt auf mich wie die Axt im Walde.«
»Der Inspektor ist ein Idiot«, brummte Colonel Withers von seiner Position am Kamin aus.
»So?« Dr. Rasmussen zog die Stirn kraus. »Auf mich hat er einen sehr kompetenten und effektiven Eindruck gemacht.«
John blickte verzweifelt in die Runde. »Er … Er wird es Franklin nachweisen, nicht wahr? Ich meine, es ist doch eindeutig. Motiv, Tatwaffe, Fluchtweg, das blutige Ta…«
Ein lautes Räuspern von Mrs. Oliver unterbrach seinen Redeschwall. Sie schaute John an, kniff die Lippen zusammen und führte ihren Zeigefinger zu ihrem Mund. Er schien zu verstehen und blieb still.
»Entschuldigen Sie bitte, aber ich glaube, das Gebäck ist etwas trocken«, meinte die Schriftstellerin daraufhin mit einem Lächeln, das kein Wässerchen trüben konnte.
»Ihre Äpfel sind saftiger, wie?«, ließ der Doktor ein Verlegenheitslachen ertönen. »Trinken Sie etwas, dann wird es schon wieder.«
Mrs. Oliver leistete diesem guten Ratschlag auch sogleich Folge und leerte ihre Teetasse. Scheinbar hatten weder Rasmussen noch Withers etwas gemerkt. Dennoch wurde ihr die Luft hier im Salon, an der sie bisher nichts auszusetzen gehabt hatte, nun doch auch etwas stickig. »Ich denke, ich werde es einmal Eunice gleichtun und mir auch einmal die Beine vertreten. Wenn mich die Herren entschuldigen wollen?«
Sie stand auf und verließ den Salon durch die Terrassentür. Es war ein bisschen so wie ein Deja-vu. Ihr Blick ging automatisch zu dem Strauch, an dem sie das Taschentuch gefunden hatte. Hatte sie diesen Tag noch als Unbeteiligte begonnen, so war sie nun ebenfalls in die undurchschaubaren Ereignisse hier involviert. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht? Sven Hjerson wäre das nicht passiert. Er hätte sich nicht von einem Verdächtigen derart beeinflussen lassen. Aber er war ja auch ein Mann. Sie schnaufte verächtlich. Er besaß weder mütterliche Instinkte noch weibliche Intuition. Es würde ihn ohnehin nicht mehr lange geben. Die vergiftete Karotte war beschlossene Sache. Und das passende Gift würde sie auch bald finden. Ganz gewiss. Und kein blutiges Taschentuch würde sie dabei verraten können. Ein überlegenes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie weiter ging.
»Mrs. Oliver!«
Die Angesprochene fuhr erschrocken zusammen und sie drehte sich langsam um. Ihr laut ausgesprochener Name auf der Terrasse rief ein unliebsames Déjà-vu in ihr wach. Doch diesmal war es nicht Franklin, sondern sein jüngerer Bruder John.
»Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Ist schon gut, Mr. Kettridge. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich … Ich glaube, Sie haben schon ziemlich viel für mich getan. Haben Sie das blutbefleckte Taschentuch abgenommen, bevor es die Polizei gefunden hat?«
»Ja, das habe ich, Mr. Kettridge.«
»Aber warum denn? Wenn das heraus kommt – bei Gott, es wäre ja eben schon fast herausgekommen – dann bringt Ihnen das doch nur Scherereien ein.«
»Nun.« Mrs. Oliver zögerte kurz. »Ich habe es zunächst an mich genommen, um es dem Inspektor zu zeigen. Doch dann hat mich ihr Bruder Franklin damit gesehen.«
Johns Augen weiteten sich. »Franklin hat …? Hat er Ihnen gedroht? Wollte er Ihnen etwas antun, wenn Sie das Taschentuch nicht verschwinden lassen? War es so? Ist es das? Oh, Franklin.«
»Nein, Mr. Kettridge. Beruhigen Sie sich. Er hat nichts dergleichen getan. Aber er war verzweifelt. Ehrlich verzweifelt. Ich konnte nicht anders.« Sie machte eine kurze Pause und wog ihre weiteren Worte zunächst gut ab. »Ich glaube nicht, dass er schuldig ist«, meinte sie schließlich. Es beruhigte ihren Gesprächspartner jedoch keineswegs.
