Frau mit Blüte

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Fischbach ist eine S-Bahnstation am Rand von Nürnberg. Rundum große Wälder und ein Gewerbegebiet, parallel zur Bahn eine laute Schnellstraße. Die Wohnviertel liegen weiter entfernt. Die Gegend wirkt unwirtlich, hier hält man sich nur auf, solange man muss.

Die Züge stadtein- wie stadtauswärts halten am selben Bahnsteig, ich will hinaus. Außer mir warten nur wenige Menschen, sie stehen weiter weg. Da nähert sich mir eine kräftige junge Frau. Sie ist blond, scheint etwas unsicher und spricht mit russischem Akzent. Ich soll ihr erklären, wie sie einen Fahrschein ins Zentrum von Nürnberg lösen kann. Wo mag sie jetzt herkommen, hier treten gewöhnlich keine Ortsfremden eine Fahrt an. Und wer aus einem der Wohnviertel kommt, hat den Bus hierher genommen und den Fahrschein schon in der Tasche.

Ich versuche ihr mein Wissen zu vermitteln. Während ich für sie die Tasten bediene, fällt mir auf, dass sie nicht vollkommen ahnungslos sein kann. Sie bemerkt einen Fehler, den ich mache, und unterbricht meine Aktion. Dann wird der Fahrpreis angezeigt und es erweist sich, dass ihr Kleingeld dafür nicht ausreicht. Es fehlen etwa fünfzig Cent. Ich biete ihr gleich eine Münze an - doch das ist nicht in ihrem Sinn. Ihr Deutsch, vorher recht flüssig, versagt auf einmal. Sie sieht mich mit unbestimmtem Ausdruck an und hält jetzt eine Fünfzig-Euro-Note gefaltet zwischen den Fingern der rechten Hand. Das erinnert ein wenig an einen Zaubertrick. Ich soll wechseln? Aber nimmt der Automat nicht doch einen so großen Schein? Ich biete ihr erneut fünfzig Cent an.

Sie wirkt frustriert und verlässt mich, ohne noch etwas zu sagen. Sie geht zu den anderen Fahrgästen und verhandelt mit ihnen. Es ist so weit weg, dass ich nichts davon verstehen kann. Sie hat noch immer keinen Fahrschein. Da kommt meine Bahn nach Altdorf. Und während sie langsam am Bahnsteig einläuft, sehe ich, wie die junge Russin die Station verlässt und rasch die Treppe zum Bahnhofsplatz hinuntergeht. Er ist wie eine Sackgasse angelegt. Einige Autos parken dort. Im Wegfahren kann ich noch erkennen, dass sie auf eines von ihnen zugeht, um einzusteigen.

Zehn Jahre ist das jetzt her, ich sehe den Ablauf noch vor mir. Sagen Sie nicht, ich hätte die Polizei anrufen sollen. Unterwegs habe ich nie ein Telefon bei mir. Dieses eine Mal habe ich es bedauert.
 

ThomasQu

Mitglied
Servus Arno,

schöne Geschichte und super beschrieben!

Den Titel würde ich ändern, der nimmt zuviel vorweg. Dass der “Fuffi“ eine Blüte ist, beschreibst du in dem Text so klasse, dass du das dem Leser in der Überschrift nicht vorab erklären solltest.
Habe den Link gleich meiner Frau ins Büro geschickt. Sie ist Pendlerin und sieht den Bahnhof jeden Tag zwei Mal. (Allerdings kommt sie aus der Neumarkter Richtung, da hält der Zug in Fischbach nicht, sondern fährt durch).
Ich kenne den Bahnhof natürlich auch, habe als Kind zehn Jahre in Fischbach gewohnt. Es stimmt, leider ist dort alles versifft, aber gefällt dir das schöne Bahnhofsgebäude denn gar nicht?

Grüße, Th.
 
