Freie Zeit

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Val Sidal

Mitglied
[ 6]Man unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr.

[ 6]Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region in der IK (Intensivmedizinische Kliniken GmbH) ist meine Arbeit stressiger geworden. Klassische Jobverdichtung. Dann und wann erlaube ich mir eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt. Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material – sozusagen.
[ 6]Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten – Freizeit. In der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt. Da musste ich in meiner Freizeit ran. Der gewöhnliche Krebstod aber wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus und ist wirtschaftlicher. Hier denken alle positiv.

[ 6]Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige stehen wird. Im Grunde ist es wie eine Terminvereinbarung. Nächste Woche? In fünf Jahren? In dreißig Jahren?
Hier versteht jeder die Bedeutung, das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt, überlegt sich genau, was er will.

[ 6]Wie Frau X, die gleich aus dem Morphium-schlummern wach wird, nach ihrem zweiten Rezidiv. Sie war auch vor fünf Jahren, bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon auf das Gespräch.

[ 6]Räumen wir aber zunächst ein grundsätzliches Missverständnis aus dem Weg: Krebs – das ist keine Krankheit, zumindest nicht im üblichen Sinne. Im Gegenteil. Er ist der verzweifelte Versuch des Individuums, wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben – ein Überlebenskampf auf Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren ist. Wenn das Organ erstickt. Beim Versuch seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper energiesparend. Eine clevere Strategie. Glauben sie es mir, ich muss es mir jedes Mal ansehen, bin immer dabei und bereit, meinen Job zu tun.

[ 6]Bei Frau X geht es um Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! – sie öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein – sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen, die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von ihnen erwürgt wird.

[ 6]Menschen verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Es ist effiziente Seelenökonomie. Gesund.
[ 6]Verdrängen ist wie Schubladen, die permanent zugehalten werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten. Es kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank. Wehe, die Hand ermüdet. Oder bricht.

[ 6]Mit Frau X wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird, im Alkohol- und Nikotinrausch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch, den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.

[ 6]Ich beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb – nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie schaut mich mit großen Augen an: „Wer sind Sie?“, sie reibt sich die Augen, „Was haben sie in meinem Zimmer verloren?“
So reagieren sie manchmal, wenn sie mich sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.

[ 6]„Du weißt, dass das keine Liebe ist! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt kommen – Diplomatie liegt mir nicht.

[ 6]Es gefällt mir, wie sie reagiert. Sie empört sich. Ihr durch die Lebermetastasen verursachte vergelbte Teint erfährt eine winzige Rotverschiebung: Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit. Kämpft!

[ 6]Ihr Mann, ihre Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll ich dir etwas zu lesen bringen? Entscheide! Jetzt! Mutter hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen. Mit viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast. Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug? Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht ein Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln mitgebracht. Vom Türken. Die sollen sehr gesund sein. Möchtest du? Oder doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt! Jetzt, da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie von der Gewissheit bedroht wird, dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und Zuwendung. Es ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt. Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für das Management und Betrieb im Haus und Garten. Eine sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.

[ 6]„Halt' dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe! Es ist nur schlechtes Gewissen: 'hätten wir der Mama vielleicht doch im Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen, vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin-Mama bemüht, auch um drei Uhr nachts; Mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die nichts zustande bringt; dass sie nicht faul von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama sei; dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.'“

[ 6]Sie versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es am Glanz ihrer Augen: „Wie heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund. Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind die Gifte – innerlich und äußerlich.

[ 6]Eine bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu prüfen. Adrett, seit dem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie freundlich: „Nicht weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der Patientin, „das wird schon!“ – sie spürt, dass ich da bin, verdrängt es aber. Frau X nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.

[ 6]„In L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp, und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein Wortspiel. Ihre Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun-und-Lächeln-dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde – und eine Krankheit. Eine Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund. Das Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand, sie, die Umstände und ihre Lieben immer gesorgt haben – unbewusst, aber tatkräftig, bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...

[ 6]„Ihr seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber! Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus FREIEN! Das ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung: die Selbstverarschung. Böses Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: den Verrat an Selbst. Ja – heule nur!“ Sie wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres ausgemergelten Körpers im Bett hin und her geworfen. Frau X wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin für alle Fälle bei ihr und bereit.

[ 6]„Du bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich! Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich muss innerlich lachen. Bei Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das Gegenteil von dem, was er sagt.

[ 6]„Ich quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das Fühlen der Wahrheit. Wenn es gut geht, dann wirst du sogar auf dich wütend sein. Glaub' es mir: Ich kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
[ 6]Sie hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt – übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft sie ihr eigenes Schattendasein. Ich habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen kann. Ich muss ihr die Zeit geben.


[ 6]„Hallo!“, begrüßt mich Frau X, jetzt, sechs Monate später, bei ihrem letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie lächelt.

[ 6]„Oh ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine Veränderungen an ihr. Na – wir wollen mal sehen, was dahinter steckt.

[ 6]„Bin dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.

[ 6]Es ist nicht nur so dahin gesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer, wenn nicht ich. „Warst du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.

[ 6]„Du hattest Recht. Mit allem, was du über meinen Mann und den Kindern gesagt hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich will wieder leben! Ich werde leben!!“

[ 6]Mist! Noch ist sie nicht so weit. „Will wieder leben … wenn ich das schon höre! Du liegst falsch! Du hast nichts begriffen! Du lebst jetzt, und wirst sterben – so herum wird ein Schuh daraus!“

[ 6]„Doch! Wenn ich das hinter mir habe, werde ich alles verändern.“

[ 6]„Langweile mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen. Dein Mann kommt gleich – was also hat sich geändert?“

[ 6]„Oh, das ist jetzt alles anders. Wir haben miteinander viel gesprochen und sind uns dabei sehr nahe gekommen. So gut war unser Verhältnis noch nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar, es wird nicht mehr die große Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein Heucheln mehr.“

[ 6]„Und die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“

[ 6]„Sie brauchen ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern werde!“

[ 6]„Du täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst …! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“

[ 6]„Ich lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit gekommen ist!“

[ 6]„Ich muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie weint. Nicht mehr so gequält. Das ist gut. Ich werde es ihr sagen: „Die Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss, von seiner Last befreit, sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Dein Mann und deine Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem gebrochenen Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du gehörst immer noch mir!“

[ 6]„Das verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch versteht?“

[ 6]„Dein Mann, die Kinder sind krank – sie sind nicht der Grund!“

[ 6]„Was bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“

[ 6]Sie gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt. Ihr Pferd! Pferde sind Spezialisten der Angst – ihre Rettung? Wenn sie wieder reiten wird …

[ 6]„Du kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt MUTTER. Deine MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre böse Doktor-Tochter – die sie von ihrer Depression nicht heilen will, bestraft werden muss; deine SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige ÜberMUTTER geworden ist. Wenn dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch, ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie könnte schlafen. Oder etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Oder Malen. Vielleicht schreiben.
Aber die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann lächelst du; Wenn ihr nur wüsstet, denkst du, ich bin schwach, gemein. Eine böse Mutter. Nichts.
[ 6]Eigentlich wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie in Überfluss. Und dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen Schuldigen geben: dich. Dein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen. Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder – von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt hatte. In den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt – das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres eigenen Lebens. Das hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren lassen. Dir nie verziehen.“

[ 6]Das saß. Sie zieht die Decke über den Kopf. Ich glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und sich verzeihen kann.

[ 6]Dass ich zeitgleich meinem Tagesgeschäft nachgegangen war, ist doch klar. Auf die Krebstation komme ich ja nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer aufs Neue bewusst zu werden. Nicht dass der Sensenmann in Identitätskrisen stürzen könnte.


[ 6]Wenn ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Frau X nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht, lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.

[ 6]„Mann hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei denn … Ich hatte die Hormontherapie begonnen, um meine zweite Ehe zu retten. Den Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie sollte sie eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben? Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt, mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben. Tod, du kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich dich nie gesucht? Als ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann, wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“

[ 6]Sie redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst zu werden, das Wasser für sich behalten. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein Pyrrhussieg Liebste! Auf dem falschen Gleis nicht beschleunigen. Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“

[ 6]„Das stimmt! Dann wollte ich auch noch die beste aller Mütter werden. Und auch noch alle Menschen retten. Hatte mal eben eine Heilpraktikerausbildung absolviert, obwohl ich schon Arzt war. Durfte zwar nie praktizieren – mein Mann und meine reiche Schwiegermutter hatten es mir untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte: 'Was sollen die Leute denken? Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?' Ich und arbeiten, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Dass ich nie wusste, wie viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur darum bitten. Jetzt wird mir bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie eigenes Geld hatte – mein wirklich EIGENES Geld.“

[ 6]Auf dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.

[ 6]„Es gibt noch mehr Gründe. Aber um sie zu erkunden, musst du weg!“, betone ich langsam, „Es ist deine einzige Chance – keine Garantie, nur eine Chance – das Gleis zu wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Semaphor. Du musst jetzt in ein ganz anderes Leben springen. Jetzt! Sollte es schief gehen, sei gewiss: ich werde da sein.“

[ 6]Sie lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“

[ 6]„Das war gut“, sage ich, denn bei Krebskranken muss man paradox denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe ich vor dir durch diese Tür, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem Nierenversagen. Kehrst du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von den Kindern, vom Mann und von Muttern – wenn es sein muss, nackt und auf allen Vieren – in die freie Zeit, dann folge ich dir geduldig auf dem langen Weg. Immer in gebührendem Abstand zum Leben.“
 

Val Sidal

Mitglied
[ 6]Man unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr.

[ 6]Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region in der IK (Intensivmedizinische Kliniken GmbH) ist meine Arbeit stressiger geworden. Klassische Jobverdichtung. Dann und wann erlaube ich mir eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt. Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material – sozusagen.
[ 6]Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten – Freizeit. In der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt. Da musste ich in meiner Freizeit ran. Der gewöhnliche Krebstod aber wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus und ist wirtschaftlicher. Hier denken alle positiv.

[ 6]Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige stehen wird. Im Grunde ist es wie eine Terminvereinbarung. Nächste Woche? In fünf Jahren? In dreißig Jahren?
Hier versteht jeder die Bedeutung, das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt, überlegt sich genau, was er will.

[ 6]Wie Frau X, die gleich aus dem Morphium-schlummern wach wird, nach ihrem zweiten Rezidiv. Sie war auch vor fünf Jahren, bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon auf das Gespräch.

[ 6]Räumen wir aber zunächst ein grundsätzliches Missverständnis aus dem Weg: Krebs – das ist keine Krankheit, zumindest nicht im üblichen Sinne. Im Gegenteil. Er ist der verzweifelte Versuch des Individuums, wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben – ein Überlebenskampf auf Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren ist. Wenn das Organ erstickt. Beim Versuch seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper energiesparend. Eine clevere Strategie. Glauben sie es mir, ich muss es mir jedes Mal ansehen, bin immer dabei und bereit, meinen Job zu tun.

[ 6]Bei Frau X geht es um Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! – sie öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein – sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen, die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von ihnen erwürgt wird.

[ 6]Menschen verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Es ist effiziente Seelenökonomie. Gesund.
[ 6]Verdrängen ist wie Schubladen, die permanent zugehalten werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten. Es kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank. Wehe, die Hand ermüdet. Oder bricht.

[ 6]Mit Frau X wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird, im Alkohol- und Nikotinrausch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch, den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.

[ 6]Ich beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb – nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie schaut mich mit großen Augen an: „Wer sind Sie?“, sie reibt sich die Augen, „Was haben sie in meinem Zimmer verloren?“
So reagieren sie manchmal, wenn sie mich sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.

[ 6]„Du weißt, dass das keine Liebe ist! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt kommen – Diplomatie liegt mir nicht.

[ 6]Es gefällt mir, wie sie reagiert. Sie empört sich. Ihr durch die Lebermetastasen verursachte vergelbte Teint erfährt eine winzige Rotverschiebung: Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit. Kämpft!

[ 6]Ihr Mann, ihre Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll ich dir etwas zu lesen bringen? Entscheide! Jetzt! Mutter hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen. Mit viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast. Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug? Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht ein Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln mitgebracht. Vom Türken. Die sollen sehr gesund sein. Möchtest du? Oder doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt! Jetzt, da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie von der Gewissheit bedroht wird, dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und Zuwendung. Es ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt. Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für das Management und Betrieb im Haus und Garten. Eine sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.

[ 6]„Halt' dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe! Es ist nur schlechtes Gewissen: 'hätten wir der Mama vielleicht doch im Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen, vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin-Mama bemüht, auch um drei Uhr nachts; Mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die nichts zustande bringt; dass sie nicht faul von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama sei; dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.'“

[ 6]Sie versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es am Glanz ihrer Augen: „Wie heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund. Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind die Gifte – innerlich und äußerlich.

[ 6]Eine bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu prüfen. Adrett, seit dem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie freundlich: „Nicht weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der Patientin, „das wird schon!“ – sie spürt, dass ich da bin, verdrängt es aber. Frau X nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.

[ 6]„In L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp, und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein Wortspiel. Ihre Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun-und-Lächeln-dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde – und eine Krankheit. Eine Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund. Das Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand, sie, die Umstände und ihre Lieben immer gesorgt haben – unbewusst, aber tatkräftig, bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...

[ 6]„Ihr seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber! Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus FREIEN! Das ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung: die Selbstverarschung. Böses Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: den Verrat an Selbst. Ja – heule nur!“ Sie wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres ausgemergelten Körpers im Bett hin und her geworfen. Frau X wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin für alle Fälle bei ihr und bereit.

[ 6]„Du bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich! Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich muss innerlich lachen. Bei Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das Gegenteil von dem, was er sagt.

[ 6]„Ich quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das Fühlen der Wahrheit. Wenn es gut geht, dann wirst du sogar auf dich wütend sein. Glaub' es mir: Ich kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
[ 6]Sie hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt – übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft sie ihr eigenes Schattendasein. Ich habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen kann. Ich muss ihr die Zeit geben.


[ 6]„Hallo!“, begrüßt mich Frau X, jetzt, sechs Monate später, bei ihrem letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie lächelt.

[ 6]„Oh ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine Veränderungen an ihr. Na – wir wollen mal sehen, was dahinter steckt.

[ 6]„Bin dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.

[ 6]Es ist nicht nur so dahin gesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer, wenn nicht ich. „Warst du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.

[ 6]„Du hattest Recht. Mit allem, was du über meinen Mann und den Kindern gesagt hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich will wieder leben! Ich werde leben!!“

[ 6]Mist! Noch ist sie nicht so weit. „Will wieder leben … wenn ich das schon höre! Du liegst falsch! Du hast nichts begriffen! Du lebst jetzt, und wirst sterben – so herum wird ein Schuh daraus!“

[ 6]„Doch! Wenn ich das hinter mir habe, werde ich alles verändern.“

[ 6]„Langweile mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen. Dein Mann kommt gleich – was also hat sich geändert?“

[ 6]„Oh, das ist jetzt alles anders. Wir haben miteinander viel gesprochen und sind uns dabei sehr nahe gekommen. So gut war unser Verhältnis noch nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar, es wird nicht mehr die große Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein Heucheln mehr.“

[ 6]„Und die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“

[ 6]„Sie brauchen ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern werde!“

[ 6]„Du täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst …! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“

[ 6]„Ich lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit gekommen ist!“

[ 6]„Ich muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie weint. Nicht mehr so gequält. Das ist gut. Ich werde es ihr sagen: „Die Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss, von seiner Last befreit, sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Dein Mann und deine Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem gebrochenen Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du gehörst immer noch mir!“

[ 6]„Das verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch versteht?“

[ 6]„Dein Mann, die Kinder sind krank – sie sind nicht der Grund!“

[ 6]„Was bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“

[ 6]Sie gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt. Ihr Pferd! Pferde sind Spezialisten der Angst – ihre Rettung? Wenn sie wieder reiten wird …

[ 6]„Du kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt MUTTER. Deine MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre böse Doktor-Tochter – die sie von ihrer Depression nicht heilen will, bestraft werden muss; deine SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige ÜberMUTTER geworden ist. Wenn dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch, ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie könnte schlafen. Oder etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Oder Malen. Vielleicht schreiben.
Aber die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann lächelst du; Wenn ihr nur wüsstet, denkst du, ich bin schwach, gemein. Eine böse Mutter. Nichts.
[ 6]Eigentlich wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie in Überfluss. Und dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen Schuldigen geben: dich. Dein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen. Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder – von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt hatte. In den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt – das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres eigenen Lebens. Das hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren lassen. Dir nie verziehen.“

[ 6]Das saß. Sie zieht die Decke über den Kopf. Ich glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und sich verzeihen kann.

[ 6]Dass ich zeitgleich meinem Tagesgeschäft nachgegangen war, ist doch klar. Auf die Krebstation komme ich ja nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer aufs Neue bewusst zu werden. Nicht dass der Sensenmann in Identitätskrisen stürzen könnte.


[ 6]Wenn ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Frau X nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht, lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.

