Franz und Georg

Michele.S

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"Franz, du musst langsam losgehen, sonst kommst du zu spät". Franz stopfte sich den Rest seines Butterbrotes in einem Stück in dem Mund. Er zwang sich, etwas zu essen, obwohl ihm ganz komisch im Magen war. So war es eigentlich immer vor der Schule, jedenfalls seitdem er die Grundschule verlassen hatte. Jetzt war er 14 Jahre alt und besuchte die achte Klasse der Volksschule Bad Reichenhall. Es war Anfang Dezember des Jahres 1957.

"Franz, würdest du bitte mit der Übersetzung weitermachen?" Fräulein Weißbrot starrte ihn mit ihren Quellaugen an und zog die Augenbrauen so hoch sie nur konnte. In ihrem Gesicht stand geschrieben "Daraus wird wohl nichts werden".
Franz wurde rot, wie meistens wenn er aufgerufen wurde: "Die Männer marschierten Tag und Nacht", riet er ins Blaue hinein.
"Stopp!" rief Fräulein Weißbrot. "Franz, wie soll das weitergehen. Ich will dir die fünf in Latein wirklich nicht geben, aber ich muss gerecht sein. Und dann fällst du durch. Meinst du nicht, es ist an der Zeit, sich zusammenzureißen?", fragte sie ihn streng aber mit einer Spur von Güte in der Stimme.
Franz Problem waren Latein und Mathematik. Obwohl sein Vater ihm zuweilen mit letzterem half, stand er doch konstant auf fünf und schlechter. Und in Latein war es noch aussichtsloser. Weder die Vokabeln noch die Grammatik hatte er intus. Im Grunde würde es ihm aber auch nicht viel ausmachen, die Klasse wiederholen zu müssen, er hatte hier sowieso nur einen einzigen Freund, Andreas.

In der nächsten Stunde war Deutsch an der Reihe. Bevor der Unterricht begann, geschah aber etwas, was die Schüler dazu veranlasste miteinander zu tuscheln und sich zu wundern. Der Lehrer stellte einen neuen Schüler vor.
"Sagsts uns mal deinen Namen, Bub", rief Herr Hauser in seinem gutmütigen Bass.
Der Angesprochene hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und sah sich seine künftigen Mitschüler vorsichtig an.
"Ich heiße Georg", sagte er schließlich mit tiefer Stimme. Er war klein, aber breitschuldrig und war vom dunkel-südländischen Typ, der in Bayern nicht selten vorkommt.
Georg und Franz Augen streiften sich kurz und blickten dann schnell wieder in eine andere Richtung.
Links von Franz saß Andreas, der Platz rechts von ihm war aber der einzige unbesetzte im Klassenzimmer und so forderte der Deutschlehrer in auf, sich "neben den Franz" zu setzten, "des is a ganz Liaba". Die Klasse lachte. Franz Herz schlug höher, als der Neue sich neben ihm niederließ.

In der Pause standen Franz und Andreas auf dem Schulhof und unterhielten sich. Sie hatten beide parallel "Demian" von Hermann Hesse gelesen und tauschten nun ihre Meinungen aus. Franz fand es großartig, Andreas dagegen zu kitschig. Bald wanderte Franz Aufmerksamkeit aber vom Gespräch ab und beobachtete Georg, der allein in einer Ecke stand und mit seinem Fuß etwas in die Erde zeichnete. Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus.

Die nächste Stunde war eine Geschichtsstunde. Es wurden die Verbrechen der Nationalsozialisten durchgenommen. "Welche Bevölkerungsgruppen sind in die Konzentrationslager interniert worden?" fragte der Lehrer. Es wurden verschiedene Gruppen genannt, die Juden, die Zigeuner, die psychisch Kranken. Da meldete sich Georg. "Oh, der Neue hat was zu sagen" rief der Lehrer mit gespielter Begeisterung. Also, wer litt noch unter der Verfolgung der Nazis?"
"Die Homosexuellen", sagte Georg fest.
Eine unangenehme Stille breitete sich in der Klasse aus. Ein paar Mitschüler lachten. Der Lehrer schwieg verlegen. Dann räusperte er sich und sagte: "Ja, das ist richtig, Georg, aber ich finde doch das gehört nicht hierher. Schließlich sind diese Leute ja nicht ganz schuldfrei in ihre Lage gekommen, nicht wahr?"
Dazu schwieg Georg. Franz beobachtete ihn von der Seite. Da drehte Georg sein Gesicht und seine Schulter zu ihm hin und blickte ihm lange und ernst in die Augen. Franz wich seinem Blick nicht aus.
 



 
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