»Und wenn doch? Warum sollte er denn sonst verzweifelt sein? Er war doch immer so stark, so selbstsicher.«
Mrs. Oliver blickte John ruhig an. »Er bedeutet Ihnen viel, nicht wahr?«
Ihr Gesprächspartner nickte. »Ja. Er ist der beste Bruder, den man sich wünschen kann. Wissen sie, so harmonisch unser Familienleben auch nach außen zu sein scheint, manche Dinge lassen sich einfach nicht völlig ausgleichen und sind beinahe schon naturgegeben.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«
»Nun ja.« John trat zum hölzernen Geländer und hielt sich daran fest. »Franklin war das Wunschkind meiner Eltern. Der Stammhalter. Ihr Augenstern. Und Maxwell ist der Jüngste gewesen. Das Nesthäkchen. Nur ich war nichts Besonderes. Ich war nur das mittlere Kind. Doch Franklin – Franklin war immer für mich da.«
»Ich verstehe.« Das Bild, das Dr. Rasmussen ihr von der Familie gezeichnet hatte, bekam zusehends mehr und mehr Risse.
»Es würde eine Welt für mich zusammenbrechen, wenn er der Mörder unseres Vaters wäre.«
»Das glaube ich Ihnen.«
»Doch wer sollte es sonst gewesen sein? Wer bloß? Und wenn er es nicht war, wer war es dann? Ist es vielleicht Maxwells Taschentuch?«
Mrs. Oliver strich nachdenklich über eine Haarsträhne, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. Maxwell? Ja, dies war auch ihr erster Gedanke gewesen. Doch dann hatte ihr Inspektor Brook das Motiv genommen. Maxwell hätte Franklin umbringen müssen und nicht seinen Vater. Doch selbst im Dunkeln hätte man die beiden nicht miteinander verwechseln können.
»Und was ist, wenn jemand absichtlich das Taschentuch dort abgelegt hat, um Sie und Ihre Brüder in Verdacht zu bringen?«, äußerte sie eine weitere Vermutung. »Wenn es doch eine Person von außerhalb war? Alle Hinweise fand man im Park. Keine im Haus. Und der hinunter gefallene Schlüssel ist als Indiz nicht stichhaltig genug.«
»Dann hätte ich, ehrlich gesagt, umso mehr Angst, Mrs. Oliver. Denn zumindest einmal muss der Mörder ja im Haus gewesen sein, um sich den Dolch und das Taschentuch anzueignen.«
Das konnte die Autorin nicht leugnen.
»Und vielleicht ist es jemand, der unsere ganze Familie hasst«, fuhr John fort. »Dann sind wir alle in Gefahr. Das möchte ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen. In diesem Falle hätte ich lieber Gewissheit.« Er blickte aufs Meer hinaus. »Egal, welches Opfer es dann erfordert.«
»Wie meinen Sie das, Mr. Kettridge?«
John wandte sich wieder mit ernstem Gesicht Mrs. Oliver zu. »Ich meine, dass Sie dem Inspektor Ihr Fundstück vielleicht doch besser zeigen sollten. Vielleicht kommt er ja auch zu dem Schluss, dass der Täter es vorsätzlich dort platziert hat. Und selbst wenn sie Franklin dann verhaften sollten, wäre er in seiner Gefängniszelle dann zumindest sicherer als hier.« Mit diesen Worten stieß er sich vom Geländer ab und ging ins Haus zurück.