[ 6]„Mann hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei denn … Ich hatte die Hormontherapie begonnen, um meine zweite Ehe zu retten. Den Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie sollte sie eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben? Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt, mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben. Tod, du kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich dich nie gesucht? Als ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann, wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“

[ 6]Sie redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst zu werden, das Wasser für sich behalten. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein Pyrrhussieg, Liebste! Auf dem falschen Gleis nicht beschleunigen. Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“

[ 6]„Das stimmt! Dann wollte ich auch noch die beste aller Mütter werden. Und auch noch alle Menschen retten. Hatte mal eben eine Heilpraktikerausbildung absolviert, obwohl ich schon Arzt war. Durfte aber nie praktizieren – mein Mann und meine reiche Schwiegermutter hatten es mir untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte: 'Was sollen die Leute denken? Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?' Ich und arbeiten, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Dass ich nie wusste, wie viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur darum bitten. Jetzt wird mir bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie eigenes Geld hatte – mein wirklich EIGENES Geld.“

[ 6]Auf dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.

[ 6]„Es gibt noch mehr Gründe. Aber um sie zu erkunden, musst du weg!“, betone ich langsam, „Es ist deine einzige Chance – keine Garantie, nur eine Chance – das Gleis zu wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Semaphor. Du musst jetzt in ein ganz anderes Leben springen. Jetzt! Sollte es schief gehen, sei gewiss: ich werde da sein.“

[ 6]Sie lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“

[ 6]„Das war gut“, sage ich, denn bei Krebskranken muss man paradox denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe ich vor dir durch diese Tür, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem Nierenversagen. Kehrst du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von den Kindern, vom Mann und von Muttern – wenn es sein muss, nackt und auf allen Vieren – in die freie Zeit, dann folge ich dir geduldig auf dem langen Weg. Immer in gebührendem Abstand zum Leben.“
 
U

USch

Gast
Hallo Val,
sehr intensive geschriebene Geschichte zu einem tabuisierten Thema, hart an der Grenze zum Zynismus. Aber hat was, das Thema mal so anzupacken.
Gruß USch
 

Val Sidal

Mitglied
[ 6]Man unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr.

[ 6]Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region in der IK (Intensivmedizinische Kliniken GmbH) ist meine Arbeit stressiger geworden. Klassische Jobverdichtung. Dann und wann erlaube ich mir eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt. Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material – sozusagen.
[ 6]Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten – Freizeit. In der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt. Da musste ich in meiner Freizeit ran. Der gewöhnliche Krebstod aber wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus und ist wirtschaftlicher. Hier denken alle positiv.

[ 6]Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige stehen wird. Im Grunde ist es wie eine Terminvereinbarung. Nächste Woche? In fünf Jahren? In dreißig Jahren?
Hier versteht jeder die Bedeutung, das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt, überlegt sich genau, was er will.

[ 6]Wie Frau X, die gleich aus dem Morphium-schlummern wach wird, nach ihrem zweiten Rezidiv. Sie war auch vor fünf Jahren, bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon auf das Gespräch.

[ 6]Räumen wir aber zunächst ein grundsätzliches Missverständnis aus dem Weg: Krebs – das ist keine Krankheit, zumindest nicht im üblichen Sinne. Im Gegenteil. Er ist der verzweifelte Versuch des Individuums, wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben – ein Überlebenskampf auf Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren ist. Wenn das Organ erstickt. Beim Versuch seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper energiesparend. Eine clevere Strategie. Glauben sie es mir, ich muss es mir jedes Mal ansehen, bin immer dabei und bereit, meinen Job zu tun.

[ 6]Bei Frau X geht es um Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! – sie öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein – sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen, die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von ihnen erwürgt wird.

[ 6]Menschen verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Es ist effiziente Seelenökonomie. Gesund.
[ 6]Verdrängen ist wie Schubladen, die permanent zugehalten werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten. Es kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank. Wehe, die Hand ermüdet. Oder bricht.

[ 6]Mit Frau X wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird, im Alkohol- und Nikotinrausch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch, den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.

[ 6]Ich beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb – nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie schaut mich mit großen Augen an: „Wer sind Sie?“, sie reibt sich die Augen, „Was haben sie in meinem Zimmer verloren?“
So reagieren sie manchmal, wenn sie mich sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.

[ 6]„Du weißt, dass das keine Liebe ist! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt kommen – Diplomatie liegt mir nicht.

[ 6]Es gefällt mir, wie sie reagiert. Sie empört sich. Ihr durch die Lebermetastasen verursachte vergelbte Teint erfährt eine winzige Rotverschiebung: Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit. Kämpft!

[ 6]Ihr Mann, ihre Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll ich dir etwas zu lesen bringen? Entscheide! Jetzt! Mutter hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen. Mit viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast. Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug? Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht ein Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln mitgebracht. Vom Türken. Die sollen sehr gesund sein. Möchtest du? Oder doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt! Jetzt, da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie von der Gewissheit bedroht wird, dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und Zuwendung. Es ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt. Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für das Management und Betrieb im Haus und Garten. Eine sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.

[ 6]„Halt' dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe! Es ist nur schlechtes Gewissen: 'hätten wir der Mama vielleicht doch im Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen, vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin-Mama bemüht, auch um drei Uhr nachts; Mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die nichts zustande bringt; dass sie nicht faul von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama sei; dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.'“

[ 6]Sie versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es am Glanz ihrer Augen: „Wie heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund. Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind die Gifte – innerlich und äußerlich.

[ 6]Eine bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu prüfen. Adrett, seit dem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie freundlich: „Nicht weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der Patientin, „das wird schon!“ – sie spürt, dass ich da bin, verdrängt es aber. Frau X nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.

[ 6]„In L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp, und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein Wortspiel. Ihre Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun-und-Lächeln-dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde – und eine Krankheit. Eine Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund. Das Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand, sie, die Umstände und ihre Lieben immer gesorgt haben – unbewusst, aber tatkräftig, bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...

[ 6]„Ihr seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber! Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus FREIEN! Das ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung: die Selbstverarschung. Böses Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: den Verrat an Selbst. Ja – heule nur!“ Sie wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres ausgemergelten Körpers im Bett hin und her geworfen. Frau X wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin für alle Fälle bei ihr und bereit.

[ 6]„Du bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich! Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich muss innerlich lachen. Bei Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das Gegenteil von dem, was er sagt.

[ 6]„Ich quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das Fühlen der Wahrheit. Wenn es gut geht, dann wirst du sogar auf dich wütend sein. Glaub' es mir: Ich kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
[ 6]Sie hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt – übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft sie ihr eigenes Schattendasein. Ich habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen kann. Ich muss ihr die Zeit geben.


[ 6]„Hallo!“, begrüßt mich Frau X, jetzt, sechs Monate später, bei ihrer letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie lächelt.

[ 6]„Oh ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine Veränderungen an ihr. Na – wir wollen mal sehen, was dahinter steckt.

[ 6]„Bin dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.

[ 6]Es ist nicht nur so dahin gesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer, wenn nicht ich. „Warst du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.

[ 6]„Du hattest Recht. Mit allem, was du über meinen Mann und den Kindern gesagt hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich will wieder leben! Ich werde leben!!“

[ 6]Mist! Noch ist sie nicht so weit. „Will wieder leben … wenn ich das schon höre! Du liegst falsch! Du hast nichts begriffen! Du lebst jetzt, und wirst sterben – so herum wird ein Schuh daraus!“

[ 6]„Doch! Wenn ich das hinter mir habe, werde ich alles verändern.“

[ 6]„Langweile mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen. Dein Mann kommt gleich – was also hat sich geändert?“

[ 6]„Oh, das ist jetzt alles anders. Wir haben miteinander viel gesprochen und sind uns dabei sehr nahe gekommen. So gut war unser Verhältnis noch nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar, es wird nicht mehr die große Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein Heucheln mehr.“

[ 6]„Und die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“

[ 6]„Sie brauchen ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern werde!“

[ 6]„Du täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst …! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“

[ 6]„Ich lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit gekommen ist!“

[ 6]„Ich muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie weint. Nicht mehr so gequält. Das ist gut. Ich werde es ihr sagen: „Die Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss, von seiner Last befreit, sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Dein Mann und deine Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem gebrochenen Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du gehörst immer noch mir!“

[ 6]„Das verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch versteht?“

[ 6]„Dein Mann, die Kinder sind krank – sie sind nicht der Grund!“

[ 6]„Was bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“

[ 6]Sie gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt. Ihr Pferd! Pferde sind Spezialisten der Angst – ihre Rettung? Wenn sie wieder reiten wird …

[ 6]„Du kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt MUTTER. Deine MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre böse Doktor-Tochter – die sie von ihrer Depression nicht heilen will, bestraft werden muss; deine SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige ÜberMUTTER geworden ist. Wenn dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch, ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie könnte schlafen. Oder etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Oder Malen. Vielleicht schreiben.
Aber die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann lächelst du; Wenn ihr nur wüsstet, denkst du, ich bin schwach, gemein. Eine böse Mutter. Nichts.
[ 6]Eigentlich wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie in Überfluss. Und dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen Schuldigen geben: dich. Dein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen. Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder – von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt hatte. In den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt – das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres eigenen Lebens. Das hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren lassen. Dir nie verziehen.“

[ 6]Das saß. Sie zieht die Decke über den Kopf. Ich glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und sich verzeihen kann.

[ 6]Dass ich zeitgleich meinem Tagesgeschäft nachgegangen war, ist doch klar. Auf die Krebstation komme ich ja nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer aufs Neue bewusst zu werden. Nicht dass der Sensenmann in Identitätskrisen stürzen könnte.


[ 6]Wenn ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Frau X nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht, lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.

[ 6]„Mann hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei denn … Ich hatte die Hormontherapie begonnen, um meine zweite Ehe zu retten. Den Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie sollte sie eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben? Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt, mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben. Tod, du kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich dich nie gesucht? Als ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann, wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“

[ 6]Sie redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst zu werden, das Wasser für sich behalten. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein Pyrrhussieg, Liebste! Auf dem falschen Gleis bloß nicht beschleunigen! Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“

[ 6]„Das stimmt! Dann wollte ich auch noch die beste aller Mütter werden. Und auch noch alle Menschen retten. Hatte mal eben eine Heilpraktikerausbildung absolviert, obwohl ich schon Arzt war. Durfte aber nie praktizieren – mein Mann und meine reiche Schwiegermutter hatten es mir untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte: 'Was sollen die Leute denken? Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?' Ich und arbeiten, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Dass ich nie wusste, wie viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur darum bitten. Jetzt wird mir bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie eigenes Geld hatte – mein wirklich EIGENES Geld.“

[ 6]Auf dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.

[ 6]„Es gibt noch mehr Gründe. Aber um sie zu erkunden, musst du weg!“, betone ich langsam, „Es ist deine einzige Chance – keine Garantie, nur eine Chance – das Gleis zu wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Semaphor. Du musst jetzt in ein ganz anderes Leben springen. Jetzt! Sollte es schief gehen, sei gewiss: ich werde da sein.“

[ 6]Sie lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“

[ 6]„Das war gut“, sage ich, denn bei Krebskranken muss man paradox denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe ich vor dir durch diese Tür, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem Nierenversagen. Kehrst du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von den Kindern, vom Mann und von Muttern – wenn es sein muss, nackt und auf allen Vieren – in die freie Zeit, dann folge ich dir geduldig auf dem langen Weg. Immer in gebührendem Abstand zum Leben.“
 

Val Sidal

Mitglied
[ 6]Man unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr.

[ 6]Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region in der IK (Intensivmedizinische Kliniken GmbH) ist meine Arbeit stressiger geworden. Klassische Jobverdichtung. Dann und wann erlaube ich mir eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt. Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material – sozusagen.
[ 6]Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten – Freizeit. In der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt. Da musste ich in meiner Freizeit ran. Der gewöhnliche Krebstod aber wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus und ist wirtschaftlicher. Hier denken alle positiv.

[ 6]Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige stehen wird. Im Grunde ist es wie eine Terminvereinbarung. Nächste Woche? In fünf Jahren? In dreißig Jahren?
Hier versteht jeder die Bedeutung, das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt, überlegt sich genau, was er will.

[ 6]Wie Frau X, die gleich aus dem Morphium-schlummern wach wird, nach ihrem zweiten Rezidiv. Sie war auch vor fünf Jahren, bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon auf das Gespräch.

[ 6]Räumen wir aber zunächst ein grundsätzliches Missverständnis aus dem Weg: Krebs – das ist keine Krankheit, zumindest nicht im üblichen Sinne. Im Gegenteil. Er ist der verzweifelte Versuch des Individuums, wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben – ein Überlebenskampf auf Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren ist. Wenn das Organ erstickt. Beim Versuch seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper energiesparend. Eine clevere Strategie. Glauben sie es mir, ich muss es mir jedes Mal ansehen, bin immer dabei und bereit, meinen Job zu tun.

[ 6]Bei Frau X geht es um Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! – sie öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein – sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen, die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von ihnen erwürgt wird.

[ 6]Menschen verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Es ist effiziente Seelenökonomie. Gesund.
[ 6]Verdrängen ist wie Schubladen, die permanent zugehalten werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten. Es kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank. Wehe, die Hand ermüdet. Oder bricht.

[ 6]Mit Frau X wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird, im Alkohol- und Nikotinrausch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch, den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.

[ 6]Ich beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb – nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie schaut mich mit großen Augen an: „Wer sind Sie?“, sie reibt sich die Augen, „Was haben sie in meinem Zimmer verloren?“
So reagieren sie manchmal, wenn sie mich sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.

[ 6]„Du weißt, dass das keine Liebe ist! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt kommen – Diplomatie liegt mir nicht.

[ 6]Es gefällt mir, wie sie reagiert. Sie empört sich. Ihr durch die Lebermetastasen verursachte vergelbte Teint erfährt eine winzige Rotverschiebung: Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit. Kämpft!

[ 6]Ihr Mann, ihre Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll ich dir etwas zu lesen bringen? Entscheide! Jetzt! Mutter hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen. Mit viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast. Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug? Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht ein Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln mitgebracht. Vom Türken. Die sollen sehr gesund sein. Möchtest du? Oder doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt! Jetzt, da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie von der Gewissheit bedroht wird, dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und Zuwendung. Es ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt. Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für das Management und Betrieb im Haus und Garten. Eine sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.

[ 6]„Halt' dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe! Es ist nur schlechtes Gewissen: 'hätten wir der Mama vielleicht doch im Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen, vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin-Mama bemüht, auch um drei Uhr nachts; Mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die nichts zustande bringt; dass sie nicht faul von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama sei; dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.'“

[ 6]Sie versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es am Glanz ihrer Augen: „Wie heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund. Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind die Gifte – innerlich und äußerlich.

[ 6]Eine bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu prüfen. Adrett, seit dem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie freundlich: „Nicht weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der Patientin, „das wird schon!“ – sie spürt, dass ich da bin, verdrängt es aber. Frau X nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.

[ 6]„In L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp, und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein Wortspiel. Ihre Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun-und-Lächeln-dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde – und eine Krankheit. Eine Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund. Das Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand, sie, die Umstände und ihre Lieben immer gesorgt haben – unbewusst, aber tatkräftig, bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...

[ 6]„Ihr seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber! Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus FREIEN! Das ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung: die Selbstverarschung. Böses Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: den Verrat an Selbst. Ja – heule nur!“ Sie wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres ausgemergelten Körpers im Bett hin und her geworfen. Frau X wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin für alle Fälle bei ihr und bereit.

[ 6]„Du bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich! Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich muss innerlich lachen. Bei Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das Gegenteil von dem, was er sagt.

[ 6]„Ich quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das Fühlen der Wahrheit. Wenn es gut geht, dann wirst du sogar auf dich wütend sein. Glaub' es mir: Ich kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
[ 6]Sie hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt – übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft sie ihr eigenes Schattendasein. Ich habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen kann. Ich muss ihr die Zeit geben.


[ 6]„Hallo!“, begrüßt mich Frau X, jetzt, sechs Monate später, bei ihrer letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie lächelt.

[ 6]„Oh ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine Veränderungen an ihr. Na – wir wollen mal sehen, was dahinter steckt.

[ 6]„Bin dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.

[ 6]Es ist nicht nur so dahin gesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer, wenn nicht ich. „Warst du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.

