Frau Gruber geht nicht

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Matula

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Es ist allgemein bekannt, dass der ältere Mensch in Anbetracht seiner hohen Lebenserwartung länger im Erwerbsleben verharren muss. Es geht nicht an, dass er zwanzig oder gar dreißig Jahre lang der arbeitenden Bevölkerung auf der Tasche liegt, die für sich eine womöglich weniger lange Lebensspanne erwarten darf. So werden mit schöner Regelmäßigkeit Rechnungen aufgemacht, die zeigen, wie eine immer größere Zahl von Ruheständlern auf einer immer kleineren Zahl von Erwerbstätigen hockt, die früher oder später unter dieser Last zusammenbrechen werden. Damit einher geht in der Regel eine Anhebung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters.

Diesen Bemühungen der öffentlichen Hand stehen jedoch mächtige subversive Kräfte entgegen. Um das sechzigste Lebensjahr wird das Fleisch kränklich und der Geist müde. Eine neue Generation hat sich verschiedene Teufeleien ausgedacht, um den Erwerbsprozess für die vorangegangene zu erschweren, und der im Geschäftsleben als "Kunde" bezeichnete Partner weiß die Erfahrung und Gemächlichkeit des älteren Arbeitnehmers selten zu schätzen.

Frau Gruber kannte alles das aus persönlicher Erfahrung. Vom vielen Herumstehen schwollen ihr die Beine an und vom Tragen schwerer Kartons stellten sich immer öfter Kreuzschmerzen ein. Dabei war es noch eine kleine Weile hin bis zu ihrem sechzigsten Geburtstag. Den Geschmack der Kundinnen verstand sie schon lange nicht mehr. Als schließlich die die strumpfartigen Hosen, die über dicke Bäuche und breite Hintern gezogen werden, in Mode kamen, verstummte sie vollends, obwohl ihr die Beratung immer noch ein Anliegen gewesen wäre. Dazu kam eine komplizierte Registrierkasse, die alle zwei Jahre durch eine noch kompliziertere ersetzt wurde. Wenn eine Kundin mit einer Logo-Tasche des Hauses auftauchte, wurde ihr flau im Magen. Dann war wieder ein Umtausch oder die Ausgabe eines Gutscheins fällig.

Ein Kapitel für sich waren die Kolleginnen. Keine von ihnen dachte, dass Frau Gruber gefälligst länger arbeiten sollte, um ihr nicht als Rentnerin auf der Tasche zu liegen. Im Gegenteil. Man war der Meinung, dass sie unbedingt bald in den "wohlverdienten" Ruhestand treten sollte, denn immer wieder musste man ihr beim Aufräumen der Umkleidekabinen, beim Bonieren oder mit dem Auspacken der neuen Lieferungen helfen. Sie war auch nicht der mütterliche Typ, bei dem man sich einmal ausheulen konnte. In den Pausen saß sie im Hof und rauchte Zigaretten. Im Grunde taugte Frau Gruber vor allem als lebender Beweis für die Überflüssigkeit einer kaufmännischen Ausbildung. Keine der Kolleginnen hatte eine und die meisten träumten davon, später "etwas ganz anderes" zu machen.

In Anbetracht dieser Umstände war Frau Gruber entschlossen, dem Arbeitsleben bald den Rücken zu kehren. Da sie geschieden und kinderlos war, besorgte sie weniger der finanzielle Abstieg, sondern mehr die Frage, was sie dann mit der vielen Freizeit anfangen sollte. Gesellige Busreisen gingen ihr durch den Sinn, lange Leseabende daheim, Fernlehrgänge für Italienisch oder für Acrylmalerei, vielleicht auch eine lustige Laiendarsteller-Gruppe. Aber wie lange würden alle diese Dinge Spaß machen?

Dann kam Roland. Er stand eines Tages im Lichthof des Kaufhauses und rauchte eine Zigarette.

"Schau an, da kommt ja noch so ein verruchtes Geschöpf, das in den Pausen tschickt!"

Frau Gruber strahlte. Als "verrucht" hatte sie noch niemand bezeichnet.

"Lassen Sie mich raten - Damenmoden!"

"Ja, woher wissen Sie das?"