Mrs. Oliver sah ihm verstört nach. Wollte er seinen Bruder beschützen oder belasten? War es vielleicht Johns Taschentuch? Es war alles so verwirrend. Wenn sie doch nur jemanden hätte, mit dem sie vorurteilsfrei über die Familie sprechen könnte. Nur wer könnte das sein? Dr. Rasmussen hatte sich diesbezüglich ja nicht als sehr zuverlässig bewiesen. Und Mr. Leighton wusste auch nur das, was allgemein bekannt war. Obwohl …
Der Gedanke an Mr. Leighton hatte sie auf eine Idee gebracht. Sie verließ die Terrasse, trat auf den Kiesweg und ging ums Haus, das sie durch den Dienstboteneingang wieder betrat. Ihr Ziel war die Küche, wo sie sich kurz umblickte. An den Wänden standen wuchtige Holzschränke, die das Kochgeschirr beinhalteten und an denen die weiße Farbe stellenweise schon abblätterte. In der Mitte war ein großer, altmodischer Herd. »Mrs. Glover?«
Eine hagere, ältere Frau mit einer Kochschürze drehte sich zu Mrs. Oliver um. Sie wirkte in Anbetracht des guten und reichhaltigen Essens, das sie immer zubereitete, selbst erstaunlich ausgezehrt. Wenn man nicht wüsste, dass sie mit dem Diener verheiratet war, konnte man sie mit ihrer strengen Frisur und ihrem straff gewickelten Dutt auch für das perfekte Abbild einer alten Jungfer halten.
»Ja? Sie wünschen?«
»Ich wollte mit Ihnen ein paar Worte wechseln, wenn es Ihre Zeit erlaubt. Über die Tragödie, die sich letzte Nacht hier ereignet hat.«
Mrs. Glover wischte ihre Hände an der Schürze ab. »So? Ich hab schon der Polizei gesagt, dass ich weder etwas gesehen noch gehört habe.«
»Oh, Sie verstehen mich falsch, Mrs. Glover«, entgegnete Mrs. Oliver mit gespielter Entrüstung. »Deshalb bin ich nicht hier. Mir geht es vielmehr um die Familie. Ich würde den armen Leuten so gerne irgendwie beistehen in diesen Stunden, aber ich weiß nicht wie. Ich kenne sie ja kaum. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht etwas erzählen.«
»Hm … So ist das also.«
»Natürlich. Ich habe sicher nicht vor, mich in die Arbeit der Polizei einzumischen.«
»Dann setzen Sie sich doch bitte. Kann ich Ihnen noch etwas anbieten?«
»Nein danke.« Mrs. Oliver zog sich einen der knorrigen Küchenstühle herbei und ließ sich darauf nieder. »Es muss ja besonders für seine Söhne schwer sein, nach ihrer Mutter nun auch noch den Vater zu verlieren.«
»Davon können Sie ausgehen. Mr. Kettridge hat mich nach dem Tod seiner Frau oft um Rat gefragt, was seine Söhne anging.«
»Dann haben Sie auch Kinder?«
»Nein. Mein Mann und ich sind kinderlos geblieben – Ich hoffe es stört Sie nicht, wenn ich weiterarbeite?« Ein kurzer Blick zu Mrs. Oliver zerstreute ihre Befürchtungen. »Es war wohl vielmehr so, dass er zu mir kam, weil ich eine Frau bin.«
»Ich verstehe.«
»Es ist vielleicht nicht gerade standesbewusst für einen hohen Herrn, aber darum hat sich Mr. Kettridge nicht gekümmert. Er hatte nie Berührungsängste mit dem Personal. Wahrscheinlich, weil er selbst aus einfachen, bürgerlichen Verhältnissen stammte«, erzählte sie, während sie damit begann, das Abendessen vorzubereiten. »Man merkte es manchmal auch an seinem rauen Umgangston. Aber er hat sich wirklich bemüht, seinen Kindern ein guter Vater zu sein. Hatte immer Respekt vor ihnen und sie auch immer vor ihrem Vater.«
»Bis auf das eine Mal«, warf Mrs. Oliver ein.