[ 6]„Du hattest Recht. Mit allem, was du über meinen Mann und den Kindern gesagt hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich will wieder leben! Ich werde leben!!“

[ 6]Mist! Noch ist sie nicht so weit. „Will wieder leben … wenn ich das schon höre! Du liegst falsch! Du hast nichts begriffen! Du lebst jetzt, und wirst sterben – so herum wird ein Schuh daraus!“

[ 6]„Doch! Wenn ich das hinter mir habe, werde ich alles verändern.“

[ 6]„Langweile mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen. Dein Mann kommt gleich – was also hat sich geändert?“

[ 6]„Oh, das ist jetzt alles anders. Wir haben miteinander viel gesprochen und sind uns dabei sehr nahe gekommen. So gut war unser Verhältnis noch nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar, es wird nicht mehr die große Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein Heucheln mehr.“

[ 6]„Und die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“

[ 6]„Sie brauchen ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern werde!“

[ 6]„Du täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst …! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“

[ 6]„Ich lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit gekommen ist!“

[ 6]„Ich muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie weint. Nicht mehr so gequält. Das ist gut. Ich werde es ihr sagen: „Die Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss, von seiner Last befreit, sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Dein Mann und deine Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem gebrochenen Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du gehörst immer noch mir!“

[ 6]„Das verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch versteht?“

[ 6]„Dein Mann, die Kinder sind krank – sie sind nicht der Grund!“

[ 6]„Was bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“

[ 6]Sie gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt. Ihr Pferd! Pferde sind Spezialisten der Angst – ihre Rettung? Wenn sie wieder reiten wird …

[ 6]„Du kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt MUTTER. Deine MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre böse Doktor-Tochter – die sie von ihrer Depression nicht heilen will, bestraft werden muss; deine SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige ÜberMUTTER geworden ist. Wenn dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch, ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie könnte schlafen. Oder etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Oder Malen. Vielleicht schreiben.
Aber die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann lächelst du; Wenn ihr nur wüsstet, denkst du, ich bin schwach, gemein. Eine böse Mutter. Nichts.
[ 6]Eigentlich wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie in Überfluss. Und dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen Schuldigen geben: dich. Dein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen. Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder – von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt hatte. In den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt – das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres eigenen Lebens. Das hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren lassen. Dir nie verziehen.“

[ 6]Das saß. Sie zieht die Decke über den Kopf. Ich glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und sich verzeihen kann.

[ 6]Dass ich zeitgleich meinem Tagesgeschäft nachgegangen war, ist doch klar. Auf die Krebstation komme ich ja nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer aufs Neue bewusst zu werden. Nicht dass der Sensenmann in Identitätskrisen stürzen könnte.


[ 6]Wenn ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Frau X nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht, lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.

[ 6]„Mann hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei denn … Ich hatte die Hormontherapie begonnen, um meine zweite Ehe zu retten. Den Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie sollte sie eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben? Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt, mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben. Tod, du kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich dich nie gesucht? Als ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann, wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“

[ 6]Sie redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst zu werden, das Wasser für sich behalten. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein Pyrrhussieg, Liebste! Auf dem falschen Gleis bloß nicht beschleunigen! Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“

[ 6]„Das stimmt! Dann wollte ich auch noch die beste aller Mütter werden. Und auch noch alle Menschen retten. Hatte mal eben eine Heilpraktikerausbildung absolviert, obwohl ich schon Arzt war. Durfte aber nie praktizieren – mein Mann und meine reiche Schwiegermutter hatten es mir untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte: 'Was sollen die Leute denken? Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?' Ich und arbeiten, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Dass ich nie wusste, wie viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur darum bitten. Jetzt wird mir bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie eigenes Geld hatte – mein wirklich EIGENES Geld.“

[ 6]Auf dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.

[ 6]„Es gibt noch mehr Gründe. Aber um sie zu erkunden, musst du weg!“, betone ich langsam, „Es ist deine einzige Chance – keine Garantie, nur eine Chance – das Gleis zu wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Semaphor. Du musst jetzt in ein ganz anderes Leben springen. Jetzt! Sollte es schief gehen, sei gewiss: ich werde da sein.“

[ 6]Sie lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“

[ 6]„Das war gut“, sage ich, denn bei Krebskranken muss man paradox denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe ich vor dir durch diese Tür, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem Nierenversagen. Kehrst du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von den Kindern, vom Mann und von Muttern – wenn es sein muss, nackt und auf allen Vieren – in die freie Zeit, dann folge ich dir geduldig auf dem langen Weg. Immer mit gebührendem Abstand zum Leben.“
 

Val Sidal

Mitglied
[ 6]Man unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr.

[ 6]Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region in der IK (Intensivmedizinische Kliniken GmbH) ist meine Arbeit stressiger geworden. Klassische Jobverdichtung. Dann und wann erlaube ich mir eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt. Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material – sozusagen.
[ 6]Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten – Freizeit. In der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt. Da musste ich in meiner Freizeit ran. Der gewöhnliche Krebstod aber wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus und ist wirtschaftlicher. Hier denken alle positiv.

[ 6]Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige stehen wird. Im Grunde ist es wie eine Terminvereinbarung. Nächste Woche? In fünf Jahren? In dreißig Jahren?
Hier versteht jeder die Bedeutung, das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt, überlegt sich genau, was er will.

[ 6]Wie Frau X, die gleich aus dem Morphium-schlummern aufwachen wird, nach ihrem zweiten Rezidiv. Sie war auch vor fünf Jahren, bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon auf das Gespräch.

[ 6]Räumen wir aber zunächst ein grundsätzliches Missverständnis aus dem Weg: Krebs – das ist keine Krankheit, zumindest nicht im üblichen Sinne. Im Gegenteil. Er ist der verzweifelte Versuch des Individuums, wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben – ein Überlebenskampf auf Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren ist. Wenn das Organ erstickt. Beim Versuch seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper energiesparend. Eine clevere Strategie. Glauben sie es mir, ich muss es mir jedes Mal ansehen, bin immer dabei und bereit, meinen Job zu tun.

[ 6]Bei Frau X geht es um Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! – sie öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein – sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen, die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von ihnen erwürgt wird.

[ 6]Menschen verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Es ist effiziente Seelenökonomie. Gesund.
[ 6]Verdrängen ist wie Schubladen, die permanent zugehalten werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten. Es kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank. Wehe, die Hand ermüdet. Oder bricht.

[ 6]Mit Frau X wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird, im Alkohol- und Nikotinrausch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch, den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.

[ 6]Ich beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb – nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie schaut mich mit großen Augen an: „Wer sind Sie?“, sie reibt sich die Augen, „Was haben sie in meinem Zimmer verloren?“
So reagieren sie manchmal, wenn sie mich sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.

[ 6]„Du weißt, dass das keine Liebe ist! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt kommen – Diplomatie liegt mir nicht.

[ 6]Es gefällt mir, wie sie reagiert. Sie empört sich. Ihr vergelbter Teint – durch die Lebermetastasen verursacht – erfährt eine winzige Rotverschiebung: Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit. Kämpft!

[ 6]Ihr Mann, ihre Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll ich dir etwas zu lesen bringen? Entscheide! Jetzt! Mutter hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen. Mit viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast. Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug? Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht ein Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln mitgebracht. Vom Türken. Die sollen sehr gesund sein. Möchtest du? Oder doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt! Jetzt, da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie von der Gewissheit bedroht wird, dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und Zuwendung. Es ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt. Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für das Management und Betrieb im Haus und Garten. Eine sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.

[ 6]„Halt' dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe! Es ist nur schlechtes Gewissen: 'hätten wir der Mama vielleicht doch im Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen, vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin-Mama bemüht, auch um drei Uhr nachts; Mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die nichts zustande bringt; dass sie nicht faul von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama sei; dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.'“

[ 6]Sie versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es am Glanz ihrer Augen: „Wie heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund. Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind die Gifte – innerlich und äußerlich.

[ 6]Eine bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu prüfen. Adrett, seit dem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie freundlich: „Nicht weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der Patientin, „das wird schon!“ – sie spürt, dass ich da bin, verdrängt es aber. Frau X nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.

[ 6]„In L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp, und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein Wortspiel. Ihre Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun-und-Lächeln-dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde – und eine Krankheit. Eine Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund. Das Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand, sie, die Umstände und ihre Lieben immer gesorgt haben – unbewusst, aber tatkräftig, bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...

[ 6]„Ihr seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber! Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus FREIEN! Das ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung: die Selbstverarschung. Böses Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: den Verrat an Selbst. Ja – heule nur!“ Sie wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres ausgemergelten Körpers im Bett hin und her geworfen. Frau X wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin für alle Fälle bei ihr und bereit.

[ 6]„Du bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich! Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich muss innerlich lachen. Bei Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das Gegenteil von dem, was er sagt.

[ 6]„Ich quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das Fühlen der Wahrheit. Wenn es gut geht, dann wirst du sogar auf dich wütend sein. Glaub' es mir: Ich kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
[ 6]Sie hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt – übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft sie ihr eigenes Schattendasein. Ich habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen kann. Ich muss ihr die Zeit geben.


[ 6]„Hallo!“, begrüßt mich Frau X, jetzt, sechs Monate später, bei ihrer letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie lächelt.

[ 6]„Oh ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine Veränderungen an ihr. Na – wir wollen mal sehen, was dahinter steckt.

[ 6]„Bin dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.

[ 6]Es ist nicht nur so dahin gesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer, wenn nicht ich. „Warst du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.

[ 6]„Du hattest Recht. Mit allem, was du über meinen Mann und den Kindern gesagt hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich will wieder leben! Ich werde leben!!“

[ 6]Mist! Noch ist sie nicht so weit. „Will wieder leben … wenn ich das schon höre! Du liegst falsch! Du hast nichts begriffen! Du lebst jetzt, und wirst sterben – so herum wird ein Schuh daraus!“

[ 6]„Doch! Wenn ich das hinter mir habe, werde ich alles verändern.“

[ 6]„Langweile mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen. Dein Mann kommt gleich – was also hat sich geändert?“

[ 6]„Oh, das ist jetzt alles anders. Wir haben miteinander viel gesprochen und sind uns dabei sehr nahe gekommen. So gut war unser Verhältnis noch nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar, es wird nicht mehr die große Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein Heucheln mehr.“

[ 6]„Und die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“

[ 6]„Sie brauchen ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern werde!“

[ 6]„Du täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst …! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“

[ 6]„Ich lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit gekommen ist!“

[ 6]„Ich muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie weint. Nicht mehr so gequält. Das ist gut. Ich werde es ihr sagen: „Die Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss, von seiner Last befreit, sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Dein Mann und deine Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem gebrochenen Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du gehörst immer noch mir!“

[ 6]„Das verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch versteht?“

[ 6]„Dein Mann, die Kinder sind krank – sie sind nicht der Grund!“

[ 6]„Was bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“

[ 6]Sie gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt. Ihr Pferd! Pferde sind Spezialisten der Angst – ihre Rettung? Wenn sie wieder reiten wird …

[ 6]„Du kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt MUTTER. Deine MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre böse Doktor-Tochter – die sie von ihrer Depression nicht heilen will, bestraft werden muss; deine SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige ÜberMUTTER geworden ist. Wenn dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch, ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie könnte schlafen. Oder etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Oder Malen. Vielleicht schreiben.
Aber die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann lächelst du; Wenn ihr nur wüsstet, denkst du, ich bin schwach, gemein. Eine böse Mutter. Nichts.
[ 6]Eigentlich wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie in Überfluss. Und dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen Schuldigen geben: dich. Dein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen. Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder – von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt hatte. In den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt – das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres eigenen Lebens. Das hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren lassen. Dir nie verziehen.“

[ 6]Das saß. Sie zieht die Decke über den Kopf. Ich glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und sich verzeihen kann.

[ 6]Dass ich zeitgleich meinem Tagesgeschäft nachgegangen war, ist doch klar. Auf die Krebstation komme ich ja nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer aufs Neue bewusst zu werden. Nicht dass der Sensenmann in Identitätskrisen stürzen könnte.


[ 6]Wenn ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Frau X nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht, lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.

[ 6]„Mann hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei denn … Ich hatte die Hormontherapie begonnen, um meine zweite Ehe zu retten. Den Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie sollte sie eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben? Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt, mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben. Tod, du kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich dich nie gesucht? Als ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann, wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“

[ 6]Sie redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst zu werden, das Wasser für sich behalten. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein Pyrrhussieg, Liebste! Auf dem falschen Gleis bloß nicht beschleunigen! Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“

[ 6]„Das stimmt! Dann wollte ich auch noch die beste aller Mütter werden. Und auch noch alle Menschen retten. Hatte mal eben eine Heilpraktikerausbildung absolviert, obwohl ich schon Arzt war. Durfte aber nie praktizieren – mein Mann und meine reiche Schwiegermutter hatten es mir untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte: 'Was sollen die Leute denken? Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?' Ich und arbeiten, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Dass ich nie wusste, wie viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur darum bitten. Jetzt wird mir bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie eigenes Geld hatte – mein wirklich EIGENES Geld.“

[ 6]Auf dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.

[ 6]„Es gibt noch mehr Gründe. Aber um sie zu erkunden, musst du weg!“, betone ich langsam, „Es ist deine einzige Chance – keine Garantie, nur eine Chance – das Gleis zu wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Semaphor. Du musst jetzt in ein ganz anderes Leben springen. Jetzt! Sollte es schief gehen, sei gewiss: ich werde da sein.“

[ 6]Sie lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“

[ 6]„Das war gut“, sage ich, denn bei Krebskranken muss man paradox denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe ich vor dir durch diese Tür, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem Nierenversagen. Kehrst du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von den Kindern, vom Mann und von Muttern – wenn es sein muss, nackt und auf allen Vieren – in die freie Zeit, dann folge ich dir geduldig auf dem langen Weg. Immer mit gebührendem Abstand zum Leben.“
 

Val Sidal

Mitglied
[ 6]Man unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr.

[ 6]Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region in der IK (Intensivmedizinische Kliniken GmbH) ist meine Arbeit stressiger geworden. Klassische Jobverdichtung. Dann und wann erlaube ich mir eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt. Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material – sozusagen.
[ 6]Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten – Freizeit. In der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt. Da musste ich in meiner Freizeit ran. Der gewöhnliche Krebstod aber wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus und ist wirtschaftlicher. Hier denken alle positiv.

[ 6]Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige stehen wird. Im Grunde ist es wie eine Terminvereinbarung. Nächste Woche? In fünf Jahren? In dreißig Jahren?
Hier versteht jeder die Bedeutung, das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt, überlegt sich genau, was er will.

[ 6]Wie Frau X, die gleich aus dem Morphium-schlummern aufwachen wird, nach ihrem zweiten Rezidiv. Sie war auch vor fünf Jahren, bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon auf das Gespräch.

[ 6]Räumen wir aber zunächst ein grundsätzliches Missverständnis aus dem Weg: Krebs – das ist keine Krankheit, zumindest nicht im üblichen Sinne. Im Gegenteil. Er ist der verzweifelte Versuch des Individuums, wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben – ein Überlebenskampf auf Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren ist. Wenn das Organ erstickt. Beim Versuch seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper energiesparend. Eine clevere Strategie. Glauben sie es mir, ich muss es mir jedes Mal ansehen, bin immer dabei und bereit, meinen Job zu tun.

[ 6]Bei Frau X geht es um Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! – sie öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein – sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen, die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von ihnen erwürgt wird.

[ 6]Menschen verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Es ist effiziente Seelenökonomie. Gesund.
[ 6]Verdrängen ist wie Schubladen, die permanent zugehalten werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten. Es kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank. Wehe, die Hand ermüdet. Oder bricht.

[ 6]Mit Frau X wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird, im Alkohol- und Nikotinrausch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch, den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.

[ 6]Ich beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb – nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie schaut mich mit großen Augen an: „Wer sind Sie?“, sie reibt sich die Augen, „Was haben Sie in meinem Zimmer verloren?“
So reagieren sie manchmal, wenn sie mich sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.

[ 6]„Du weißt, dass das keine Liebe ist! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt kommen – Diplomatie liegt mir nicht.

[ 6]Es gefällt mir, wie sie reagiert. Sie empört sich. Ihr vergelbter Teint – durch die Lebermetastasen verursacht – erfährt eine winzige Rotverschiebung: Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit. Kämpft!

[ 6]Ihr Mann, ihre Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll ich dir etwas zu lesen bringen? Entscheide! Jetzt! Mutter hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen. Mit viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast. Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug? Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht ein Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln mitgebracht. Vom Türken. Die sollen sehr gesund sein. Möchtest du? Oder doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt! Jetzt, da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie von der Gewissheit bedroht wird, dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und Zuwendung. Es ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt. Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für das Management und Betrieb im Haus und Garten. Eine sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.

[ 6]„Halt' dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe! Es ist nur schlechtes Gewissen: 'hätten wir der Mama vielleicht doch im Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen, vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin-Mama bemüht, auch um drei Uhr nachts; Mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die nichts zustande bringt; dass sie nicht faul von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama sei; dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.'“

[ 6]Sie versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es am Glanz ihrer Augen: „Wie heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund. Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind die Gifte – innerlich und äußerlich.

[ 6]Eine bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu prüfen. Adrett, seit dem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie freundlich: „Nicht weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der Patientin, „das wird schon!“ – sie spürt, dass ich da bin, verdrängt es aber. Frau X nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.

[ 6]„In L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp, und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein Wortspiel. Ihre Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun-und-Lächeln-dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde – und eine Krankheit. Eine Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund. Das Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand, sie, die Umstände und ihre Lieben immer gesorgt haben – unbewusst, aber tatkräftig, bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...

[ 6]„Ihr seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber! Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus FREIEN! Das ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung: die Selbstverarschung. Böses Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: den Verrat an Selbst. Ja – heule nur!“ Sie wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres ausgemergelten Körpers im Bett hin und her geworfen. Frau X wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin für alle Fälle bei ihr und bereit.

[ 6]„Du bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich! Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich muss innerlich lachen. Bei Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das Gegenteil von dem, was er sagt.