Danke, Thomas, für die Reaktion. Meiner Erinnerung nach stand ich etwas weiter weg vom Bahnhofsgebäude (stadtauswärts) und hatte von dort einen guten Blick auf das Vorgelände. Den Bau selbst habe ich mir jetzt erst via Google in Erinnerung rufen müssen, er hat tatsächlich Stil. Ich glaube, er hat mir damals beim Vorbeifahren auch schon gut gefallen.

Beim Titel habe ich mir nicht vorgestellt, dass die Leser gleich an Falschgeld denken. Von mir beabsichtigt (und vielleicht etwas zu hochgestochen) waren eher kunstgeschichtliche Assoziationen.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Arno,

diese Geschichte ist mir zu holzschnittartig angelegt. Sie wirkt sehr nüchtern. Wörtliche Rede, mehr Adjektive und mehr Emotionen würden sie m.E. verbessern.
Das Ende ist klar. Schade, ein offenes wäre nicht nur der Form der Kurzgeschichte zuträglicher, sondern auch der gesamten Geschichte, die das Wort kurz wörtlich nimmt.

LG
DS
 
Na ja, Doc, es ist halt eine Kürzestgeschichte. Sie ist bewusst so knapp und trocken gehalten, um den Eindruck von Authentizität zu verstärken. Gerade an Adjektiven und Emotionen herrscht in deinem Forum gewöhnlich kein Mangel, eher Überfluss. Eine gelegentliche Diät würde hier und da guttun.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Arno,
Mir gefaellt wie du mit ein paar Absaetzen diese kleine Geschichte
erzaehlst.Ist dieser Trick (Nr. 18) denn so aussergewoehnlich in D?
 
Danke, Ji Rina, für deine gute Meinung. Zu Recht bezeichnest du den Text als kleine Geschichte (Hervorhebung durch mich). Daher die entsprechende kurze Form.

Leider habe ich keinen Überblick über die Tricks der Banknotenfälscher, so dass ich deine diesbezügliche Frage nicht beantworten kann. Mir ist dergleichen nur dieses eine Mal begegnet.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

ThomasQu

Mitglied
@DocSchneider

Sag mal, wie hättest du denn Arnos Geschichte kommentiert, wenn er sie bei Kurzprosa oder ins Tagebuch eingestellt hätte?
Anders gefragt, wie problematisch ist es, wenn ein Text mal im falschen Forum steht?

Grüße, Th.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Arno,

ich kenne seit langem Deinen Stil und auch diese Geschichte entspricht ihm - genau beobachtend und eher nüchtern. Trotzdem fehlen mir hier ein paar Emotionen, die es in anderen Texten von Dir durchaus gibt. Das meinte ich.

LG
DS
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Thomas,

ich hätte einen identischen Kommentar abgegeben, denn es geht hier nicht um die falsche Einordnung, sondern um eine Einschätzung eines Textes. Wenn ich den Text eher als Kurzprosa oder als Tagebucheintrag sehen würde, könnte ich ihn ja verschieben.
:)
 
Danke, Doc, für Ergänzendes. Diese Aufnahme oder Verarbeitung des Textes muss ich natürlich akzeptieren, wie jede andere ernsthafte auch. Immerhin freut es mich, dass meine sonstigen Texte nicht als vollkommen emotionslos rüberkommen ... Hier konkret frage ich mich allerdings, welche Emotionen denn bei so knapper Handlung unter einander gänzlich Fremden, nur wenige Minuten dauernd und folgenlos, überhaupt in Frage kommen könnten.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hat das Ich sich bedroht oder verunsichert gefühlt? Hatte es keinen Impuls, der Frau nachzulaufen? Hatte es keinen Wunsch, das Ganze mit Umstehenden zu klären? Fühlte es Vorurteile bestätigt?
So in der Art.
 
Gut, Doc. Man muss allerdings bedenken, dass die einfahrende S-Bahn alle evtl. möglichen Reaktionen bedeutungslos machte. Einzige Ausnahme: der Wunsch, per Telefon die Polizei zu verständigen. Da das unmöglich ist, verspürt der IE Bedauern - hurra, da habe ich doch noch eine Emotion im Text gefunden!