Mrs. Glover schaute auf. »Was meinen Sie?«
»Eunice Withers.«
»Ach so. Maxwells Hochzeit. Ich riet ihm, nicht zu streng mit den jungen Leuten zu sein.«
»Und er hat auf sie gehört, scheint mir. Immerhin hat er sie und ihren Vater ja dann hier aufgenommen.«
»Aber nicht aus reiner Nächstenliebe.« Mit der Geschwindigkeit einer versierten Köchin hackte sie eine Karotte in Scheiben. Mrs. Oliver musste an Hjerson denken. »Man soll ja eigentlich nicht schlecht über Tote sprechen, aber Mr. Kettridge hat sie nur zu sich geholt, um sie sich dann hier wie ein Paar exotische Vögel zu halten. In einem goldenen Käfig.«
»Ach was?« Das erstaunte die Schriftstellerin nun doch. Obgleich das etwas herrische Temperament William Kettridges so etwas durchaus nahe gelegt haben würde.
»Ja. Alle sind sie von ihm finanziell abhängig. Seine Söhne, seine Schwiegertochter, der Oberst.«
»Das zeugt nun aber nicht mehr von viel Respekt gegenüber seinen Kindern.«
»Oh, doch. Mr. Kettridge war zwar sehr knauserig, aber der Selbstverwirklichung seiner Söhne hat er nie im Wege gestanden. Niemals. Sonst hätte er Franklin sicher nicht erlaubt Archäologie zu studieren und in der ganzen Welt herumzureisen. Und John war schon immer sehr an den geschäftlichen Dingen interessiert.« Sie hielt kurz nachdenklich inne, ehe sie eine weitere Mohrrübe zerkleinerte. »Man hätte fast meinen können, dass er versucht hat sich seinem Vater zu beweisen.«
Interessant, dachte Ariadne Oliver bei sich. Da war es doch tragisch, dass nun Franklin die Lorbeeren erntete. Fortuna ist blind. »Und Maxwell?«, brachte sie dann die Sprache auf den jüngsten Bruder.
»Er gefällt sich in seiner Rolle als reicher Nichtstuer. Nur Eunice hätte wohl besser Franklin geheiratet. Man hat das Gefühl, dass sie hier im Haus langsam eingeht. Sie sehen ja selbst wie fahl und kränklich sie immer aussieht.«
»Ist deshalb Dr. Rasmussen hier?«
»Ja. Ich nehme es zumindest an. Er hat auch viele Gespräche mit dem alten Mr. Kettridge geführt.«
Sie vernahmen Schritte aus der Richtung des Flurs. Ein Mann erschien in der Küchentür. Es war Mr. Glover. »Liebling, hast du Temperance gesehen?«
»Nein. Dabei sollte sie mir eigentlich beim Abendessen helfen.«
»Das junge Ding wird auch immer unzuverlässiger«, brummte Mr. Glover ärgerlich. Erst jetzt bemerkte er die Anwesenheit von Mrs. Oliver. Er neigte sogleich sein Haupt. »Oh, verzeihen sie, Madam. Ich wollte Sie nicht unterbrechen.«
»Sie haben mich keineswegs unterbrochen, Mr. Glover.« Mrs. Oliver stand auf. »Zumal ich ja hier der Eindringling in Ihrem Herrschaftsbereich bin. Ich will auch nicht weiter stören. Nur eines noch, Mrs. Glover. Glauben Sie, dass Maxwell aus Liebe geheiratet hat oder, um gegen seinen Vater zu revoltieren?«
Die Köchin zögerte leicht. Diese Frage kam ihr dann doch etwas zu privat vor. »Es muss wohl Liebe gewesen sein«, antwortete sie dennoch. »Was, außer der Liebe zu einer Frau, könnte denn sonst noch stärker sein als die Liebe zu einem Vater?«
Ja, was? Mrs. Oliver bedankte sich freundlich, verabschiedete sich von dem Ehepaar Glover und verließ dann die Küche.