[ 6]„Ich quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das Fühlen der Wahrheit. Wenn es gut geht, dann wirst du sogar auf dich wütend sein. Glaub' es mir: Ich kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
[ 6]Sie hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt – übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft sie ihr eigenes Schattendasein. Ich habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen kann. Ich muss ihr die Zeit geben.


[ 6]„Hallo!“, begrüßt mich Frau X, jetzt, sechs Monate später, bei ihrer letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie lächelt.

[ 6]„Oh ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine Veränderungen an ihr. Na – wir wollen mal sehen, was dahinter steckt.

[ 6]„Bin dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.

[ 6]Es ist nicht nur so dahin gesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer, wenn nicht ich. „Warst du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.

[ 6]„Du hattest Recht. Mit allem, was du über meinen Mann und den Kindern gesagt hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich will wieder leben! Ich werde leben!!“

[ 6]Mist! Noch ist sie nicht so weit. „Will wieder leben … wenn ich das schon höre! Du liegst falsch! Du hast nichts begriffen! Du lebst jetzt, und wirst sterben – so herum wird ein Schuh daraus!“

[ 6]„Doch! Wenn ich das hinter mir habe, werde ich alles verändern.“

[ 6]„Langweile mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen. Dein Mann kommt gleich – was also hat sich geändert?“

[ 6]„Oh, das ist jetzt alles anders. Wir haben miteinander viel gesprochen und sind uns dabei sehr nahe gekommen. So gut war unser Verhältnis noch nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar, es wird nicht mehr die große Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein Heucheln mehr.“

[ 6]„Und die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“

[ 6]„Sie brauchen ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern werde!“

[ 6]„Du täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst …! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“

[ 6]„Ich lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit gekommen ist!“

[ 6]„Ich muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie weint. Nicht mehr so gequält. Das ist gut. Ich werde es ihr sagen: „Die Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss, von seiner Last befreit, sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Dein Mann und deine Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem gebrochenen Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du gehörst immer noch mir!“

[ 6]„Das verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch versteht?“

[ 6]„Dein Mann, die Kinder sind krank – sie sind nicht der Grund!“

[ 6]„Was bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“

[ 6]Sie gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt. Ihr Pferd! Pferde sind Spezialisten der Angst – ihre Rettung? Wenn sie wieder reiten wird …

[ 6]„Du kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt MUTTER. Deine MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre böse Doktor-Tochter – die sie von ihrer Depression nicht heilen will, bestraft werden muss; deine SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige ÜberMUTTER geworden ist. Wenn dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch, ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie könnte schlafen. Oder etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Oder Malen. Vielleicht schreiben.
Aber die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann lächelst du; Wenn ihr nur wüsstet, denkst du, ich bin schwach, gemein. Eine böse Mutter. Nichts.
[ 6]Eigentlich wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie in Überfluss. Und dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen Schuldigen geben: dich. Dein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen. Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder – von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt hatte. In den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt – das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres eigenen Lebens. Das hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren lassen. Dir nie verziehen.“

[ 6]Das saß. Sie zieht die Decke über den Kopf. Ich glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und sich verzeihen kann.

[ 6]Dass ich zeitgleich meinem Tagesgeschäft nachgegangen war, ist doch klar. Auf die Krebstation komme ich ja nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer aufs Neue bewusst zu werden. Nicht dass der Sensenmann in Identitätskrisen stürzen könnte.


[ 6]Wenn ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Frau X nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht, lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.

[ 6]„Mann hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei denn … Ich hatte die Hormontherapie begonnen, um meine zweite Ehe zu retten. Den Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie sollte sie eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben? Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt, mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben. Tod, du kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich dich nie gesucht? Als ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann, wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“

[ 6]Sie redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst zu werden, das Wasser für sich behalten. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein Pyrrhussieg, Liebste! Auf dem falschen Gleis bloß nicht beschleunigen! Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“

[ 6]„Das stimmt! Dann wollte ich auch noch die beste aller Mütter werden. Und auch noch alle Menschen retten. Hatte mal eben eine Heilpraktikerausbildung absolviert, obwohl ich schon Arzt war. Durfte aber nie praktizieren – mein Mann und meine reiche Schwiegermutter hatten es mir untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte: 'Was sollen die Leute denken? Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?' Ich und arbeiten, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Dass ich nie wusste, wie viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur darum bitten. Jetzt wird mir bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie eigenes Geld hatte – mein wirklich EIGENES Geld.“

[ 6]Auf dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.

[ 6]„Es gibt noch mehr Gründe. Aber um sie zu erkunden, musst du weg!“, betone ich langsam, „Es ist deine einzige Chance – keine Garantie, nur eine Chance – das Gleis zu wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Semaphor. Du musst jetzt in ein ganz anderes Leben springen. Jetzt! Sollte es schief gehen, sei gewiss: ich werde da sein.“

[ 6]Sie lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“

[ 6]„Das war gut“, sage ich, denn bei Krebskranken muss man paradox denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe ich vor dir durch diese Tür, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem Nierenversagen. Kehrst du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von den Kindern, vom Mann und von Muttern – wenn es sein muss, nackt und auf allen Vieren – in die freie Zeit, dann folge ich dir geduldig auf dem langen Weg. Immer mit gebührendem Abstand zum Leben.“
 

Val Sidal

Mitglied
[ 6]Man unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr.

[ 6]Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region in der IK (Intensivmedizinische Kliniken GmbH) ist meine Arbeit stressiger geworden. Klassische Jobverdichtung. Dann und wann erlaube ich mir eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt. Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material – sozusagen.
[ 6]Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten – Freizeit. In der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt. Da musste ich in meiner Freizeit ran. Der gewöhnliche Krebstod aber wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus und ist wirtschaftlicher. Hier denken alle positiv.

[ 6]Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige stehen wird. Im Grunde ist es wie eine Terminvereinbarung. Nächste Woche? In fünf Jahren? In dreißig Jahren?
Hier versteht jeder die Bedeutung, das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt, überlegt sich genau, was er will.

[ 6]Wie Frau X, die gleich aus dem Morphium-schlummern aufwachen wird, nach ihrem zweiten Rezidiv. Sie war auch vor fünf Jahren, bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon auf das Gespräch.

[ 6]Räumen wir aber zunächst ein grundsätzliches Missverständnis aus dem Weg: Krebs – das ist keine Krankheit, zumindest nicht im üblichen Sinne. Im Gegenteil. Er ist der verzweifelte Versuch des Individuums, wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben – ein Überlebenskampf auf Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren ist. Wenn das Organ erstickt. Beim Versuch seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper energiesparend. Eine clevere Strategie. Glauben sie es mir, ich muss es mir jedes Mal ansehen, bin immer dabei und bereit, meinen Job zu tun.

[ 6]Bei Frau X geht es um Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! – sie öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein – sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen, die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von ihnen erwürgt wird.

[ 6]Menschen verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Es ist effiziente Seelenökonomie. Gesund.
[ 6]Verdrängen ist wie Schubladen, die permanent zugehalten werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten. Es kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank. Wehe, die Hand ermüdet. Oder bricht.

[ 6]Mit Frau X wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird, im Alkohol- und Nikotinrausch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch, den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.

[ 6]Ich beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb – nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie schaut mich mit großen Augen an: „Wer sind Sie?“, sie reibt sich die Augen, „Was haben Sie in meinem Zimmer verloren?“
So reagieren sie manchmal, wenn sie mich sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.

[ 6]„Du weißt, dass das keine Liebe ist! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt kommen – Diplomatie liegt mir nicht.

[ 6]Es gefällt mir, wie sie reagiert. Sie empört sich. Ihr vergelbter Teint – durch die Lebermetastasen verursacht – erfährt eine winzige Rotverschiebung: Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit. Kämpft!

[ 6]Ihr Mann, ihre Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll ich dir etwas zu lesen bringen? Entscheide! Jetzt! Mutter hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen. Mit viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast. Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug? Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht ein Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln mitgebracht. Vom Türken. Die sollen sehr gesund sein. Möchtest du? Oder doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt! Jetzt, da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie von der Gewissheit bedroht wird, dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und Zuwendung. Es ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt. Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für das Management und Betrieb im Haus und Garten. Eine sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.

[ 6]„Halt' dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe! Es ist nur schlechtes Gewissen: 'hätten wir der Mama vielleicht doch im Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen, vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin-Mama bemüht, auch um drei Uhr nachts; Mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die nichts zustande bringt; dass sie nicht faul von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama sei; dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.'“

[ 6]Sie versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es am Glanz ihrer Augen: „Wie heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund. Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind die Gifte – innerlich und äußerlich.

[ 6]Eine bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu prüfen. Adrett, seit dem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie freundlich: „Nicht weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der Patientin, „das wird schon!“ – sie spürt, dass ich da bin, verdrängt es aber. Frau X nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.

[ 6]„In L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp, und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein Wortspiel. Ihre Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun-und-Lächeln-dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde – und eine Krankheit. Eine Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund. Das Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand, sie, die Umstände und ihre Lieben immer gesorgt haben – unbewusst, aber tatkräftig, bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...

[ 6]„Ihr seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber! Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus FREIEN! Das ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung: die Selbstverarschung. Böses Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: den Verrat an Selbst. Ja – heule nur!“ Sie wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres ausgemergelten Körpers im Bett hin und her geworfen. Frau X wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin für alle Fälle bei ihr und bereit.

[ 6]„Du bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich! Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich muss innerlich lachen. Bei Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das Gegenteil von dem, was er sagt.

[ 6]„Ich quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das Fühlen der Wahrheit. Wenn es gut geht, dann wirst du sogar auf dich wütend sein. Glaub' es mir: Ich kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
[ 6]Sie hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt – übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft sie ihr eigenes Schattendasein. Ich habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen kann. Ich muss ihr die Zeit geben.


[ 6]„Hallo!“, begrüßt mich Frau X, jetzt, sechs Monate später, bei ihrer letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie lächelt.

[ 6]„Oh ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine Veränderungen an ihr. Na – wir wollen mal sehen, was dahinter steckt.

[ 6]„Bin dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.

[ 6]Es ist nicht nur so dahin gesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer, wenn nicht ich. „Warst du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.

[ 6]„Du hattest Recht. Mit allem, was du über meinen Mann und den Kindern gesagt hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich will wieder leben! Ich werde leben!!“

[ 6]Mist! Noch ist sie nicht so weit. „Will wieder leben … wenn ich das schon höre! Du liegst falsch! Du hast nichts begriffen! Du lebst jetzt, und wirst sterben – so herum wird ein Schuh daraus!“

[ 6]„Doch! Wenn ich das hinter mir habe, werde ich alles verändern.“

[ 6]„Langweile mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen. Dein Mann kommt gleich – was also hat sich geändert?“

[ 6]„Oh, das ist jetzt alles anders. Wir haben miteinander viel gesprochen und sind uns dabei sehr nahe gekommen. So gut war unser Verhältnis noch nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar, es wird nicht mehr die große Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein Heucheln mehr.“

[ 6]„Und die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“

[ 6]„Sie brauchen ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern werde!“

[ 6]„Du täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst …! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“

[ 6]„Ich lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit gekommen ist!“

[ 6]„Ich muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie weint. Nicht mehr so gequält. Das ist gut. Ich werde es ihr sagen: „Die Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss, von seiner Last befreit, sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Dein Mann und deine Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem gebrochenen Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du gehörst immer noch mir!“

[ 6]„Das verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch versteht?“

[ 6]„Dein Mann, die Kinder sind krank – sie sind nicht der Grund!“

[ 6]„Was bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“

[ 6]Sie gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt. Ihr Pferd! Pferde sind Spezialisten der Angst – ihre Rettung? Wenn sie wieder reiten wird …

[ 6]„Du kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt MUTTER. Deine MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre böse Doktor-Tochter – die sie von ihrer Depression nicht heilen will, bestraft werden muss; deine SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige ÜberMUTTER geworden ist. Wenn dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch, ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie könnte schlafen. Oder etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Oder Malen. Vielleicht schreiben.
Aber die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann lächelst du; Wenn ihr nur wüsstet, denkst du, ich bin schwach, gemein. Eine böse Mutter. Nichts.
[ 6]Eigentlich wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie in Überfluss. Und dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen Schuldigen geben: dich. Dein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen. Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder – von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt hatte. In den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt – das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres eigenen Lebens. Das hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren lassen. Dir nie verziehen.“

[ 6]Das saß. Sie zieht die Decke über den Kopf. Ich glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und sich verzeihen kann.

[ 6]Dass ich zeitgleich meinem Tagesgeschäft nachgegangen war, ist doch klar. Auf die Krebstation komme ich ja nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer aufs Neue bewusst zu werden. Nicht dass der Sensenmann in Identitätskrisen stürzen könnte.


[ 6]Wenn ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Frau X nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht, lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.

[ 6]„Man hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei denn … Ich hatte die Hormontherapie begonnen, um meine zweite Ehe zu retten. Den Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie sollte sie eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben? Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt, mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben. Tod, du kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich dich nie gesucht? Als ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann, wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“

[ 6]Sie redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst zu werden, das Wasser für sich behalten. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein Pyrrhussieg, Liebste! Auf dem falschen Gleis bloß nicht beschleunigen! Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“

[ 6]„Das stimmt! Dann wollte ich auch noch die beste aller Mütter werden. Und auch noch alle Menschen retten. Hatte mal eben eine Heilpraktikerausbildung absolviert, obwohl ich schon Arzt war. Durfte aber nie praktizieren – mein Mann und meine reiche Schwiegermutter hatten es mir untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte: 'Was sollen die Leute denken? Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?' Ich und arbeiten, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Dass ich nie wusste, wie viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur darum bitten. Jetzt wird mir bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie eigenes Geld hatte – mein wirklich EIGENES Geld.“

[ 6]Auf dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.

[ 6]„Es gibt noch mehr Gründe. Aber um sie zu erkunden, musst du weg!“, betone ich langsam, „Es ist deine einzige Chance – keine Garantie, nur eine Chance – das Gleis zu wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Semaphor. Du musst jetzt in ein ganz anderes Leben springen. Jetzt! Sollte es schief gehen, sei gewiss: ich werde da sein.“

[ 6]Sie lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“

[ 6]„Das war gut“, sage ich, denn bei Krebskranken muss man paradox denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe ich vor dir durch diese Tür, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem Nierenversagen. Kehrst du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von den Kindern, vom Mann und von Muttern – wenn es sein muss, nackt und auf allen Vieren – in die freie Zeit, dann folge ich dir geduldig auf dem langen Weg. Immer mit gebührendem Abstand zum Leben.“
 

Val Sidal

Mitglied
USch,

danke für den Kommentar.
Die in der Geschichte eingefangene Erfahrung wird wohl sehr individuell sein.
Deine Beobachtung trifft freilich zu: es klingt schon beinahe zynisch. In der Situation der Protagonistin, wenn angesichts ihres ruinierten Körpers, ihrer geschundenen Seele, sie ihrem sehr wahrscheinlichen Ende entgegen denkt, könnte der gewählte Ton des Selbstgesprächs plausibel sein -- denke ich.

Danke fürs Lesen.
 

Val Sidal

Mitglied
[ 6]Man unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr.

[ 6]Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region in der IK (Intensivmedizinische Kliniken GmbH) ist meine Arbeit stressiger geworden. Klassische Jobverdichtung. Dann und wann erlaube ich mir eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt. Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material – sozusagen.
[ 6]Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten – Freizeit. In der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt. Da musste ich in meiner Freizeit ran. Der gewöhnliche Krebstod aber wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus und ist wirtschaftlicher. Hier denken alle positiv.

[ 6]Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige stehen wird. Im Grunde ist es wie eine Terminvereinbarung. Nächste Woche? In fünf Jahren? In dreißig Jahren?
Hier versteht jeder die Bedeutung, das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt, überlegt sich genau, was er will.

[ 6]Wie Frau X, die gleich aus dem Morphium-schlummern aufwachen wird, nach ihrem zweiten Rezidiv. Sie war auch vor fünf Jahren, bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon auf das Gespräch.

[ 6]Räumen wir aber zunächst ein grundsätzliches Missverständnis aus dem Weg: Krebs – das ist keine Krankheit, zumindest nicht im üblichen Sinne. Im Gegenteil. Er ist der verzweifelte Versuch des Individuums, wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben – ein Überlebenskampf auf Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren ist. Wenn das Organ erstickt. Beim Versuch seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper energiesparend. Eine clevere Strategie. Glauben sie es mir, ich muss es mir jedes Mal ansehen, bin immer dabei und bereit, meinen Job zu tun.

[ 6]Bei Frau X geht es um Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! – sie öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein – sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen, die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von ihnen erwürgt wird.

[ 6]Menschen verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Es ist effiziente Seelenökonomie. Gesund.
[ 6]Verdrängen ist wie Schubladen, die permanent zugehalten werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten. Es kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank. Wehe, die Hand ermüdet. Oder bricht.

[ 6]Mit Frau X wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird, im Alkohol- und Nikotinrausch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch, den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.

