Fotografie

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lietzensee

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Fotografie​


Fotos lassen die Fantasie verkümmern. Sie rauben versteckten Momenten ihr Geheimnis. Sieht man ein Bild, will man tausend Worte nicht mehr hören. Dieses Foto zum Beispiel, eine Frau zeigt auf ein Auto. Langweilig, wo ist da der Reiz? Oft gesehene Abendstimmung, sie lächelt. Wahrscheinlich mag sie das Auto. Oder sie lässt sich gerne fotografieren. Ihr Blick geht zur Seite. Er folgt der zeigenden Hand. Eigentlich scheint sie aber nicht auf das Auto zu sehen, sondern nur am Autodach entlang. Etwas lebt jenseits des Bildrandes. Sie lächelt nicht, sie lacht. Dabei wirkt sie nicht fröhlich, eher aufgeregt.

Das Licht war nicht gut zum Fotografieren, viele Schatten und mangelnde Schärfe. Hält sie etwas in der Hand? Ist dieser graue Schimmer Metall? Sie zeigt nicht, sie zielt mit ausgestrecktem Arm. Wer so zielt und lacht, schützt sich vor einem anderen Menschen. Oder bedroht sie ihn?

Da ist ein Schatten auf der Windschutzscheibe. Eine Spiegelung? Die Silhouette einer Person? Nein, zwei Personen, zwei Personen gegen sie, auf einem verlassenen Parkplatz. Dunkelheit setzt ein und das Autodach steht etwas schief - ein platter Reifen. Doch sie hält die Zwei in Schach, sie triumphiert. Wir sehen es auf dem Bild. Wer soll ihr jetzt noch gefährlich werden? Nun, da ist noch jemand. Der, den man immer vergisst. Der Mensch, der fotografiert.
 
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Hallo lietzensee,

das gefällt mir in seiner gekonnten Widersprüchlichkeit sehr gut!
Erst kommen drei, vier Sätze, die das Verkümmern der Phantasie,, den Mangel an Geheimnis, die Langeweile, ja fast Minderwertigkeit von Fotos behaupten.

Und dann wird Punkt für Punkt aufgebaut: Geheimnis, Spannung, Anregung der Phantasie ...

Und als Schlusspunkt dann ein Verweis auf den Künstler, den Fotografen, der das Bild gefunden / gestaltet oder was auch immer hat. Dichter kann man das in der Kürze kaum bringen!

Grüße, Binsenbrecher

Edit: einzig die Wendung " ..., sondern dahinter." wirkt auf mich unglücklich. vielleicht "... sondern darüber hinaus" oder einfach "sondern weiter"?
 
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Ofterdingen

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Hallo Lietzensee,

Dein kleiner Text ist recht nett, nervt den Leser nicht mit Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehlern (Ausnahme: nach Mensch fehlt ein Komma). Die Diktion ist nüchtern, doch entsteht nicht nur beim Fotografieren, sondern auch mit den Worten des Erzählers nicht immer ein scharfes Bild. So fragt sich der geneigte Leser z.B., ob "dieser graue Schimmer" so unbestimmt bleiben muss. Was hindert dich, etwas genauer zu werden? Z.B. so: "Ist dieser graue Schimmer Metall? Ein Löffel? Ein Messer? Eine Pistole?" Wie auch immer, ich würde mir eine deutlichere Verbindung zu den Folgesätzen, insbesondere zur hernach angedeuteten Bedrohung und Gefahr wünschen.
Mehr noch als die von B. genannte Wendung ist die Passage "Nun, da ist noch jemand. Der, den man immer vergisst. Die, an die man nicht denkt. Der Mensch der fotografiert." unglücklich formuliert. Es gibt keinen plausiblen Grund, hier zwischen der Einzahl und der Mehrzahl (der - die) hin- und herzuspringen.
Im Übrigen können einem auch Zweifel an der Sinnhaltigkeit deiner Aussagen kommen. Beispiel: "Fotos lassen die Fantasie verkümmern." Wir alle wissen, wie sehr die Erinnerung Geschehenes verzerren und wie hilfreich ein Foto sein kann, um Verzerrtes wieder zurecht zu rücken. Oder möchtest du das Verschwimmen mit "Fantasie" gleichsetzen? Immerhin haben diverse Autoren (z.B. Grass) Fotos als Starthelfer benutzt für das Erschaffen ganzer Erzählwelten.