Der Diener schaute ihr misstrauisch nach. »Hat sie dir die ganze Zeit so sonderbare Fragen gestellt?«
»Ihr geht das Schicksal der Familie nun einmal nahe. Ist das so unverständlich?«
»Merkwürdig ist es. Herumschnüffeln tut sie, sonst nichts. Ich frage mich, was sie wirklich damit bezweckt.«
Doch seine Frau seufzte nur und gab die Möhrenscheiben in eine große Schüssel.

Als Mrs. Oliver wenige Minuten später ihr Zimmer betrat, um sich für das Abendessen frisch zu machen, traf sie dort auf das vermisste Hausmädchen. »Temperance! Was machen Sie denn hier? Mr. Glover sucht sie schon.«
Die junge Frau schaute schuldbewusst zu Boden. Irgendetwas schien sie zu bedrücken.
Mrs. Oliver schloss die Tür hinter sich und trat auf sie zu. »Was ist denn los, Kindchen?«
Temperance schaute zaghaft wieder auf. »Ich habe eine Entdeckung gemacht«, begann sie leise. »Und ich weiß nicht, wem ich sie anvertrauen kann. Hier im Hause könnte doch jeder der Mörder sein.«
Da hatte sie wohl Recht. Zumindest schien es Mrs. Oliver näher zu liegen als die Vermutung, der Täter sei von außerhalb gekommen.
»Ich will nicht auch mit einem Loch in der Brust enden.«
»Oh, ich bin sicher, das werden Sie nicht, Temperance«, versuchte Mrs. Oliver sogleich das Mädchen zu beruhigen. »Es ist gut, dass Sie zu mir gekommen sind. Aber alles, was Sie entdeckt haben, sollten Sie auch der Polizei mitteilen.«
»Der Polizei?« Sie zuckte zusammen. »Ich will nicht mit der Polizei reden. Sie wird böse auf mich sein. Und außerdem, vielleicht ist meine Entdeckung ja auch gar nicht so wichtig und stiftet nur wieder Verwirrung und die Polizei wird noch böser auf mich.«
»Moment mal. Eins nach dem anderen, mein Kind. Warum sollte die Polizei denn böse auf Sie sein?«
Die junge Frau blickte wieder zu Boden. »Wegen dem Hausschlüssel.«
Mrs. Oliver horchte auf. »Der Hausschlüssel?«
»Ja. Ich habe gehört, dass die Polizei da einen großen Wirbel darum gemacht hat. Sie muss ihn für sehr wichtig halten, dabei …«
»Ja?«, versuchte die Autorin das Mädchen zu ermutigen.
Temperance blickte die ältere Frau wieder an. »Ich habe den Schlüssel als letzte benutzt. Wenn Mr. Glover das erfährt, wird er wieder wütend auf mich sein. Der Schlüssel ist nur für die Herrschaft, wissen Sie.«
Mrs. Oliver nickte verstehend. »Nur weiter, mein Kind.«
Das Hausmädchen atmete tief durch. »Ich habe mich heimlich mit meinem Freund getroffen«, gestand sie schließlich. »Da Mr. Glover schon alle Türen verschlossen hatte, blieb mir nur die Haustür, um mich heimlich in den Park zu schleichen.«
»Und dort haben Sie dann etwas beobachtet«, schloss die Autorin.