[ 6]Ich beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb – nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie schaut mich mit großen Augen an: „Wer sind Sie?“, sie reibt sich die Augen, „Was haben Sie in meinem Zimmer verloren?“
So reagieren sie manchmal, wenn sie mich sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.

[ 6]„Du weißt, dass das keine Liebe ist! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt kommen – Diplomatie liegt mir nicht.

[ 6]Es gefällt mir, wie sie reagiert. Sie empört sich. Ihr vergelbter Teint – durch die Lebermetastasen verursacht – erfährt eine winzige Rotverschiebung: Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit. Kämpft!

[ 6]Ihr Mann, ihre Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll ich dir ein Buch, eine Zeitung bringen? Entscheide! Jetzt! Mutter hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen. Mit viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast. Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug? Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht ein Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln mitgebracht. Vom Türken. Die sollen sehr gesund sein. Möchtest du? Oder doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt! Jetzt, da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie von der Gewissheit bedroht wird, dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und Zuwendung. Es ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt. Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für das Management und Betrieb im Haus und Garten. Eine sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.

[ 6]„Halt' dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe! Es ist nur schlechtes Gewissen: 'hätten wir der Mama vielleicht doch im Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen, vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin-Mama bemüht, auch um drei Uhr nachts; Mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die nichts zustande bringt; dass sie nicht faul von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama sei; dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.'“

[ 6]Sie versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es am Glanz ihrer Augen: „Wie heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund. Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind die Gifte – innerlich und äußerlich.

[ 6]Eine bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu prüfen. Adrett, seit dem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie freundlich: „Nicht weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der Patientin, „das wird schon!“ – sie spürt, dass ich da bin, verdrängt es aber. Frau X nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.

[ 6]„In L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp, und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein Wortspiel. Ihre Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun-und-Lächeln-dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde – und eine Krankheit. Eine Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund. Das Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand, sie, die Umstände und ihre Lieben immer gesorgt haben – unbewusst, aber tatkräftig, bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...

[ 6]„Ihr seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber! Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus FREIEN! Das ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung: die Selbstverarschung. Böses Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: den Verrat an Selbst. Ja – heule nur!“ Sie wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres ausgemergelten Körpers im Bett hin und her geworfen. Frau X wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin für alle Fälle bei ihr und bereit.

[ 6]„Du bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich! Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich muss innerlich lachen. Bei Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das Gegenteil von dem, was er sagt.

[ 6]„Ich quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das Fühlen der Wahrheit. Wenn es gut geht, dann wirst du sogar auf dich wütend sein. Glaub' es mir: Ich kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
[ 6]Sie hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt – übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft sie ihr eigenes Schattendasein. Ich habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen kann. Ich muss ihr die Zeit geben.


[ 6]„Hallo!“, begrüßt mich Frau X, jetzt, sechs Monate später, bei ihrer letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie lächelt.

[ 6]„Oh ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine Veränderungen an ihr. Na – wir wollen mal sehen, was dahinter steckt.

[ 6]„Bin dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.

[ 6]Es ist nicht nur so dahin gesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer, wenn nicht ich. „Warst du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.

[ 6]„Du hattest Recht. Mit allem, was du über meinen Mann und den Kindern gesagt hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich will wieder leben! Ich werde leben!!“

[ 6]Mist! Noch ist sie nicht so weit. „Will wieder leben … wenn ich das schon höre! Du liegst falsch! Du hast nichts begriffen! Du lebst jetzt, und wirst sterben – so herum wird ein Schuh daraus!“

[ 6]„Doch! Wenn ich das hinter mir habe, werde ich alles verändern.“

[ 6]„Langweile mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen. Dein Mann kommt gleich – was also hat sich geändert?“

[ 6]„Oh, das ist jetzt alles anders. Wir haben miteinander viel gesprochen und sind uns dabei sehr nahe gekommen. So gut war unser Verhältnis noch nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar, es wird nicht mehr die große Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein Heucheln mehr.“

[ 6]„Und die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“

[ 6]„Sie brauchen ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern werde!“

[ 6]„Du täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst …! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“

[ 6]„Ich lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit gekommen ist!“

[ 6]„Ich muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie weint. Nicht mehr so gequält. Das ist gut. Ich werde es ihr sagen: „Die Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss, von seiner Last befreit, sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Dein Mann und deine Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem gebrochenen Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du gehörst immer noch mir!“

[ 6]„Das verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch versteht?“

[ 6]„Dein Mann, die Kinder sind krank – sie sind nicht der Grund!“

[ 6]„Was bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“

[ 6]Sie gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt. Ihr Pferd! Pferde sind Spezialisten der Angst – ihre Rettung? Wenn sie wieder reiten wird …

[ 6]„Du kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt MUTTER. Deine MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre böse Doktor-Tochter – die sie von ihrer Depression nicht heilen will, bestraft werden muss; deine SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige ÜberMUTTER geworden ist. Wenn dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch, ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie könnte schlafen. Oder etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Oder Malen. Vielleicht schreiben.
Aber die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann lächelst du; Wenn ihr nur wüsstet, denkst du, ich bin schwach, gemein. Eine böse Mutter. Nichts.
[ 6]Eigentlich wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie in Überfluss. Und dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen Schuldigen geben: dich. Dein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen. Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder – von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt hatte. In den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt – das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres eigenen Lebens. Das hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren lassen. Dir nie verziehen.“

[ 6]Das saß. Sie zieht die Decke über den Kopf. Ich glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und sich verzeihen kann.

[ 6]Dass ich zeitgleich meinem Tagesgeschäft nachgegangen war, ist doch klar. Auf die Krebstation komme ich ja nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer aufs Neue bewusst zu werden. Nicht dass der Sensenmann in Identitätskrisen stürzen könnte.


[ 6]Wenn ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Frau X nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht, lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.

[ 6]„Man hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei denn … Ich hatte die Hormontherapie begonnen, um meine zweite Ehe zu retten. Den Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie sollte sie eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben? Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt, mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben. Tod, du kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich dich nie gesucht? Als ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann, wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“

[ 6]Sie redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst zu werden, das Wasser für sich behalten. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein Pyrrhussieg, Liebste! Auf dem falschen Gleis bloß nicht beschleunigen! Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“

[ 6]„Das stimmt! Dann wollte ich auch noch die beste aller Mütter werden. Und auch noch alle Menschen retten. Hatte mal eben eine Heilpraktikerausbildung absolviert, obwohl ich schon Arzt war. Durfte aber nie praktizieren – mein Mann und meine reiche Schwiegermutter hatten es mir untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte: 'Was sollen die Leute denken? Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?' Ich und arbeiten, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Dass ich nie wusste, wie viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur darum bitten. Jetzt wird mir bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie eigenes Geld hatte – mein wirklich EIGENES Geld.“

[ 6]Auf dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.

[ 6]„Es gibt noch mehr Gründe. Aber um sie zu erkunden, musst du weg!“, betone ich langsam, „Es ist deine einzige Chance – keine Garantie, nur eine Chance – das Gleis zu wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Semaphor. Du musst jetzt in ein ganz anderes Leben springen. Jetzt! Sollte es schief gehen, sei gewiss: ich werde da sein.“

[ 6]Sie lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“

[ 6]„Das war gut“, sage ich, denn bei Krebskranken muss man paradox denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe ich vor dir durch diese Tür, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem Nierenversagen. Kehrst du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von den Kindern, vom Mann und von Muttern – wenn es sein muss, nackt und auf allen Vieren – in die freie Zeit, dann folge ich dir geduldig auf dem langen Weg. Immer mit gebührendem Abstand zum Leben.“
 

Val Sidal

Mitglied
[ 6]Man unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr.

[ 6]Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region in der IK (Intensivmedizinische Kliniken GmbH) ist meine Arbeit stressiger geworden. Klassische Jobverdichtung. Dann und wann erlaube ich mir eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt. Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material – sozusagen.
[ 6]Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten – Freizeit. In der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt. Da musste ich in meiner Freizeit ran. Der gewöhnliche Krebstod aber wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus und ist wirtschaftlicher. Hier denken alle positiv.

[ 6]Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige stehen wird. Im Grunde ist es wie eine Terminvereinbarung. Nächste Woche? In fünf Jahren? In dreißig Jahren?
Hier versteht jeder die Bedeutung, das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt, überlegt sich genau, was er will.

[ 6]Wie Frau X, die gleich aus dem Morphium-schlummern aufwachen wird, nach ihrem zweiten Rezidiv. Sie war auch vor fünf Jahren, bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon auf das Gespräch.

[ 6]Krebs ist keine Krankheit, zumindest nicht im üblichen Sinne. Im Gegenteil. Frau X – ihr Körper – versucht verzweifelt, wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben: ein Überlebenskampf auf Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren geht. Wenn die Organe ersticken. Um seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper energiesparend. Eine clevere Strategie. Ich muss es mir jedes Mal ansehen, bin immer dabei und bereit, meinen Job zu tun.

[ 6]Bei Frau X sind es die Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! – sie öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein – sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen, die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von ihnen erwürgt wird.

[ 6]Menschen verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Es ist effiziente Seelenökonomie. Gesund.
[ 6]Verdrängen ist wie Schubladen, die permanent zugehalten werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten. Es kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank. Wehe, die Hand ermüdet. Oder bricht.

[ 6]Mit Frau X wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird, im Alkohol- und Nikotinrausch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch, den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.

[ 6]Ich beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb – nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie schaut mich mit großen Augen an: „Wer sind Sie?“, sie reibt sich die Augen, „Was haben Sie in meinem Zimmer verloren?“
So reagieren sie manchmal, wenn sie mich sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.

[ 6]„Du weißt, dass das keine Liebe ist! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt kommen – Diplomatie liegt mir nicht.

[ 6]Es gefällt mir, wie sie reagiert. Sie empört sich. Ihr vergelbter Teint – durch die Lebermetastasen verursacht – erfährt eine winzige Rotverschiebung: Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit. Kämpft!

[ 6]Ihr Mann, ihre Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll ich dir ein Buch, eine Zeitung bringen? Entscheide! Jetzt! Mutter hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen. Mit viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast. Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug? Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht ein Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln mitgebracht. Vom Türken. Die sollen sehr gesund sein. Möchtest du? Oder doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt! Jetzt, da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie von der Gewissheit bedroht wird, dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und Zuwendung. Es ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt. Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für das Management und Betrieb im Haus und Garten. Eine sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.

[ 6]„Halt' dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe! Es ist nur schlechtes Gewissen: 'hätten wir der Mama vielleicht doch im Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen, vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin-Mama bemüht, auch um drei Uhr nachts; Mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die nichts zustande bringt; dass sie nicht faul von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama sei; dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.'“

[ 6]Sie versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es am Glanz ihrer Augen: „Wie heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund. Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind die Gifte – innerlich und äußerlich.

[ 6]Eine bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu prüfen. Adrett, seit dem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie freundlich: „Nicht weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der Patientin, „das wird schon!“ – sie spürt, dass ich da bin, verdrängt es aber. Frau X nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.

[ 6]„In L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp, und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein Wortspiel. Ihre Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun-und-Lächeln-dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde – und eine Krankheit. Eine Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund. Das Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand, sie, die Umstände und ihre Lieben immer gesorgt haben – unbewusst, aber tatkräftig, bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...

[ 6]„Ihr seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber! Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus FREIEN! Das ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung: die Selbstverarschung. Böses Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: den Verrat an Selbst. Ja – heule nur!“ Sie wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres ausgemergelten Körpers im Bett hin und her geworfen. Frau X wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin für alle Fälle bei ihr und bereit.

[ 6]„Du bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich! Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich muss innerlich lachen. Bei Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das Gegenteil von dem, was er sagt.

[ 6]„Ich quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das Fühlen der Wahrheit. Wenn es gut geht, dann wirst du sogar auf dich wütend sein. Glaub' es mir: Ich kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
[ 6]Sie hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt – übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft sie ihr eigenes Schattendasein. Ich habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen kann. Ich muss ihr die Zeit geben.


[ 6]„Hallo!“, begrüßt mich Frau X, jetzt, sechs Monate später, bei ihrer letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie lächelt.

[ 6]„Oh ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine Veränderungen an ihr. Na – wir wollen mal sehen, was dahinter steckt.

[ 6]„Bin dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.

[ 6]Es ist nicht nur so dahin gesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer, wenn nicht ich. „Warst du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.

[ 6]„Du hattest Recht. Mit allem, was du über meinen Mann und den Kindern gesagt hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich will wieder leben! Ich werde leben!!“

[ 6]Mist! Noch ist sie nicht so weit. „Will wieder leben … wenn ich das schon höre! Du liegst falsch! Du hast nichts begriffen! Du lebst jetzt, und wirst sterben – so herum wird ein Schuh daraus!“

[ 6]„Doch! Wenn ich das hinter mir habe, werde ich alles verändern.“

[ 6]„Langweile mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen. Dein Mann kommt gleich – was also hat sich geändert?“

[ 6]„Oh, das ist jetzt alles anders. Wir haben miteinander viel gesprochen und sind uns dabei sehr nahe gekommen. So gut war unser Verhältnis noch nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar, es wird nicht mehr die große Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein Heucheln mehr.“

[ 6]„Und die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“

[ 6]„Sie brauchen ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern werde!“

[ 6]„Du täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst …! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“

[ 6]„Ich lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit gekommen ist!“

[ 6]„Ich muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie weint. Nicht mehr so gequält. Das ist gut. Ich werde es ihr sagen: „Die Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss, von seiner Last befreit, sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Dein Mann und deine Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem gebrochenen Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du gehörst immer noch mir!“

[ 6]„Das verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch versteht?“

[ 6]„Dein Mann, die Kinder sind krank – sie sind nicht der Grund!“

[ 6]„Was bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“

[ 6]Sie gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt. Ihr Pferd! Pferde sind Spezialisten der Angst – ihre Rettung? Wenn sie wieder reiten wird …

[ 6]„Du kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt MUTTER. Deine MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre böse Doktor-Tochter – die sie von ihrer Depression nicht heilen will, bestraft werden muss; deine SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige ÜberMUTTER geworden ist. Wenn dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch, ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie könnte schlafen. Oder etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Oder Malen. Vielleicht schreiben.
Aber die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann lächelst du; Wenn ihr nur wüsstet, denkst du, ich bin schwach, gemein. Eine böse Mutter. Nichts.
[ 6]Eigentlich wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie in Überfluss. Und dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen Schuldigen geben: dich. Dein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen. Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder – von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt hatte. In den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt – das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres eigenen Lebens. Das hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren lassen. Dir nie verziehen.“

[ 6]Das saß. Sie zieht die Decke über den Kopf. Ich glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und sich verzeihen kann.

[ 6]Dass ich zeitgleich meinem Tagesgeschäft nachgegangen war, ist doch klar. Auf die Krebstation komme ich ja nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer aufs Neue bewusst zu werden. Nicht dass der Sensenmann in Identitätskrisen stürzen könnte.


[ 6]Wenn ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Frau X nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht, lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.

[ 6]„Man hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei denn … Ich hatte die Hormontherapie begonnen, um meine zweite Ehe zu retten. Den Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie sollte sie eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben? Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt, mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben. Tod, du kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich dich nie gesucht? Als ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann, wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“

[ 6]Sie redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst zu werden, das Wasser für sich behalten. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein Pyrrhussieg, Liebste! Auf dem falschen Gleis bloß nicht beschleunigen! Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“

[ 6]„Das stimmt! Dann wollte ich auch noch die beste aller Mütter werden. Und auch noch alle Menschen retten. Hatte mal eben eine Heilpraktikerausbildung absolviert, obwohl ich schon Arzt war. Durfte aber nie praktizieren – mein Mann und meine reiche Schwiegermutter hatten es mir untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte: 'Was sollen die Leute denken? Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?' Ich und arbeiten, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Dass ich nie wusste, wie viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur darum bitten. Jetzt wird mir bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie eigenes Geld hatte – mein wirklich EIGENES Geld.“

[ 6]Auf dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.

[ 6]„Es gibt noch mehr Gründe. Aber um sie zu erkunden, musst du weg!“, betone ich langsam, „Es ist deine einzige Chance – keine Garantie, nur eine Chance – das Gleis zu wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Semaphor. Du musst jetzt in ein ganz anderes Leben springen. Jetzt! Sollte es schief gehen, sei gewiss: ich werde da sein.“

[ 6]Sie lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“

[ 6]„Das war gut“, sage ich, denn bei Krebskranken muss man paradox denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe ich vor dir durch diese Tür, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem Nierenversagen. Kehrst du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von den Kindern, vom Mann und von Muttern – wenn es sein muss, nackt und auf allen Vieren – in die freie Zeit, dann folge ich dir geduldig auf dem langen Weg. Immer mit gebührendem Abstand zum Leben.“
 

Val Sidal

Mitglied
[ 6]Man unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr.

[ 6]Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region in der IK (Intensivmedizinische Kliniken GmbH) ist meine Arbeit stressiger geworden. Klassische Jobverdichtung. Dann und wann erlaube ich mir eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt. Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material – sozusagen.
[ 6]Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten – Freizeit. In der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt. Da musste ich in meiner Freizeit ran. Der gewöhnliche Krebstod aber wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus und ist wirtschaftlicher. Hier denken alle positiv.