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

Kassandro

Mitglied
Kurzprosa

Auch nach meinem Eindruck gehört diese routiniert geschriebene Miniatur in Kurzprosa und nicht in Kurzgeschichten.

Wenig erfreulich ist mir, zu beobachten, wie hier in belletristischem Gewand gezündelt wird. Gerade erst die Geschichte vom unheimlichen Kurden, vom eingeheirateten "Orientalen" im Zugabteil (mit Hinweis darauf, dass der sensible Schriftsteller die Gefahr schon in den 80ern erkannte) und jetzt die russische Trickbetrügerin. Kommen demnächst die Roma vom Balkan dran, die auf der Rolltreppe beobachtet werden?

Prosa, zweifellos am Puls der Zeit - aber, so leid es mir tut, mein Herz schlägt nicht in diesem Rhythmus!
 
Kassandro, du bist auf der falschen Fährte. Die Texte sind alt und beruhen auf realen Erlebnissen, ohne jede Anreicherung. Es ist allerdings für die Gegenwart bezeichnend, dass man sich vorsehen muss, was aus der Vergangenheit man noch zur Sprache bringen darf.

Die Kurdengeschichte als Beleg für Fremdenfeindlichkeit zu präsentieren, ist ziemlich dreist. Die Tendenz dort richtet sich ja gerade nicht gegen den jungen Orientalen, sondern gegen seine Manipulation durch eine junge Deutsche. Das kann jeder nachprüfen. Ich habe damals gar nichts "erkannt", nur mir gleich nach der Bahnfahrt alle Details aufgeschrieben. Im Text sind nur die Orte geändert worden.

Dein Kommentar ist ein Versuch, Zensur auszuüben und Themen zu tabuisieren. Als ich diese Texte 2007 / 2008 bei "Opinio" erstmals ins Netz stellte, wäre keiner auf die Idee gekommen, ausgerechnet mir eine solche Motivation zu unterstellen. Daran kann man erkennen, wie sich das Klima inzwischen bei uns verändert hat. Insofern ist dein Kommentar auch ein aufschlussreiches Dokument.

Tipp: Frag doch mal bei Doc nach meiner Internet-Vorgeschichte und meiner Position in politischen Auseinandersetzungen. Die kennt mich von Anfang an.

Arno Abendschön
 
A

aligaga

Gast
Dein Kommentar ist ein Versuch, Zensur auszuüben und Themen zu tabuisieren. Als ich diese Texte 2007 / 2008 bei "Opinio" erstmals ins Netz stellte, wäre keiner auf die Idee gekommen, ausgerechnet mir eine solche Motivation zu unterstellen. Daran kann man erkennen, wie sich das Klima inzwischen bei uns verändert hat. Insofern ist dein Kommentar auch ein aufschlussreiches Dokument.
Wow!

Dass sich Empfindungen und Sichten in Gesellschaften ändern können, sollte man nicht bedauern, sondern begrüßen - immerhin gelten Juden inzwischen mehrheitlich nicht mehr als Untermenschen, das Geschwätz Mao-Te-Tungs ist nicht mehr die Bibel und die Kirche hat offiziell anerkannt, dass die Erde etwas anderes sei als nur eine Scheibe.

Es liegt @ali fern, diese platte Nummer "verbessern" zu wollen. Aber er fragt sich, was einen "besorgten Bürger" davon abhalten könnte, an einem russischen Mädchen, das einen falschen Fuffi in Umlauf zu bringen versucht, nichts Sympathisches zu finden.

Er hätte das Mädchen nach dessen Namen gefragt, ihr den Schein sofort eingewechselt und das Falsifikat im Klo oder im Salon seiner Loft zur Schau gestellt.

So muss "Frau mit Blüte", und nicht anders!

Quietschvergnügt

aligaga
 



 
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