lietzensee
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Fossilien sammeln
Es ging um Formen und Strukturen. Aber er liebte auch den erdigen Geruch, der zwischen Moos und den Kalkstücken hervor strömte. Der Steinbruch war schöner als das Büro. Aus einem Abraumhaufen griff er das erste Stück. Darin steckte noch die Kälte der Nacht und ließ seine Finger prickeln. Er entdeckte gleich die Riffeln einer Muschelschale. Gute Erhaltung! Die schmalen Furchen der Vorderseite waren im Stein exakt ausgeformt. Die Schale wölbte sich sanft – aber brach in der Mitte in einer schartigen Kante ab. Er suchte nach der anderen Hälfte. Andere Stücke, andere Bruchkanten, aber keine passte zu seiner halben Muschel.
Die Schichten im Steinbruch waren ein zusammengespültes Chaos gewesen, lange bevor man sie vor hundert Jahren mit Dampfmaschinen aufbrach. Meist konnte man nur raten, was in dem verschwundenen Meer einmal passiert war. Formen, Strukturen, er blickte auf die Bruchstücke hinab. Zumindest konnte man die Steine anfassen, riechen und hören, wie der Kalk zwischen den Fingern knirschte.
An einem anderen Brocken betrachtete er eine krumme Wulst. Der Stein bröckelte zwischen seinen Fingern. War das einer der vielen Grabegänge, mit Sediment verfüllt und dann versteinert? Ein Abguss. Ein Abguss einer Spur. Eine Spur von einem Tier, das keinen Namen hatte. Er ließ das Stück fallen und suchte weiter. Jeder Stein war anders, narbig durchlöchert oder glatt wie poliert, oft auch beides, je nachdem, welche Seite des Stücks man betrachtete. In fast jedem Stein steckte etwas drin. Doch fast nie konnte man erkennen, was das Etwas einmal gewesen war.
Unter einer gespaltenen Platte erspähte er schließlich eine vertraute Form. Eine Spirale, er griff danach. Unter dem leichten Druck seiner Finger knackte das Schneckenhaus. Das war Kalk, doch noch bewohnt. In der Öffnung steckte ein Schneckenfuß. Er setzte das Tier vorsichtig wieder ab und dann, welch Zufall, entdeckte er die nächste Spirale. Das war kein Schneckenhaus. Es war das Fehlen eines Schneckenhauses. Er beugte sich hinab und betrachtete die gewundene Struktur. Ein Schneckenhaus hatte sich vor Jahrmillionen aufgelöst. Doch im Stein war der genaue Abdruck des gedrehten Kegels geblieben. Der steckte in einer Platte, die viel zu groß war, um sie von hier wegzubewegen.
Auf diese Platte setzte er sich dann für eine kurze Rast. Konnte er es sich leisten, an einem Wochentag hier herzukommen? Oben auf der Abbruchkante rannte ein Fuchs entlang und Reste des einstigen Meeres kollerten unter den Pfoten hinab.
Seit fast zwei Wochen arbeitete er an dem Bericht. Zinsswap und Tagesgeld, Arbitrage und Rediskont, er musste Formen und Strukturen in Zahlenkolonnen finden. Jetzt fehlte ihm nur noch das Fazit für den Vorstand. Er stand auf, griff nach einem Stein und befühlte die warzigen Strukturen darauf. Sinter – mineralische Ausfällungen. Die wurden manchmal aus dem Gestein gewaschen, wenn es nach seiner Reise durch das Erdinnere wieder an die Oberfläche kam. Ein Fazit wollte ihm nicht einfallen. Er warf das Stück weg und griff nach dem Nächsten. Auf dessen Unterseite war das Hinterteil einer Muschel. Gute Erhaltung, die Bruchkante passte.