[ 6]Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige stehen wird. Im Grunde ist es wie eine Terminvereinbarung. Nächste Woche? In fünf Jahren? In dreißig Jahren?
Hier versteht jeder die Bedeutung, das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt, überlegt sich genau, was er will.

[ 6]Wie Frau X, die gleich aus dem Morphium-schlummern aufwachen wird, nach ihrem zweiten Rezidiv. Sie war auch vor fünf Jahren, bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon auf das Gespräch.

[ 6]Krebs ist keine Krankheit. Im Gegenteil. Frau X – ihr Körper – versucht verzweifelt, wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben: ein Überlebenskampf auf Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren geht. Wenn die Organe ersticken. Um seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper energiesparend. Eine clevere Strategie. Ich muss es mir jedes Mal ansehen, bin immer dabei und bereit, meinen Job zu tun.

[ 6]Bei Frau X sind es die Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! – sie öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein – sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen, die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von ihnen erwürgt wird.

[ 6]Menschen verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Es ist effiziente Seelenökonomie. Gesund.
[ 6]Verdrängen ist wie Schubladen, die permanent zugehalten werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten. Es kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank. Wehe, die Hand ermüdet. Oder bricht.

[ 6]Mit Frau X wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird, im Alkohol- und Nikotinrausch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch, den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.

[ 6]Ich beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb – nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie schaut mich mit großen Augen an: „Wer sind Sie?“, sie reibt sich die Augen, „Was haben Sie in meinem Zimmer verloren?“
So reagieren sie manchmal, wenn sie mich sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.

[ 6]„Du weißt, dass das keine Liebe ist! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt kommen – Diplomatie liegt mir nicht.

[ 6]Es gefällt mir, wie sie reagiert. Sie empört sich. Ihr vergelbter Teint – durch die Lebermetastasen verursacht – erfährt eine winzige Rotverschiebung: Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit. Kämpft!

[ 6]Ihr Mann, ihre Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll ich dir ein Buch, eine Zeitung bringen? Entscheide! Jetzt! Mutter hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen. Mit viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast. Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug? Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht ein Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln mitgebracht. Vom Türken. Die sollen sehr gesund sein. Möchtest du? Oder doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt! Jetzt, da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie von der Gewissheit bedroht wird, dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und Zuwendung. Es ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt. Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für das Management und Betrieb im Haus und Garten. Eine sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.

[ 6]„Halt' dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe! Es ist nur schlechtes Gewissen: 'hätten wir der Mama vielleicht doch im Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen, vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin-Mama bemüht, auch um drei Uhr nachts; Mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die nichts zustande bringt; dass sie nicht faul von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama sei; dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.'“

[ 6]Sie versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es am Glanz ihrer Augen: „Wie heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund. Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind die Gifte – innerlich und äußerlich.

[ 6]Eine bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu prüfen. Adrett, seit dem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie freundlich: „Nicht weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der Patientin, „das wird schon!“ – sie spürt, dass ich da bin, verdrängt es aber. Frau X nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.

[ 6]„In L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp, und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein Wortspiel. Ihre Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun-und-Lächeln-dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde – und eine Krankheit. Eine Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund. Das Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand, sie, die Umstände und ihre Lieben immer gesorgt haben – unbewusst, aber tatkräftig, bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...

[ 6]„Ihr seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber! Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus FREIEN! Das ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung: die Selbstverarschung. Böses Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: den Verrat an Selbst. Ja – heule nur!“ Sie wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres ausgemergelten Körpers im Bett hin und her geworfen. Frau X wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin für alle Fälle bei ihr und bereit.

[ 6]„Du bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich! Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich muss innerlich lachen. Bei Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das Gegenteil von dem, was er sagt.

[ 6]„Ich quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das Fühlen der Wahrheit. Wenn es gut geht, dann wirst du sogar auf dich wütend sein. Glaub' es mir: Ich kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
[ 6]Sie hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt – übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft sie ihr eigenes Schattendasein. Ich habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen kann. Ich muss ihr die Zeit geben.


[ 6]„Hallo!“, begrüßt mich Frau X, jetzt, sechs Monate später, bei ihrer letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie lächelt.

[ 6]„Oh ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine Veränderungen an ihr. Na – wir wollen mal sehen, was dahinter steckt.

[ 6]„Bin dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.

[ 6]Es ist nicht nur so dahin gesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer, wenn nicht ich. „Warst du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.

[ 6]„Du hattest Recht. Mit allem, was du über meinen Mann und den Kindern gesagt hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich will wieder leben! Ich werde leben!!“

[ 6]Mist! Noch ist sie nicht so weit. „Will wieder leben … wenn ich das schon höre! Du liegst falsch! Du hast nichts begriffen! Du lebst jetzt, und wirst sterben – so herum wird ein Schuh daraus!“

[ 6]„Doch! Wenn ich das hinter mir habe, werde ich alles verändern.“

[ 6]„Langweile mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen. Dein Mann kommt gleich – was also hat sich geändert?“

[ 6]„Oh, das ist jetzt alles anders. Wir haben miteinander viel gesprochen und sind uns dabei sehr nahe gekommen. So gut war unser Verhältnis noch nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar, es wird nicht mehr die große Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein Heucheln mehr.“

[ 6]„Und die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“

[ 6]„Sie brauchen ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern werde!“

[ 6]„Du täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst …! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“

[ 6]„Ich lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit gekommen ist!“

[ 6]„Ich muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie weint. Nicht mehr so gequält. Das ist gut. Ich werde es ihr sagen: „Die Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss, von seiner Last befreit, sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Dein Mann und deine Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem gebrochenen Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du gehörst immer noch mir!“

[ 6]„Das verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch versteht?“

[ 6]„Dein Mann, die Kinder sind krank – sie sind nicht der Grund!“

[ 6]„Was bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“

[ 6]Sie gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt. Ihr Pferd! Wenn es um Angst geht, sind Pferde Experten – ihre Rettung? Wenn sie wieder reiten wird …

[ 6]„Du kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt MUTTER. Deine MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre böse Doktor-Tochter – die sie von ihrer Depression nicht heilen will, bestraft werden muss; deine SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige ÜberMUTTER geworden ist. Wenn dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch, ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie könnte schlafen. Oder etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Oder Malen. Vielleicht schreiben.
Aber die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann lächelst du; Wenn ihr nur wüsstet, denkst du, ich bin schwach, gemein. Eine böse Mutter. Nichts.
[ 6]Eigentlich wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie in Überfluss. Und dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen Schuldigen geben: dich. Dein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen. Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder – von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt hatte. In den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt – das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres eigenen Lebens. Das hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren lassen. Dir nie verziehen.“

[ 6]Das saß. Sie zieht die Decke über den Kopf. Ich glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und sich verzeihen kann.

[ 6]Dass ich zeitgleich meinem Tagesgeschäft nachgegangen war, ist doch klar. Auf die Krebstation komme ich ja nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer aufs Neue bewusst zu werden. Nicht dass der Sensenmann in Identitätskrisen stürzen könnte.


[ 6]Wenn ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Frau X nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht, lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.

[ 6]„Man hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei denn … Ich hatte die Hormontherapie begonnen, um meine zweite Ehe zu retten. Den Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie sollte sie eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben? Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt, mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben. Tod, du kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich dich nie gesucht? Als ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann, wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“

[ 6]Sie redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst zu werden, das Wasser für sich behalten. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein Pyrrhussieg, Liebste! Auf dem falschen Gleis bloß nicht beschleunigen! Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“

[ 6]„Das stimmt! Dann wollte ich auch noch die beste aller Mütter werden. Und auch noch alle Menschen retten. Hatte mal eben eine Heilpraktikerausbildung absolviert, obwohl ich schon Arzt war. Durfte aber nie praktizieren – mein Mann und meine reiche Schwiegermutter hatten es mir untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte: 'Was sollen die Leute denken? Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?' Ich und arbeiten, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Dass ich nie wusste, wie viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur darum bitten. Jetzt wird mir bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie eigenes Geld hatte – mein wirklich EIGENES Geld.“

[ 6]Auf dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.

[ 6]„Es gibt noch mehr Gründe. Aber um sie zu erkunden, musst du weg!“, betone ich langsam, „Es ist deine einzige Chance – keine Garantie, nur eine Chance – das Gleis zu wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Semaphor. Du musst jetzt in ein ganz anderes Leben springen. Jetzt! Sollte es schief gehen, sei gewiss: ich werde da sein.“

[ 6]Sie lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“

[ 6]„Das war gut“, sage ich, denn bei Krebskranken muss man paradox denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe ich vor dir durch diese Tür, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem Nierenversagen. Kehrst du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von den Kindern, vom Mann und von Muttern – wenn es sein muss, nackt und auf allen Vieren – in die freie Zeit, dann folge ich dir geduldig auf dem langen Weg. Immer mit gebührendem Abstand zum Leben.“
 

Val Sidal

Mitglied
[ 6]Man unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr.

[ 6]Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region in der IK (Intensivmedizinische Kliniken GmbH) ist meine Arbeit stressiger geworden. Klassische Jobverdichtung. Dann und wann erlaube ich mir eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt. Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material – sozusagen.
[ 6]Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten – Freizeit. In der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt. Da musste ich in meiner Freizeit ran. Der gewöhnliche Krebstod aber wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus und ist wirtschaftlicher. Hier denken alle positiv.

[ 6]Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige stehen wird. Im Grunde ist es wie eine Terminvereinbarung. Nächste Woche? In fünf Jahren? In dreißig Jahren?
Hier versteht jeder die Bedeutung, das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt, überlegt sich genau, was er will.

[ 6]Wie Frau X, die gleich aus dem Morphium-schlummern aufwachen wird, nach ihrem zweiten Rezidiv. Sie war auch vor fünf Jahren, bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon auf das Gespräch.

[ 6]Krebs ist keine Krankheit. Im Gegenteil. Frau X – ihr Körper – versucht verzweifelt, wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben: ein Überlebenskampf auf Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren geht. Wenn die Organe ersticken. Um seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper energiesparend. Eine clevere Strategie. Ich muss es mir jedes Mal ansehen, bin immer dabei und bereit, meinen Job zu tun.

[ 6]Bei Frau X sind es die Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! – sie öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein – sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen, die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von ihnen erwürgt wird.

[ 6]Menschen verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Es ist effiziente Seelenökonomie. Gesund.
[ 6]Verdrängen ist wie Schubladen, die permanent zugehalten werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten. Es kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank. Wehe, die Hand ermüdet. Oder bricht.

[ 6]Mit Frau X wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird, im Alkohol- und Nikotinrausch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch, den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.

[ 6]Ich beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb – nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie schaut mich mit großen Augen an: „Wer sind Sie?“, sie reibt sich die Augen, „Was haben Sie in meinem Zimmer verloren?“
So reagieren sie manchmal, wenn sie mich sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.

[ 6]„Du weißt, dass das keine Liebe ist! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt kommen – Diplomatie liegt mir nicht.

[ 6]Es gefällt mir, wie sie reagiert. Sie empört sich. Ihr vergelbter Teint – durch die Lebermetastasen verursacht – erfährt eine winzige Rotverschiebung: Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit. Kämpft!

[ 6]Ihr Mann, ihre Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll ich dir ein Buch, eine Zeitung bringen? Entscheide! Jetzt! Mutter hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen. Mit viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast. Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug? Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht ein Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln mitgebracht. Vom Türken. Die sollen sehr gesund sein. Möchtest du? Oder doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt! Jetzt, da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie von der Gewissheit bedroht wird, dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und Zuwendung. Es ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt. Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für das Management und Betrieb im Haus und Garten. Eine sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.

[ 6]„Halt' dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe! Es ist nur schlechtes Gewissen: 'hätten wir der Mama vielleicht doch im Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen, vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin-Mama bemüht, auch um drei Uhr nachts; Mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die nichts zustande bringt; dass sie nicht faul von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama sei; dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.'“

[ 6]Sie versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es am Glanz ihrer Augen: „Wie heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund. Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind die Gifte – innerlich und äußerlich.

[ 6]Eine bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu prüfen. Adrett, seit dem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie freundlich: „Nicht weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der Patientin, „das wird schon!“ – sie spürt, dass ich da bin, verdrängt es aber. Frau X nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.

[ 6]„In L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp, und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein Wortspiel. Ihre Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun-und-Lächeln-dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde – und eine Krankheit. Eine Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund. Das Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand, sie, die Umstände und ihre Lieben immer gesorgt haben – unbewusst, aber tatkräftig, bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...

[ 6]„Ihr seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber! Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus FREIEN! Das ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung: die Selbstverarschung. Böses Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: den Verrat an Selbst. Ja – heule nur!“ Sie wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres ausgemergelten Körpers im Bett hin und her geworfen. Frau X wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin für alle Fälle bei ihr und bereit.

[ 6]„Du bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich! Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich muss innerlich lachen. Bei Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das Gegenteil von dem, was er sagt.

[ 6]„Ich quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das Fühlen der Wahrheit. Wenn es gut geht, dann wirst du sogar auf dich wütend sein. Glaub' es mir: Ich kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
[ 6]Sie hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt – übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft sie ihr eigenes Schattendasein. Ich habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen kann. Ich muss ihr die Zeit geben.


[ 6]„Hallo!“, begrüßt mich Frau X, jetzt, sechs Monate später, bei ihrer letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie lächelt.

[ 6]„Oh ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine Veränderungen an ihr. Na – wir wollen mal sehen, was dahinter steckt.

[ 6]„Bin dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.

[ 6]Es ist nicht nur so dahin gesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer, wenn nicht ich. „Warst du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.

[ 6]„Du hattest Recht. Mit allem, was du über meinen Mann und den Kindern gesagt hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich will wieder leben! Ich werde leben!!“

[ 6]Mist! Noch ist sie nicht so weit. „Will wieder leben … wenn ich das schon höre! Du liegst falsch! Du hast nichts begriffen! Du lebst jetzt, und wirst sterben – so herum wird ein Schuh daraus!“

[ 6]„Doch! Wenn ich das hinter mir habe, werde ich alles verändern.“

[ 6]„Langweile mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen. Dein Mann kommt gleich – was also hat sich geändert?“

[ 6]„Oh, das ist jetzt alles anders. Wir haben miteinander viel gesprochen und sind uns dabei sehr nahe gekommen. So gut war unser Verhältnis noch nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar, es wird nicht mehr die große Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein Heucheln mehr.“

[ 6]„Und die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“

[ 6]„Sie brauchen ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern werde!“

[ 6]„Du täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst …! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“

[ 6]„Ich lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit gekommen ist!“

[ 6]„Ich muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie weint. Nicht mehr so gequält. Das ist gut. Ich werde es ihr sagen: „Die Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss, von seiner Last befreit, sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Dein Mann und deine Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem gebrochenen Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du gehörst immer noch mir!“

[ 6]„Das verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch versteht?“

[ 6]„Dein Mann, die Kinder sind krank – sie sind nicht der Grund!“

[ 6]„Was bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“

[ 6]Sie gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt. Ihr Pferd! Wenn es um Angst geht, sind Pferde Experten – ihre Rettung? Wenn sie wieder reiten wird …

[ 6]„Du kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt MUTTER. Deine MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre böse Doktor-Tochter – die sie von ihrer Depression nicht heilen will, bestraft werden muss; deine SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige ÜberMUTTER geworden ist. Wenn dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch, ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie könnte schlafen. Oder etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Oder Malen. Vielleicht schreiben.
Aber die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann lächelst du; Wenn ihr nur wüsstet, denkst du, ich bin schwach, gemein. Eine böse Mutter. Nichts.
[ 6]Eigentlich wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie in Überfluss. Und dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen Schuldigen geben: dich. Dein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen. Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder – von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt hatte. In den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt – das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres eigenen Lebens. Das hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren lassen. Dir nie verziehen.“

[ 6]Das saß. Sie zieht die Decke über den Kopf. Ich glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und sich verzeihen kann.

[ 6]Dass ich zeitgleich meinem Tagesgeschäft nachgegangen war, ist doch klar. Auf die Krebstation komme ich ja nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer aufs Neue bewusst zu werden. Nicht dass der Sensenmann in Identitätskrisen stürzen könnte.


[ 6]Wenn ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Frau X nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht, lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.

[ 6]„Man hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei denn … Ich hatte die Hormontherapie begonnen, um meine zweite Ehe zu retten. Den Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie sollte sie eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben? Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt, mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben. Tod, du kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich dich nie gesucht? Als ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann, wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“

[ 6]Sie redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst zu werden, das Wasser für sich behalten. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein Pyrrhussieg, Liebste! Auf dem falschen Gleis bloß nicht beschleunigen! Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“

[ 6]„Das stimmt! Dann wollte ich auch noch die beste aller Mütter werden. Und auch noch alle Menschen retten. Hatte mal eben eine Heilpraktikerausbildung absolviert, obwohl ich schon Arzt war. Durfte aber nie praktizieren – mein Mann und meine reiche Schwiegermutter hatten es mir untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte: 'Was sollen die Leute denken? Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?' Ich und arbeiten, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Dass ich nie wusste, wie viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur darum bitten. Jetzt wird mir bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie eigenes Geld hatte – mein wirklich EIGENES Geld.“

[ 6]Auf dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.