»Im Park?« Verständnislos blickte Temperance sie an. »Nein. Ich bin nur rasch zurück ins Haus gelaufen als wir das Auto heimkommen hörten. Dabei muss dann der Schlüssel heruntergefallen sein.«
»Und Ihre Entdeckung?«
»Ich habe Colonel Withers heute Morgen beim Bettenmachen gesehen, wie er Briefe im Kamin seines Zimmers verbrannt hat«, offenbarte das Hausmädchen mit todernster Miene. »Ich fand das so kurz nach dem Mord sehr verdächtig. Aber nachher heißt es noch, dass ich den Herrschaften hinterher spioniere. Ich will doch nichts falsch machen, Madam.«
»Keine Sorge, Temperance. Sie haben alles richtig gemacht. Ich werde mit dem Inspektor darüber sprechen. Ich verspreche Ihnen, dass niemand auf Sie böse sein wird.«
»Danke, Madam.«
»Ist schon in Ordnung. Aber wenn ich alles richtig verstanden habe, dann war Ihr Freund in der Mordnacht auch im Park. Glauben Sie, dass er etwas gesehen haben könnte?«
»Robert?« Das Hausmädchen schüttelte heftig den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Er hätte viel zu viel Angst gehabt, von Mr. Kettridge erwischt zu werden. Aber ich musste ihn einfach noch einmal sehen, wo er doch jetzt auf diesem großen Frachter angeheuert hat und nun wochenlang auf See ist.«
»Das verstehe ich sehr gut.«
»Aber er hat versprochen, mir von jedem Hafen eine Karte zu senden. Er ist so lieb.« Ihre Augen leuchteten.
Mrs. Oliver musste unvermittelt lächeln. »Gut. Danke, Temperance.«
Damit entließ sie das Dienstmädchen, das ohnehin schon von Mr. Glover gesucht wurde, und ging erst einmal ins Bad, wo sie ihre Frisur neu ordnete und dabei über ihre neuesten Erkenntnisse nachdachte. Doch wirklich weit kam sie mit ihren Überlegungen nicht. Es blieb dabei. Alle waren verdächtig. Selbst Eunice und Maxwell, die ein gemeinsames Schlafzimmer besaßen und das Fehlen des anderen sicher bemerkt hätten, konnten sich womöglich gegenseitig decken. Vor allem, wenn sie sich liebten. Und an das Personal hatte sie noch gar nicht gedacht. Aber vielleicht hatte Inspektor Brook auch Recht und Franklin war doch der Mörder. So viele Möglichkeiten. Johns Wunsch nach Gewissheit konnte sie nun allzu gut verstehen. Doch es half alles nicht. Seufzend entschied sie sich dazu, etwas Ablenkung zu suchen, um den Kopf frei zu bekommen. Sie setzte sich an den kleinen Tisch in ihrem Zimmer, griff zu dem inzwischen wieder trockengelegten Füllfederhalter und brachte noch ein paar Alternativen für tödliche Giftstoffe zu Papier. Insgeheim rang sie dabei mit sich, ob sie vor dem Abendessen noch einmal zu der verführerischen Apfelschale greifen sollte, entschied sich aber angesichts Mrs. Glovers exzellenter Kochkünste schweren Herzens dagegen.
»Ich wäre wohl auch sehr einfach zu vergiften«, murmelte sie geistesabwesend und wurde erst wieder durch ein lautes Klopfen aufgeschreckt.
»Mr. Kettridge, machen sie auf«, tönte eine Stimme vom Flur her. Es klang nach Inspektor Brook.
Neugierig verließ Mrs. Oliver ihr Zimmer. »Was ist denn los?«
Der Scotland-Yard-Beamte stand tatsächlich vor einer verschlossenen Zimmertür und gab seinem Laufburschen Anweisungen. »Holen sie den Diener her mit den Generalschlüsseln, Constable.«
Smith eilte los und Mrs. Oliver trat zu Brook. Dort wiederholte sie ihre Frage.
»Haftbefehl für Mr. Franklin«, klärte sie der Inspektor auf. »Der Fall ist sonnenklar und einwandfrei rekonstruiert. Seine letzte Expedition war ein Reinfall. Er brauchte dringend Geld. Und wer weiß, ob er nicht versucht zu fliehen und in einem anderen Land unterzutauchen.«
»Ich finde Ihre Untersuchung sehr einseitig, Herr Inspektor«, empörte sich die Autorin, die immer noch eine große Sympathie für Franklin hegte.