"Na ja," er trat einen Schritt zurück und musterte sie, "schickes Outfit. Sie wollen noch ein bisschen Stil unter die Leute bringen, ehe Sie in die Pension abschwirren." - Das war unter der Gürtellinie.

"Bei Ihnen müsste es aber auch bald so weit sein," antwortete sie bissig und musterte ihn ebenfalls.

Er hatte nackenlanges graues Haar, das in der Mitte gescheitelt war, viele Falten um die Augen und eine schlaksige Figur, die in Jeans und einem weißen Hemd steckte. Die bunten Lederbändchen am rechten Handgelenk fand sie ein wenig affig.

Er lachte.

"Ja, das ist wahr, aber bis dahin wird noch viel Wasser die Donau hinunterrinnen."

Dann erzählte er ihr von seinem Leben als Musiker. Gitarrist in drei verschiedenen Formationen war er gewesen. Er nannte ihr die Namen, aber sie kannte keinen. Er summte ein paar Strophen aus einem Song, aber sie musste passen. Immer war am Ende etwas schiefgegangen, sodass er zwischendurch verschiedene Jobs annehmen musste. Zuletzt fand sich keine geeignete Soulsängerin.

"Da haben wir aufgegeben - fürs Erste. Und jetzt bin ich also bei den Herrenmoden. Wir passen gut zusammen, wir zwei."

Der letzte Satz brachte Frau Gruber ganz aus der Fassung. Zurück in ihrer Abteilung entschuldigte sie sich für die lange Pause, scherzte mit einer Kundin und half einer Kollegin beim Zusammenfalten der T-Shirts. Daheim beruhigte sie sich wieder. Sicher gab es eine Freundin oder Lebensgefährtin. Männer wie dieser Roland waren selten verheiratet, aber immer liiert, auch wenn sie schon verwelkt waren. Trotzdem behagte ihr der Gedanke, ihn nun jeden Tag sehen und sprechen zu können.

Die nächsten Tage zeigten, dass eine Verabredung günstig gewesen wäre, sofern man nicht annehmen wollte, dass Herr Roland einer Begegnung im Raucherhof geflissentlich auswich. Als sie sich endlich wieder trafen, war Frau Gruber nervös und sehr darauf bedacht, die Unterhaltung betont kollegial zu halten. Sie bot ihm das Du-Wort an. Er wollte wieder von seiner musikalischen Vergangenheit erzählen und damit das schöne Wir-Gefühl zerstören. Sie ließ ihn eine Weile gewähren, dann wechselte sie das Thema.

"Und wie lange musst du nun noch arbeiten?"

Er seufzte. "Fast fünf Jahre, aber ich werde vorher vor Langeweile sterben, soviel ist sicher. Mode hat mich nie interessiert, schon gar nicht die Herrenmode. Vielleicht sollten wir tauschen. 'Roland in der Damenumkleide' ... könnte der Titel für einen neuen Song werden. Und du könntest mit den Händen hinter dem Rücken herumspazieren und aufpassen, dass niemand Unterhosen oder Socken stiehlt."

"Hast du eigentlich eine Ausbildung?" wollte sie wissen.

"Eine abgebrochene Uhrmacherlehre. War eine Schnapsidee. - So, jetzt muss ich zurück zu den Anzügen. Tschau, tschau!"

"Ich bin meistens um zehn und dann wieder um fünfzehn Uhr hier!" rief sie ihm nach.

"Gut zu wissen!" rief er zurück, ohne sich umzudrehen.

Falls es einen Eros gibt, der nicht nur Verliebte zueinander treibt, sondern auch den Wunsch befeuert, am Wirken und Weben der Welt teilzuhaben, müsste ihn die staatliche Pensionsversicherung in ihre Dienste nehmen. Für Frau Gruber gab es nach diesem Gespräch nichts zu hoffen. Das wusste sie sehr genau. Ein Künstler war in die Niederungen des Handels hinabgestiegen, um dort einen frühen Tod durch Langeweile zu erleiden. Was für ein Schnösel! Aber noch am Abend im Bett fielen ihr Sätze ein, die sie ihm an den Kopf werfen wollte. Zum Beispiel: Ja, so kann's gehen, wenn man zu spät erkennt, dass man zu wenig Talent hat - oder: Vielleicht wärst du in einem Supermarkt als Regalbetreuer besser aufgehoben.