Gruß,
Ofterdingen
 
Interessant, diese unterschiedlichen Eindrücke / Einfälle zu so einem kurzen Text! Und was der eine als Stärke empfindet, sieht der andere als Schwäche. Ich denke, wenn "dieser graue Schimmer ..." weiter ausgedeutet, ja ausgewalzt werden würde, verlöre der Text an Geheimnis und Tiefe. Auch die plötzliche Mehrzahl "Der, den man immer vergisst. Die, an die man nicht denkt." halte ich für durchaus stilbildend. (Aber nicht unverzichtbar.) Eine Schluss-Sequenz ohne diesen Satz, also: "Nun, da ist noch jemand. Der, den man immer vergisst. Der Mensch, der fotografiert." wäre für mich mindestens genau so treffend. Und ja, bitte mit Komma.

MfG, Binsenbrecher
 

Ofterdingen

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Ja, die Geschmäcker sind verschieden, und das ist gut so. Wie fürchterlich wäre es, wenn alle Jungs nur noch einen Typ Mädchen, z.B. rothaarige, alle Tierfreunde nur noch Katzen und keine Hunde, Kaninchen usw. und alle Leser nur noch eine bestimmte Art von Geschichten haben wollten. Ja, es gibt auch „Werke“, die von Klischees überquellen, sprachlich schwach, unbeholfen, voller Fehler, schwülstig, sittenwidrig oder politisch anrüchig sind, aber das trifft ja hier in der Leselupe nur auf relativ wenige Machwerke zu und von denen rede ich nicht.

Unter den übrigen Autoren (und den Lesern) gibt es nun eine ganze Reihe, die das Unbestimmte dem Bestimmten vorziehen, die Lücke der Vollständigkeit, den Widersinn der Logik, Pastelltöne den kräftigen Farben. So ein bisschen erinnert mich das an Bilder, die ich mal in einer Waldorfschule gesehen habe, sanfte Farben und nebelhafte Umrisse. Manche dieser Texte finde auch ich durchaus ansprechend, andere nicht, doch das ist mein persönlicher Geschmack und diesen Schuh braucht sich niemand anderer anzuziehen. Auch dann nicht, wenn ich das ungute Gefühl habe, dass die Autoren Fäden heraus- und herumhängen lassen, weil sie nicht wissen, wie sie sie verknüpfen sollen, weil ihnen das Verknüpfen zu beschwerlich, zu rational oder zu perfektionistisch ist oder weil sie womöglich ihren Spaß daran haben, ihre Leser an der Nase herum zu führen und bewusst zu täuschen beziehungsweise zu enttäuschen. Wie auch immer: Es existieren keine wirklich objektiven Kriterien für die Beurteilung von Texten. Besonders die Bewertung mit Punkten, Sternen, Zeugnisnoten finde ich ziemlich fragwürdig, denn niemand hat einen hinreichenden Grund, den eigenen Geschmack als Maßstab für höhere Qualität anzulegen und andere Geschmäcker für minderwertig zu erklären*. Ist es doch gut, dass es Vielfalt und für jedes Töpfchen ein Deckelchen gibt.

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*) es sei denn, diese Geschmacksurteile sind lächerlich, weil der/die Beurteilende sich nicht unvoreingenommen mit dem Text befasst, sondern z.B. aus persönlicher Sympathie oder Antipathie jemanden abstraft oder ihm/ihr Honig ums Maul schmiert.
 
Es existieren keine wirklich objektiven Kriterien für die Beurteilung von Texten. Besonders die Bewertung mit Punkten, Sternen, Zeugnisnoten finde ich ziemlich fragwürdig, ...
Da hast Du mir aus der Seele gesprochen! Die beste "Bewertung"*) eines Textes ist, sich damit auseinanderzusetzen, seine Eindrücke, Einfälle, Gefühle bei der Lektüre usw. zurückzumelden; das ist im Grunde auch die einzige, die eines Forums würdig ist. Der Autor kann dann seinerseits, wenn er lesen kann, das Urteil aus dem Kon- Sub- oder Sonstwie-Text der Antwort einschätzen. Über diese deutschlehrerhafte Punktevergabe habe ich schon an anderer Stelle mich ausgelassen.