»Meine Untersuchung ist immer eines, gewissenhaft. Über Schuld oder Unschuld haben die Richter und die Geschworenen zu entscheiden, nicht ich. Oder haben Sie mir doch noch etwas mitzuteilen, Mrs. Oliver?«
»Ich …« Mrs. Oliver zögerte kurz. Vielleicht sollte sie doch dem Inspektor gegenüber offen sein. Außerdem hatte sie ja Temperance etwas versprochen. »Bitte kommen Sie mit.«
Brook folgte ihr in ihr Zimmer. Dort ging sein Blick zunächst umher. Auf die Apfelschale, die Reiseschreibmaschine in der karierten Schutzhülle und den beschriebenen Papierbogen auf dem Tisch. »Nun?«
Mrs. Oliver öffnete die oberste Schublade der Kommode und holte das blutbefleckte Herrentaschentuch hervor. »Dies hier habe ich in einem Strauch in der Nähe der Terrasse gefunden. Und vor ein paar Minuten war das Hausmädchen bei mir und hat mir erzählt, dass sie den Colonel heute Morgen dabei gesehen hat, wie er Briefe verbrannt hat. Außerdem war sie es, die den Hausschlüssel fallen gelassen hat. Sie hat sich mit ihrem Liebhaber gestern Nacht heimlich im Park getroffen und Angst, es ihnen zu erzählen.«
»Dummes Ding«, kommentierte Brook. Er stand mittlerweile am Tisch, ließ seine Augen über Mrs. Olivers Notizen streifen und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. »Würden Sie mir dann bitte das Beweisstück überlassen?« Er griff in seine Tasche, holte einen kleinen Plastikbeutel hervor und packte das Taschentuch dann dort ein.
»Inspektor?« hörte man dann Constable Smith vom Flur aus rufen.
»Hier bin ich«, antwortete Brook. »Ich komme schon.«
Er steckte den Beutel ein und ging wieder hinaus auf den Flur. Mrs. Oliver folgte ihm. Glover stand schon mit dem Schlüssel bereit.
»Schließen sie auf«, befahl der Inspektor.
Glover versuchte es. Erfolglos. »Wir brauchen irgendetwas zum Durchstoßen. Es steckt schon ein Schlüssel von der anderen Seite drin.«
»Holen Sie einen Schraubenzieher.«
Der Butler nickte und entfernte sich rasch.
»Mir gefällt das ganz und gar nicht«, murmelte Mrs. Oliver, die eine düstere Ahnung überkommen hatte.
Brook schwieg. Erst als Glover schwer atmend wieder zu ihnen gestoßen war, kam wieder Leben in ihn. »Smith!«
Der Constable nahm den schlanken Schraubenzieher entgegen, kniete sich vor die Tür und begann, sich am Schloss zu schaffen zu machen. Schließlich hörte man den Schlüssel auf der anderen Seite zu Boden fallen. Smith rückte zur Seite und Glover schloss den Raum auf.