[ 6]„Es gibt noch mehr Gründe. Aber um sie zu erkunden, musst du weg!“, betone ich langsam, „Es ist deine einzige Chance – keine Garantie, nur eine Chance – das Gleis zu wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Semaphor. Du musst jetzt in ein ganz anderes Leben springen. Jetzt! Sollte es schief gehen, sei gewiss: ich werde da sein.“

[ 6]Sie lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“

[ 6]„Das war gut“, sage ich, denn bei Krebsmenschen muss man paradox denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe ich vor dir durch diese Tür, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem Nierenversagen. Kehrst du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von den Kindern, vom Mann und von Muttern – wenn es sein muss, nackt und auf allen Vieren – in die freie Zeit, dann folge ich dir geduldig auf dem langen Weg. Immer mit gebührendem Abstand zum Leben.“
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Val, die Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Gnadenloser Realismus, kein Tabu wird ausgelassen und das ewig neue Mutter-Thema hast Du gut verpackt.
Erinnert mich an "Schattenmund" von Marie Cardinal, in dem Roman befreit sich eine Frau (schwer erkrankt) von ihrer Mutter durch eine sieben Jahre dauernde Psychoanalyse.
LG Doc
 

Val Sidal

Mitglied
[ 6]Man unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr.

[ 6]Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region in der IK (Intensivmedizinische Kliniken GmbH) ist meine Arbeit stressiger geworden. Klassische Jobverdichtung. Dann und wann erlaube ich mir eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt. Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material – sozusagen.
[ 6]Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten – Freizeit. In der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt. Da musste ich in meiner Freizeit ran. Der gewöhnliche Krebstod aber wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus und ist wirtschaftlicher. Hier denken alle positiv.

[ 6]Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige stehen wird. Im Grunde ist es wie eine Terminvereinbarung. Nächste Woche? In fünf Jahren? In dreißig Jahren?
Hier versteht jeder die Bedeutung, das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt, überlegt sich genau, was er will.

[ 6]Wie Nicks Frau, die gleich aus dem Morphium-schlummern aufwachen wird, nach ihrem zweiten Rezidiv. Sie war auch vor fünf Jahren, bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon auf das Gespräch.

[ 6]Krebs ist keine Krankheit. Im Gegenteil. Nicks Frau – ihr Körper – versucht verzweifelt, wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben: ein Überlebenskampf auf Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren geht. Wenn die Organe ersticken. Um seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper energiesparend. Eine clevere Strategie. Ich muss es mir jedes Mal ansehen, bin immer dabei und bereit, meinen Job zu tun.

[ 6]Bei Nicks Frau sind es die Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! – sie öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein – sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen, die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von ihnen erwürgt wird.

[ 6]Menschen verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Es ist effiziente Seelenökonomie. Gesund.
[ 6]Verdrängen ist wie Schubladen, die permanent zugehalten werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten. Es kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank. Wehe, die Hand ermüdet. Oder bricht.

[ 6]Mit Nicks Frau wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird, im Alkohol- und Nikotinrausch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch, den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.

[ 6]Ich beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb – nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie schaut mich mit großen Augen an: „Wer sind Sie?“, sie reibt sich die Augen, „Was haben Sie in meinem Zimmer verloren?“
So reagieren sie manchmal, wenn sie mich sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.

[ 6]„Du weißt, dass das keine Liebe ist! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt kommen – Diplomatie liegt mir nicht.

[ 6]Es gefällt mir, wie sie reagiert. Sie empört sich. Ihr vergelbter Teint – durch die Lebermetastasen verursacht – erfährt eine winzige Rotverschiebung: Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit. Kämpft!

[ 6]Nick, die Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll ich dir ein Buch, eine Zeitung bringen? Entscheide! Jetzt! Mutter hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen. Mit viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast. Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug? Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht ein Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln mitgebracht. Vom Türken. Die sollen sehr gesund sein. Möchtest du? Oder doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt! Jetzt, da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie von der Gewissheit bedroht wird, dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und Zuwendung. Es ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt. Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für das Management und Betrieb im Haus und Garten. Eine sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.

[ 6]„Halt' dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe! Es ist nur schlechtes Gewissen: 'hätten wir der Mama vielleicht doch im Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen, vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin-Mama bemüht, auch um drei Uhr nachts; Mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die nichts zustande bringt; dass sie nicht faul von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama sei; dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.'“

[ 6]Sie versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es am Glanz ihrer Augen: „Wie heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund. Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind die Gifte – innerlich und äußerlich.

[ 6]Eine bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu prüfen. Adrett, seit dem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie freundlich: „Nicht weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der Patientin, „das wird schon!“ – sie spürt, dass ich da bin, verdrängt es aber. Nicks Frau nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.

[ 6]„In L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp, und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein Wortspiel. Ihre Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun-und-Lächeln-dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde – und eine Krankheit. Eine Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund. Das Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand, sie, die Umstände und ihre Lieben immer gesorgt haben – unbewusst, aber tatkräftig, bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...

[ 6]„Ihr seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber! Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus FREIEN! Das ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung: die Selbstverarschung. Böses Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: den Verrat an Selbst. Ja – heule nur!“ Sie wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres ausgemergelten Körpers im Bett hin und her geworfen. Nicks Frau wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin für alle Fälle bei ihr und bereit.

[ 6]„Du bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich! Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich muss innerlich lachen. Bei Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das Gegenteil von dem, was er sagt.

[ 6]„Ich quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das Fühlen der Wahrheit. Wenn es gut geht, dann wirst du sogar auf dich wütend sein. Glaub' es mir: Ich kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
[ 6]Sie hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt – übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft sie ihr eigenes Schattendasein. Ich habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen kann. Ich muss ihr die Zeit geben.


[ 6]„Hallo!“, begrüßt mich Nicks Frau, jetzt, sechs Monate später, bei ihrer letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie lächelt.

[ 6]„Oh ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine Veränderungen an ihr. Na – wir wollen mal sehen, was dahinter steckt.

[ 6]„Bin dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.

[ 6]Es ist nicht nur so dahin gesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer, wenn nicht ich. „Warst du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.

[ 6]„Du hattest Recht. Mit allem, was du über Nick und den Kindern gesagt hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich will wieder leben! Ich werde leben!!“

[ 6]Mist! Noch ist sie nicht so weit. „Will wieder leben … wenn ich das schon höre! Du liegst falsch! Du hast nichts begriffen! Du lebst jetzt, und wirst sterben – so herum wird ein Schuh daraus!“

[ 6]„Doch! Wenn ich das hinter mir habe, werde ich alles verändern.“

[ 6]„Langweile mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen. Nick kommt gleich – was also hat sich geändert?“

[ 6]„Oh, das ist jetzt alles anders. Wir haben miteinander viel gesprochen und sind uns dabei sehr nahe gekommen. So gut war unser Verhältnis noch nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar, es wird nicht mehr die große Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein Heucheln mehr.“

[ 6]„Und die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“

[ 6]„Sie brauchen ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern werde!“

[ 6]„Du täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst …! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“

[ 6]„Ich lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit gekommen ist!“

[ 6]„Ich muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie weint. Nicht mehr so gequält. Das ist gut. Ich werde es ihr sagen: „Die Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss, von seiner Last befreit, sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Dein Mann und deine Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem gebrochenen Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du gehörst immer noch mir!“

[ 6]„Das verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch versteht?“

[ 6]„Dein Mann, die Kinder sind krank – sie sind nicht der Grund!“

[ 6]„Was bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“

[ 6]Sie gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt. Ihr Pferd! Wenn es um Angst geht, sind Pferde Experten – ihre Rettung? Wenn sie wieder reiten wird …

[ 6]„Du kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt MUTTER. Deine MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre böse Doktor-Tochter – die sie von ihrer Depression nicht heilen will, bestraft werden muss; Omas böser Blick, ihre Stimme: Da darfst du nicht anfassen! Böser Finger! Der Teufel wird dich holen! Deine SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige ÜberMUTTER geworden ist. Wenn dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch, ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie könnte schlafen. Oder etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Oder Malen. Vielleicht schreiben.
Aber die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann lächelst du; Wenn ihr nur wüsstet, denkst du, ich bin schwach, gemein. Eine böse Mutter. Nichts.
[ 6]Eigentlich wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie in Überfluss. Und dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen Schuldigen geben: dich. Dein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen. Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder – von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt hatte. In den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt – das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres eigenen Lebens. Das hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren lassen. Dir nie verziehen.“

[ 6]Das saß. Sie zieht die Decke über den Kopf. Ich glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und sich verzeihen kann.

[ 6]Dass ich zeitgleich meinem Tagesgeschäft nachgegangen war, ist doch klar. Auf die Krebstation komme ich ja nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer aufs Neue bewusst zu werden. Nicht dass der Sensenmann in Identitätskrisen stürzen könnte.


[ 6]Wenn ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Nicks Frau nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht, lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.

[ 6]„Man hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei denn … Ich hatte die Hormontherapie begonnen, um meine zweite Ehe zu retten. Den Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie sollte sie eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben? Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt, mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben. Tod, du kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich dich nie gesucht? Als ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann, wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“

[ 6]Sie redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst zu werden, das Wasser für sich behalten. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein Pyrrhussieg, Liebste! Auf dem falschen Gleis bloß nicht beschleunigen! Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“

[ 6]„Das stimmt! Dann wollte ich auch noch die beste aller Mütter werden. Und auch noch alle Menschen retten. Hatte mal eben eine Heilpraktikerausbildung absolviert, obwohl ich schon Arzt war. Durfte aber nie praktizieren – mein Mann und meine reiche Schwiegermutter hatten es mir untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte: 'Was sollen die Leute denken? Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?' Ich und arbeiten, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Dass ich nie wusste, wie viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur darum bitten. Jetzt wird mir bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie eigenes Geld hatte – mein wirklich EIGENES Geld.“

[ 6]Auf dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.

[ 6]„Es gibt noch mehr Gründe. Aber um sie zu erkunden, musst du weg!“, betone ich langsam, „Es ist deine einzige Chance – keine Garantie, nur eine Chance – das Gleis zu wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Semaphor. Du musst jetzt in ein ganz anderes Leben springen. Jetzt! Sollte es schief gehen, sei gewiss: ich werde da sein.“

[ 6]Sie lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“

[ 6]„Das war gut“, sage ich, denn bei Krebsmenschen muss man paradox denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe ich vor dir durch diese Tür, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem Nierenversagen. Kehrst du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von den Kindern und von Muttern, von Nick – wenn es sein muss, nackt und auf allen Vieren – in die freie Zeit, dann folge ich dir geduldig auf dem langen Weg. Immer mit gebührendem Abstand zum Leben.“
 

Val Sidal

Mitglied
[ 6]Man unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr.

[ 6]Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region in der IK (Intensivmedizinische Kliniken GmbH) ist meine Arbeit stressiger geworden. Klassische Jobverdichtung. Dann und wann erlaube ich mir eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt. Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material – sozusagen.
[ 6]Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten – Freizeit. In der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt. Da musste ich in meiner Freizeit ran. Der gewöhnliche Krebstod aber wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus und ist wirtschaftlicher. Hier denken alle positiv.

[ 6]Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige stehen wird. Im Grunde ist es wie eine Terminvereinbarung. Nächste Woche? In fünf Jahren? In dreißig Jahren?
Hier versteht jeder die Bedeutung, das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt, überlegt sich genau, was er will.

[ 6]Wie Nicks Frau, die gleich aus dem Morphium-schlummern aufwachen wird, nach ihrem zweiten Rezidiv. Sie war auch vor fünf Jahren, bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon auf das Gespräch.

[ 6]Krebs ist keine Krankheit. Im Gegenteil. Nicks Frau – ihr Körper – versucht verzweifelt, wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben: ein Überlebenskampf auf Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren geht. Wenn die Organe ersticken. Um seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper energiesparend. Eine clevere Strategie. Ich muss es mir jedes Mal ansehen, bin immer dabei und bereit, meinen Job zu tun.

[ 6]Bei Nicks Frau sind es die Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! – sie öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein – sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen, die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von ihnen erwürgt wird.

[ 6]Menschen verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Es ist effiziente Seelenökonomie. Gesund.
[ 6]Verdrängen ist wie Schubladen, die permanent zugehalten werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten. Es kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank. Wehe, die Hand ermüdet. Oder bricht.

[ 6]Mit Nicks Frau wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird, im Alkohol- und Nikotinrausch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch, den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.

[ 6]Ich beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb – nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie schaut mich mit großen Augen an: „Wer sind Sie?“, sie reibt sich die Augen, „Was haben Sie in meinem Zimmer verloren?“
So reagieren sie manchmal, wenn sie mich sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.

[ 6]„Du weißt, dass das keine Liebe ist! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt kommen – Diplomatie liegt mir nicht.

[ 6]Es gefällt mir, wie sie reagiert. Sie empört sich. Ihr vergelbter Teint – durch die Lebermetastasen verursacht – erfährt eine winzige Rotverschiebung: Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit. Kämpft!

[ 6]Nick, die Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll ich dir ein Buch, eine Zeitung bringen? Entscheide! Jetzt! Mutter hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen. Mit viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast. Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug? Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht ein Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln mitgebracht. Vom Türken. Die sollen sehr gesund sein. Möchtest du? Oder doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt! Jetzt, da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie von der Gewissheit bedroht wird, dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und Zuwendung. Es ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt. Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für das Management und Betrieb im Haus und Garten. Eine sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.

[ 6]„Halt' dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe! Es ist nur schlechtes Gewissen: 'hätten wir der Mama vielleicht doch im Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen, vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin-Mama bemüht, auch um drei Uhr nachts; Mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die nichts zustande bringt; dass sie nicht faul von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama sei; dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.'“

[ 6]Sie versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es am Glanz ihrer Augen: „Wie heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund. Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind die Gifte – innerlich und äußerlich.

[ 6]Eine bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu prüfen. Adrett, seit dem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie freundlich: „Nicht weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der Patientin, „das wird schon!“ – sie spürt, dass ich da bin, verdrängt es aber. Nicks Frau nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.

[ 6]„In L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp, und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein Wortspiel. Ihre Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun-und-Lächeln-dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde – und eine Krankheit. Eine Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund. Das Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand, sie, die Umstände und ihre Lieben immer gesorgt haben – unbewusst, aber tatkräftig, bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...

[ 6]„Ihr seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber! Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus FREIEN! Das ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung: die Selbstverarschung. Böses Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: den Verrat an Selbst. Ja – heule nur!“ Sie wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres ausgemergelten Körpers im Bett hin und her geworfen. Nicks Frau wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin für alle Fälle bei ihr und bereit.

[ 6]„Du bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich! Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich muss innerlich lachen. Bei Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das Gegenteil von dem, was er sagt.

[ 6]„Ich quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das Fühlen der Wahrheit. Wenn es gut geht, dann wirst du sogar auf dich wütend sein. Glaub' es mir: Ich kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
[ 6]Sie hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt – übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft sie ihr eigenes Schattendasein. Ich habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen kann. Ich muss ihr die Zeit geben.


[ 6]„Hallo!“, begrüßt mich Nicks Frau, jetzt, sechs Monate später, bei ihrer letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie lächelt.

[ 6]„Oh ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine Veränderungen an ihr. Na – wir wollen mal sehen, was dahinter steckt.

[ 6]„Bin dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.

[ 6]Es ist nicht nur so dahin gesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer, wenn nicht ich. „Warst du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.

[ 6]„Du hattest Recht. Mit allem, was du über Nick und den Kindern gesagt hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich will wieder leben! Ich werde leben!!“

[ 6]Mist! Noch ist sie nicht so weit. „Will wieder leben … wenn ich das schon höre! Du liegst falsch! Du hast nichts begriffen! Du lebst jetzt, und wirst sterben – so herum wird ein Schuh daraus!“

[ 6]„Doch! Wenn ich das hinter mir habe, werde ich alles verändern.“

[ 6]„Langweile mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen. Nick kommt gleich – was also hat sich geändert?“

[ 6]„Oh, das ist jetzt alles anders. Wir haben miteinander viel gesprochen und sind uns dabei sehr nahe gekommen. So gut war unser Verhältnis noch nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar, es wird nicht mehr die große Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein Heucheln mehr.“

[ 6]„Und die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“

[ 6]„Sie brauchen ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern werde!“

[ 6]„Du täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst …! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“

[ 6]„Ich lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit gekommen ist!“

[ 6]„Ich muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie weint. Nicht mehr so gequält. Das ist gut. Ich werde es ihr sagen: „Die Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss, von seiner Last befreit, sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Dein Mann und deine Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem gebrochenen Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du gehörst immer noch mir!“

[ 6]„Das verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch versteht?“

[ 6]„Nick und die Kinder – sind nicht der Grund!“

[ 6]„Was bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“

[ 6]Sie gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt. Ihr Pferd! Wenn es um Angst geht, sind Pferde Experten – ihre Rettung? Wenn sie wieder reiten wird …

[ 6]„Du kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt MUTTER. Deine MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre böse Doktor-Tochter – die sie von ihrer Depression nicht heilen will, bestraft werden muss; Omas böser Blick, ihre Stimme: Da darfst du nicht anfassen! Böser Finger! Der Teufel wird dich holen! Deine SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige ÜberMUTTER geworden ist. Wenn dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch, ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie könnte schlafen. Oder etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Oder Malen. Vielleicht schreiben.
Aber die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann lächelst du; Wenn ihr nur wüsstet, denkst du, ich bin schwach, gemein. Eine böse Mutter. Nicks Frau: Nichts.
[ 6]Eigentlich wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie in Überfluss. Und dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen Schuldigen geben: dich. Dein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen. Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder – von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt hatte. In den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt – das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres eigenen Lebens. Das hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren lassen. Dir nie verziehen.“

[ 6]Das saß. Sie zieht die Decke über den Kopf. Ich glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und sich verzeihen kann.