Es dauerte wieder eine geraume Weile, bis sich die Gelegenheit bot, den gestrandeten Gitarristen zu beleidigen. Als es soweit war, fand Frau Gruber weder Grund noch Anlass dafür, denn Herr Roland war die Liebenswürdigkeit in Person. Er hatte seine Zigaretten vergessen und musste sich bei ihr bedienen. Zum Dank bekam sie sein Feuer und eine große Portion kollegiales Mitgefühl. Er berichtete von einem jungen Kunden, der drei schwarze Kapuzenshirts wieder und wieder anprobierte, weil er sich einfach nicht entscheiden konnte. Am Ende kaufte er keines und alle drei waren verschwitzt.

"Verstehst du das?! Sie waren alle drei rein schwarz, gleicher Schnitt, gleicher Stoff! Eines hat ein bisschen geglänzt. Das ist doch gestört! Ich hab gleich an dich denken müssen und wie du das Tag für Tag so viele Jahre aushältst. Ich nehme an, bei den Frauen ist es um keinen Deut besser."

"Stimmt," sagte Frau Gruber, "aber heutzutage musst du immer die Marke mitdenken. Es macht einen Unterschied, von welcher Firma das schwarze Kapuzenshirt kommt - einen gewaltigen!"

"Ja, ist mir klar," antwortete er mürrisch, "aber damit werde ich mich sicher nicht beschäftigen. Wir haben wieder einen Probenraum angemietet. Am Abend kommt eine gewisse Nancy zum Vorsingen."

Die Nachricht war irritierend, aber Frau Gruber tröstete sich mit dem Gedanken, dass eine Band aus vier älteren Herren wahrscheinlich noch hin und wieder beim Heurigen oder bei einer Hochzeit aufspielen durfte, aber damit sicher nicht ihren Lebensunterhalt verdienen konnte. Er wird wohl bei uns bleiben müssen, hoffte sie, bis er seine Pensionszeiten beisammen hat.

Schon am nächsten Tag wartete er auf sie im Hof und gestand, schon wieder die Zigaretten vergessen zu habe. Außerdem wollte er wissen, ob sie singen könne, denn Nancy war gleich nach den ersten Noten abserviert worden.

"Mach einmal den Kammerton!"

"Was meinst du?"

"Das eingestrichene a, du weißt schon, wie im Folgetonhorn von der Feuerwehr: tra-ra, tra-ra!"

"Das kann ich nicht, ich kann nicht singen ...".

"Na komm schon, du musst es nur nachsingen: tra-ra, tra-ra!"

Sie versuchte es, aber was sich da ihrer Kehle entrang, war ein jämmerlicher Klagelaut, der nach rolliger Katze klang und mit einem abrupten "Ach, leck mich doch am Arsch!" endete.

Nach dieser Begegnung waren sie offiziell böse miteinander. Frau Gruber verkniff sich die Zigarettenpausen und beschwerte sich bei einer Kollegin über den "Trottel" aus der Herrenmoden-Abteilung, der keine Ahnung von Markenware hatte. Als diese wissen wollte, ob es sich um den "feschen Älteren mit den grauen Locken" handelte, war sie auch auf die Kollegin böse und ließ alle wissen, dass sie demnächst in Pension gehen werde. Herr Roland erzählte seinen Musikerfreunden, dass er jemanden kenne, der tatsächlich nicht in der Lage war, ein eingestrichenes a nachzusingen. Sie konnten es kaum glauben.

Nach einigen Wochen schlich sich Frau Gruber wieder in den Hof. Ihr Denken hatte sich beängstigend oft mit dem kleinen lauschigen Platz beschäftigt, der von der stillen Lasterenklave zu einem Ort unbestimmter Verheißung geworden war. Hier in der Mitte des Kaufhauses liefen die Nerven ihrer weiblichen Existenz zusammen. - Kaum hatte sie sich eine Zigarette angezündet, tauchte er auf und überreichte ihr eine neue Packung.

"Wieder gut?"

Sie nickte.

"Bei unserem nächsten Auftritt wirst du zwar nicht auf der Bühne, aber gleich vorne in der ersten Reihe stehen. Das verspreche ich hoch und heilig!"

"Und was wird deine Freundin dazu sagen?"

"Es gibt keine ... und das soll bis auf weiteres auch so bleiben."