»Lassen Sie mich«, übernahm der Inspektor wieder die Führung, öffnete die Tür und betrat das Zimmer. Seine Miene wurde ernst. »Niemand fasst etwas an. Am Besten sie warten alle hier.«
Mrs. Oliver hatte es immerhin bis in den Türrahmen geschafft. Als der Inspektor nun ein paar Schritte vorwärts machte und so das Blickfeld frei gab, offenbarte sich ihr die ganze Tragödie. Franklin Kettridge hing mit verzerrten Gesichtszügen quer über seinem Stuhl. Seine rechte Hand hielt ein verschlossenes Glasgefäß und auf seinem Schoß lag seine Indianerpfeife, die noch leicht glimmte. Inspektor Brook, der sich inzwischen Handschuhe übergezogen hatte, prüfte an der Halsschlagader den Puls und schüttelte den Kopf. Dann drehte er leicht das Glasgefäß in der Hand des Toten, um das Etikett zu lesen. »Nikotin.«
»Wir benutzen es gegen Blattläuse«, erklärte Glover und fing an, leicht zu zittern. »Es ist so furchtbar. Erst Mr. Kettridge, nun Mr. Franklin. Beide innerhalb von noch nicht einmal 24 Stunden. Ich halte das nicht mehr aus. Wer wird der nächste sein, Herr Inspektor? Können Sie mir das sagen?«
»Es wird die letzte Leiche gewesen sein. Er hat seinen Vater getötet und dann den einfachsten Ausweg gesucht.«
»Machen Sie es sich da nicht etwas zu einfach, Herr Inspektor?«, schaltete Mrs. Oliver sich ein.
»Die Erfahrung zeigt, dass es in den meisten der Fälle so einfach ist. Vielleicht vergisst man als Schriftstellerin manchmal, dass das wirkliche Leben oftmals sehr trivial ist. Mr. Franklin wäre nicht der Erste, der unter dem Druck meiner Ermittlungen zusammengebrochen ist.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen, wenn Sie die armen Leute immer zu Unrecht verdächtigen.«
Brook blickte die Autorin scharf an. »Wollen Sie damit etwa sagen, dass ich Mr. Franklin auf dem Gewissen habe?«
»Ich will damit sagen, dass hier ein gefährlicher Doppelmörder frei herumläuft.«
Der Inspektor atmete tief durch. »Ich weiß ja, dass Frauen mitunter ihre eigene Logik haben, aber welcher Mörder würde denn einen anderen Menschen derart verdächtig machen und dann, anstatt abzuwarten bis der andere am Galgen endet, das Risiko eingehen, diesen ebenfalls umzubringen?« Er verzog das Gesicht. »Das macht doch keinen Sinn und ist durch kein Motiv der Welt zu erklären.«
»Sie haben einfach zu wenig Fantasie«, hielt die Autorin dagegen.
»So.« Brook hob die Augenbrauen. »Das werfen Sie mir also vor. Dann wollen wir doch mal sehen, wie viel Fantasie ich habe.« Er wandte sich dem Constable zu. »Smith, bitte gehen Sie in das Zimmer dieser werten Dame und bringen mir den Bogen Papier, der dort auf dem Schreibtisch liegt.«
»Ja, Sir.«
Mrs. Olivers Augen verengten sich misstrauisch, als der Polizeibeamte das Zimmer verließ. Was hatte der Inspektor vor?
»Eine Schriftstellerin, die nicht mehr zwischen Fiktion und Realität unterscheiden kann«, begann er. »Sie stiftet Verwirrung mit wilden Theorien und unterschlägt Beweismaterial, das sie in einem strategisch günstigen Moment dann präsentiert.« Er nahm das Blatt Papier von Smith entgegen, schaute kurz darüber und hielt es dann Mrs. Oliver hin. Es war eine Liste mit verschiedenen Giften und das Wort ›Nikotin‹ war mit einem Ausrufezeichen versehen und eingekreist. »Motiv: Die unbedingte Wahnvorstellung, das perfekte Verbrechen begehen zu müssen.« Er zog den Zettel wieder zurück. »Nun, Mrs. Oliver?«
Die Schriftstellerin sah ein, dass diese Runde an den Inspektor ging. »Es ist wohl doch ein Selbstmord aus Reue«, gab sie widerstrebend zu. Trotzdem musste sie dem Inspektor in einem Punkt tatsächlich Recht geben. Das alles ergab tatsächlich keinen Sinn. Was blieb einem also anderes übrig, als sich an die Fakten zu halten? Franklin Kettridge, ein Mörder. Hatte sie ihre weibliche Intuition denn wirklich so sehr im Stich gelassen?
 



 
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