Aber nun komme ich zu einem - meinem Dilemma. Ich konnte feststellen, musste mir eingestehen, dass ich mich selber, anfangs ohne es recht wahrhaben zu wollen, über an meine Texte vergebene Punkte freue. Wie damit umgehen?

Ich lasse diese Frage mal offen.

MfG, Binsenbrecher

*) Es gibt übrigens durchaus Untersuchungen, in denen verschiedene Lehrer anonoym die gleichen Schulaufsätze korrigieren und bewerten mussten. Die Streuung war enorm - zwischen 1 und 5 war bei manchen (vermutlich bei den eher originellen Arbeiten) alles drin. Wenn dann noch die persönliche Bekanntschaft mit den jeweiligen Verfassern dazu kommt ...
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Zwei bemerkenswerte Kommentare, @Ofterdingen und @Binsenbrecher, denen ich mich anschließe und die die momentane Schieflage der Leselupe aufzeigen.

Leider sind wir nun vom obigen Text abgekommen, sorry dafür.

Gruß, Ciconia
 

Ofterdingen

Mitglied
Ich konnte feststellen, musste mir eingestehen, dass ich mich selber, anfangs ohne es recht wahrhaben zu wollen, über an meine Texte vergebene Punkte freue. Wie damit umgehen?
Solange du keine größeren Probleme hast, kannst du morgens immer noch in den Spiegel schauen, brauchst dich nicht so zu winden, lieber Binsenbrecher. Genieße dein Glück! Immerhin freust du dich nicht über einen Schaden, den ein Mitmensch erleidet, z.B. über ein schiefes Autodach und einen platten Reifen, und vielleicht sieht und fotografiert es ja keiner, wenn du dich freust. Oder Lietzensee macht die Aufnahme und sie wird unscharf und man erkennt dich nicht, sieht da nichts als einen Schatten auf der Windschutzscheibe ...
 

lietzensee

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Hallo Binsenbrecher, hallo Ofterdingen,
vielen Dank für eure Kommentare! Eigentlich hatte ich schon eher antworten wollen. Ich habe den Text jetzt noch mal ein wenig abgeändert.
" ..., sondern dahinter." wirkt auf mich unglücklich.
Ja, jetzt wo du es sagst, das klingt ein bisschen als würde sie durch das Auto durchsehen.

"Nun, da ist noch jemand. Der, den man immer vergisst. Die, an die man nicht denkt. Der Mensch der fotografiert." unglücklich formuliert. Es gibt keinen plausiblen Grund, hier zwischen der Einzahl und der Mehrzahl (der - die) hin- und herzuspringen.
Hin und her springen wollte ich zwischen weiblicher und männlicher Person. Einem Foto sieht man ja nicht an, wer fotografiert. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass man das -sie- auch als Mehrzahl lesen kann. Guter Punkt. Ich denke jetzt, dass der Nutzen des Satzes den Platz den er einnimmt nicht rechtfertigt.

Was hindert dich, etwas genauer zu werden? Z.B. so: "Ist dieser graue Schimmer Metall? Ein Löffel? Ein Messer? Eine Pistole?"
Im folgenden Satz hatte ich als Verb bewusst "zielen" verwendet, um anzudeuten, dass es sich weder um Messer noch Löffel handelt. Aber bei meinen eigenen Texten denke ich mir manchmal zu schnell "das ist doch offensichtlich." Darum ist die Meinung eines geneigten Lesers immer hilfreich.

Im Übrigen können einem auch Zweifel an der Sinnhaltigkeit deiner Aussagen kommen. Beispiel: "Fotos lassen die Fantasie verkümmern."
Solche Zweifel halte ich für vollkommen berechtigt!

Viele Grüße und einen schönen Abend
lietzensee
 



 
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