Am Ende des Jahres wurde Frau Gruber in die Personalabteilung zitiert. Man wollte wissen, ob sie hinsichtlich ihrer Pensionierung im kommenden Jahr eine Entscheidung getroffen hatte, denn es hätte sich herumgesprochen, dass sie anlässlich ihres sechzigsten Geburtstags in Rente zu gehen wünsche. Sie reagierte sehr aufgebracht und versicherte, dass es sich um ein frei erfundenes Gerücht handle, da sie doch an der Firma mit jeder Faser ihres Herzens hänge und selbstverständlich bis zum Erreichen des gesetzlichen Pensionsantrittsalters bleiben werde.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Matula,

eine herrlich unterhaltsame Geschichte! Interessantes Thema, gut umgesetzt.

Geht man in Österreich (wie in Luxemburg) normalerweise auch mit 60 Jahren in den Ruhestand?

Ich darf arbeiten, bis ich 67 Jahre alt bin.

Um das sechzigste Lebensjahr wird das Fleisch kränklich und der Geist müde.
Das kann ich nur teilweise bestätigen. Obwohl ich vor kurzem gelesen habe, dass man mit 44 und mit 60 Jahren ein sehr gutes Stück auf einmal altert.

LG SilberneDelfine
 

lietzensee

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Hallo Matula,
ich schließe mich an. Das ist klasse erzählt und weicht elegant allen Klischees aus. Sie und er wirken beide sehr echt.

Ich glaube, bei "eine" ist ein R verloren gegangen:
Wenn eine Kundin mit eine Logo-Tasche des Hauses auftauchte, wurde ihr flau im Magen.

Wie immer um Kürze bemüht, würde ich den ersten Absatz vielleicht weglassen. Der gesellschaftliche Hintergrund ist sicher allen Lesern bewusst und die Einleitung nimmt der Geschichte etwas Schwung.

Vielleicht ließe sich auch noch ein anderer Titel finden. Die Geschichte lebt nicht von einem großen Twist am Ende. Aber irgendwie nimmt der Titel doch das Ende schon vorweg.

Viele Grüße
lietzensee
 

Matula

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Hallo @SilberneDelfine, hallo @lietzensee !

Danke fürs Lesen und die gute Bewertung. Danke auch für die Korrektur.
Ich war mir nicht sicher, ob das Problem auch in anderen Ländern so aktuell ist. Daher die längere Einleitung. In Österreich liegt das durchschnittliche Pensionsantrittsalter bei 60 (Frauen) und 62 (Männer). Das gesetzliche bei 65 (Männer) und 60 (Frauen), wobei letzteres bis 2033 stufenweise angeglichen werden soll. Über die Diskrepanz wird viel diskutiert und gestritten. - Ich glaube, es wird gern übersehen, dass die hohe Lebenserwartung hauptsächlich der medizinischen Kunst geschuldet ist. In dem Maße, in dem dort Misswirtschaft und Überforderung einziehen, werden Leistungskürzungen die Lebenserwartung wieder sinken lassen. Wenn man dann bis 65 oder gar 67 (das ist wirklich brutal!) arbeiten muss, fühlt man sich wahrscheinlich betrogen. Es sei denn, man ist ein Staatsoberhaupt und hat die Macht als Jungbrunnen.

Dass der Titel schon das Ende verrät, finde ich nicht störend. Es geht ja um die Entwicklung, die Frau Gruber durchmacht.

Herzliche Grüße,
Matula
 
Hallo Manuela,



ich kann zwar nicht das eingestrichene a singen, doch kann ich wenigstens meine Freude zum Ausdruck bringen, die mir Deine kleine Erzählung gemacht hat.

Schon in der Mitte dieser Geschichte habe ich insgeheim gehofft, dass es mit diesen Beiden irgendwie weitergeht.

Ich liebe diese Geschichte!



Grüße aus Dortmund

Tintenkleckser
 

Matula

Mitglied
Guten Abend @Tintenkleckser,

es freut mich sehr, dass Dir die Geschichte gefallen hat ! Ich nehme an, dass Frau Gruber nun jeden Morgen den Kammerton übt, und wer weiß, vielleicht steht sie dann doch einmal auf und nicht vor der Bühne.

Freundliche Grüße aus Wien,
Matula
 



 
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