[ 6]Dass ich zeitgleich meinem Tagesgeschäft nachgegangen war, ist doch klar. Auf die Krebstation komme ich ja nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer aufs Neue bewusst zu werden. Nicht dass der Sensenmann in Identitätskrisen stürzen könnte.


[ 6]Wenn ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Nicks Frau nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht, lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.

[ 6]„Man hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei denn … Ich hatte die Hormontherapie begonnen, um meine zweite Ehe zu retten. Den Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie sollte sie eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben? Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt, mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben. Tod, du kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich dich nie gesucht? Als ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann, wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“

[ 6]Sie redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst zu werden, das Wasser für sich behalten. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein Pyrrhussieg, Liebste! Auf dem falschen Gleis bloß nicht beschleunigen! Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“

[ 6]„Das stimmt! Dann wollte ich auch noch die beste aller Mütter werden. Und auch noch alle Menschen retten. Hatte mal eben eine Heilpraktikerausbildung absolviert, obwohl ich schon Arzt war. Durfte aber nie praktizieren – mein Mann und meine reiche Schwiegermutter hatten es mir untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte: 'Was sollen die Leute denken? Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?' Ich und arbeiten, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Dass ich nie wusste, wie viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur darum bitten. Jetzt wird mir bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie eigenes Geld hatte – mein wirklich EIGENES Geld.“

[ 6]Auf dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.

[ 6]„Es gibt noch mehr Gründe. Aber um sie zu erkunden, musst du weg!“, betone ich langsam, „Es ist deine einzige Chance – keine Garantie, nur eine Chance – das Gleis zu wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Semaphor. Du musst jetzt in ein ganz anderes Leben springen. Jetzt! Sollte es schief gehen, sei gewiss: ich werde da sein.“

[ 6]Sie lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“

[ 6]„Das war gut“, sage ich, denn bei Krebsmenschen muss man paradox denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe ich vor dir durch diese Tür, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem Nierenversagen. Kehrst du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von den Kindern und von Muttern, von Nick – wenn es sein muss, nackt und auf allen Vieren – in die freie Zeit, dann folge ich dir geduldig auf dem langen Weg. Immer mit gebührendem Abstand zum Leben.“
 

Val Sidal

Mitglied
[ 6]Man unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr.

[ 6]Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region in der IK (Intensivmedizinische Kliniken GmbH) ist meine Arbeit stressiger geworden. Klassische Jobverdichtung. Dann und wann erlaube ich mir eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt. Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material – sozusagen.
[ 6]Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten – Freizeit. In der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt. Da musste ich in meiner Freizeit ran. Der gewöhnliche Krebstod aber wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus und ist wirtschaftlicher. Hier denken alle positiv.

[ 6]Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige stehen wird. Im Grunde ist es wie eine Terminvereinbarung. Nächste Woche? In fünf Jahren? In dreißig Jahren?
Hier versteht jeder die Bedeutung, das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt, überlegt sich genau, was er will.

[ 6]Wie Nicks Frau, die gleich aus dem Morphium-schlummern aufwachen wird, nach ihrem zweiten Rezidiv. Sie war auch vor fünf Jahren, bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon auf das Gespräch.

[ 6]Krebs ist keine Krankheit. Im Gegenteil. Nicks Frau – ihr Körper – versucht verzweifelt, wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben: ein Überlebenskampf auf Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren geht. Wenn die Organe ersticken. Um seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper energiesparend. Eine clevere Strategie. Ich muss es mir jedes Mal ansehen, bin immer dabei und bereit, meinen Job zu tun.

[ 6]Bei Nicks Frau sind es die Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! – sie öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein – sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen, die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von ihnen erwürgt wird.

[ 6]Menschen verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Es ist effiziente Seelenökonomie. Gesund.
[ 6]Verdrängen ist wie Schubladen, die permanent zugehalten werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten. Es kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank. Wehe, die Hand ermüdet. Oder bricht.

[ 6]Mit Nicks Frau wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird, im Alkohol- und Nikotinrausch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch, den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.

[ 6]Ich beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb – nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie schaut mich mit großen Augen an: „Wer sind Sie?“, sie reibt sich die Augen, „Was haben Sie in meinem Zimmer verloren?“
So reagieren sie manchmal, wenn sie mich sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.

[ 6]„Du weißt, dass das keine Liebe ist! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt kommen – Diplomatie liegt mir nicht.

[ 6]Ihre Empörung gefällt mir: Ihr vergelbter Teint – durch die Lebermetastasen verursacht – erfährt eine winzige Rotverschiebung. Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit. Kämpft!

[ 6]Nick, die Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll ich dir ein Buch, eine Zeitung bringen? Entscheide! Jetzt! Mutter hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen. Mit viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast. Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug? Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht ein Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln mitgebracht. Vom Türken. Die sollen sehr gesund sein. Möchtest du? Oder doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt! Jetzt, da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie von der Gewissheit bedroht wird, dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und Zuwendung. Es ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt. Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für das Management und Betrieb im Haus und Garten. Eine sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.

[ 6]„Halt' dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe! Es ist nur schlechtes Gewissen: 'hätten wir der Mama vielleicht doch im Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen, vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin-Mama bemüht, auch um drei Uhr nachts; Mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die nichts zustande bringt; dass sie nicht faul von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama sei; dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.'“

[ 6]Sie versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es am Glanz ihrer Augen: „Wie heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund. Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind die Gifte – innerlich und äußerlich.

[ 6]Eine bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu prüfen. Adrett, seit dem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie freundlich: „Nicht weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der Patientin, „das wird schon!“ – sie spürt, dass ich da bin, verdrängt es aber. Nicks Frau nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.

[ 6]„In L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp, und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein Wortspiel. Ihre Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun-und-Lächeln-dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde – und eine Krankheit. Eine Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund. Das Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand, sie, die Umstände und ihre Lieben immer gesorgt haben – unbewusst, aber tatkräftig, bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...

[ 6]„Ihr seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber! Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus FREIEN! Das ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung: die Selbstverarschung. Böses Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: den Verrat an Selbst. Ja – heule nur!“ Sie wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres ausgemergelten Körpers im Bett hin und her geworfen. Nicks Frau wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin für alle Fälle bei ihr und bereit.

[ 6]„Du bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich! Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich muss innerlich lachen. Bei Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das Gegenteil von dem, was er sagt.

[ 6]„Ich quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das Fühlen der Wahrheit. Wenn es gut geht, dann wirst du sogar auf dich wütend sein. Glaub' es mir: Ich kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
[ 6]Sie hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt – übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft sie ihr eigenes Schattendasein. Ich habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen kann. Ich muss ihr die Zeit geben.


[ 6]„Hallo!“, begrüßt mich Nicks Frau, jetzt, sechs Monate später, bei ihrer letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie lächelt.

[ 6]„Oh ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine Veränderungen an ihr. Na – wir wollen mal sehen, was dahinter steckt.

[ 6]„Bin dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.

[ 6]Es ist nicht nur so dahin gesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer, wenn nicht ich. „Warst du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.

[ 6]„Du hattest Recht. Mit allem, was du über Nick und den Kindern gesagt hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich will wieder leben! Ich werde leben!!“

[ 6]Mist! Noch ist sie nicht so weit. „Will wieder leben … wenn ich das schon höre! Du liegst falsch! Du hast nichts begriffen! Du lebst jetzt, und wirst sterben – so herum wird ein Schuh daraus!“

[ 6]„Doch! Wenn ich das hinter mir habe, werde ich alles verändern.“

[ 6]„Langweile mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen. Nick kommt gleich – was also hat sich geändert?“

[ 6]„Oh, das ist jetzt alles anders. Wir haben miteinander viel gesprochen und sind uns dabei sehr nahe gekommen. So gut war unser Verhältnis noch nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar, es wird nicht mehr die große Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein Heucheln mehr.“

[ 6]„Und die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“

[ 6]„Sie brauchen ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern werde!“

[ 6]„Du täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst …! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“

[ 6]„Ich lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit gekommen ist!“

[ 6]„Ich muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie weint. Nicht mehr so gequält. Das ist gut. Ich werde es ihr sagen: „Die Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss, von seiner Last befreit, sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Dein Mann und deine Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem gebrochenen Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du gehörst immer noch mir!“

[ 6]„Das verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch versteht?“

[ 6]„Nick und die Kinder – sind nicht der Grund!“

[ 6]„Was bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“

[ 6]Sie gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt. Ihr Pferd! Wenn es um Angst geht, sind Pferde Experten – ihre Rettung? Wenn sie wieder reiten wird …

[ 6]„Du kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt MUTTER. Deine MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre böse Doktor-Tochter – die sie von ihrer Depression nicht heilen will, bestraft werden muss; Omas böser Blick, ihre Stimme: Da darfst du nicht anfassen! Böser Finger! Der Teufel wird dich holen! Deine SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige ÜberMUTTER geworden ist. Wenn dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch, ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie könnte schlafen. Oder etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Oder Malen. Vielleicht schreiben.
Aber die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann lächelst du; Wenn ihr nur wüsstet, denkst du, ich bin schwach, gemein. Eine böse Mutter. Nicks Frau: Nichts.
[ 6]Eigentlich wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie in Überfluss. Und dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen Schuldigen geben: dich. Dein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen. Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder – von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt hatte. In den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt – das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres eigenen Lebens. Das hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren lassen. Dir nie verziehen.“

[ 6]Das saß. Sie zieht die Decke über den Kopf. Ich glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und sich verzeihen kann.

[ 6]Dass ich zeitgleich meinem Tagesgeschäft nachgegangen war, ist doch klar. Auf die Krebstation komme ich ja nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer aufs Neue bewusst zu werden. Nicht dass der Sensenmann in Identitätskrisen stürzen könnte.


[ 6]Wenn ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Nicks Frau nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht, lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.

[ 6]„Man hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei denn … Ich hatte die Hormontherapie begonnen, um meine zweite Ehe zu retten. Den Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie sollte sie eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben? Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt, mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben. Tod, du kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich dich nie gesucht? Als ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann, wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“

[ 6]Sie redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst zu werden, das Wasser für sich behalten. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein Pyrrhussieg, Liebste! Auf dem falschen Gleis bloß nicht beschleunigen! Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“

[ 6]„Das stimmt! Dann wollte ich auch noch die beste aller Mütter werden. Und auch noch alle Menschen retten. Hatte mal eben eine Heilpraktikerausbildung absolviert, obwohl ich schon Arzt war. Durfte aber nie praktizieren – mein Mann und meine reiche Schwiegermutter hatten es mir untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte: 'Was sollen die Leute denken? Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?' Ich und arbeiten, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Dass ich nie wusste, wie viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur darum bitten. Jetzt wird mir bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie eigenes Geld hatte – mein wirklich EIGENES Geld.“

[ 6]Auf dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.

[ 6]„Es gibt noch mehr Gründe. Aber um sie zu erkunden, musst du weg!“, betone ich langsam, „Es ist deine einzige Chance – keine Garantie, nur eine Chance – das Gleis zu wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Semaphor. Du musst jetzt in ein ganz anderes Leben springen. Jetzt! Sollte es schief gehen, sei gewiss: ich werde da sein.“

[ 6]Sie lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“

[ 6]„Das war gut“, sage ich, denn bei Krebsmenschen muss man paradox denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe ich vor dir durch diese Tür, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem Nierenversagen. Kehrst du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von den Kindern und von Muttern, von Nick – wenn es sein muss, nackt und auf allen Vieren – in die freie Zeit, dann folge ich dir geduldig auf dem langen Weg. Immer mit gebührendem Abstand zum Leben.“
 

Val Sidal

Mitglied
Doc,

danke für den positiven Kommentar.
Du schreibst:
... kein Tabu wird ausgelassen und das ewig neue Mutter-Thema hast Du gut verpackt.
... einige Tabus hatte ich selbst zensiert. In der aktuellen Version habe ich eins mehr, das mir essenziell erscheint, doch noch zugelassen.
Danke auch für den Lesetipp -- Marie Cardinal kannte ich nicht.
 
S

Steky

Gast
Wow, ziemlich emotionale Geschichte, die du da geschrieben hast. Ich beschäftige mich auch mit dem Konig aller Krankheiten: Krebs. In vielen Ländern ist er schon die häufigste Todesart - noch vor Herzversagen. Ich denke, dass kommt einfach von dem ganzen Stress und den Fabriken und den CO2 Ausstoß, natürlich auch vom Rauchen. Das ist eine Krankheit, vor der man richtig angst haben muss, weil sie - vorallem in den westlichen Ländern - grassiert.

Nun zu deiner Geschichte: Ich habe - fast - nichts zu meckern. Aufgefallen ist mir nur eines. Du schreibst: "Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken"

Man fragt sich, wie sich "ficken" und die weiberfreie Zone verbinden lässt. Vielleicht ist das aber auch anders gemeint. Ansonsten - klasse Geschichte. LG Steky
 

Val Sidal

Mitglied
[ 6]Man unterstellt mir Boshaftigkeit, Hinterhältigkeit. Unwissende halten mich für ungerecht. Greise für gnädig. Eltern für grausam und Kinder für gemein. Nichts davon ist richtig – und doch alles wahr.

[ 6]Seit der Zusammenführung aller Intensivstationen der Region in der IK (Intensivmedizinische Kliniken GmbH) ist meine Arbeit stressiger geworden. Klassische Jobverdichtung. Dann und wann erlaube ich mir eine Auszeit auf dem „Hügel“ – wie man die Krebsklinik nennt. Am Botanischen Garten. Tolle Aussicht, sogar im November. Beste Gegend. Nicht nur vom Preis her. Auch das menschliche Material – sozusagen.
[ 6]Hier erhole ich mich aber nur. Habe nichts zu verrichten – Freizeit. In der Onkologie wird schon lange nicht mehr gestorben. Das letzte Mal vor zwei Jahren, ein Chirurg. Herzinfarkt. Da musste ich in meiner Freizeit ran. Der gewöhnliche Krebstod aber wurde ausgegliedert. Die meisten Patienten gehen austherapiert nach Hause. Oder in ein Hospiz. Sieht besser aus und ist wirtschaftlicher. Hier denken alle positiv.

[ 6]Ich beobachte sie in aller Ruhe. Hier wissen alle von meiner Anwesenheit. Manche können mich sehen. Einige können mir in die Augen schauen und die einfache Wahrheit ertragen, die ich ihnen eröffne: Es geht nur darum, welches Datum in der Todesanzeige stehen wird. Im Grunde ist es wie eine Terminvereinbarung. Nächste Woche? In fünf Jahren? In dreißig Jahren?
Hier versteht jeder die Bedeutung, das Gewicht der Entscheidung. Keine Spielchen mehr. Dies ist kein Ort für leichtfertige Zusagen, leere Versprechen. Wer hier liegt, überlegt sich genau, was er will.

[ 6]Wie Nicks Frau, die gleich aus dem Morphium-schlummern aufwachen wird, nach ihrem zweiten Rezidiv. Sie war auch vor fünf Jahren, bevor der Tumor entdeckt wurde, ein zierliches aber starkes Persönchen. Sie wird mich sehen und erkennen. Ich freue mich schon auf das Gespräch.

[ 6]Krebs ist keine Krankheit. Im Gegenteil. Nicks Frau – ihr Körper – versucht verzweifelt, wenigstens in Teilen erhalten zu bleiben: ein Überlebenskampf auf Zellebene. Wenn das Ganze schon verloren geht. Wenn die Organe ersticken. Um seine Haut zu retten, vereinfacht sich der Körper energiesparend. Eine clevere Strategie. Ich muss es mir jedes Mal ansehen, bin immer dabei und bereit, meinen Job zu tun.

[ 6]Bei Nicks Frau sind es die Zellen ihres linken Eierstocks. Halt! – sie öffnet langsam die Augen. Benommen und geschwächt, braucht sie einige Minuten, bis sie begreift, was los ist. So viel Zeit muss sein – sie soll bei Sinnen sein, wenn wir die ernsten Dinge besprechen, die sie schon lange nicht mehr auf dem Schirm hat, obwohl sie von ihnen erwürgt wird.

[ 6]Menschen verwechseln Verdrängen mit Vergessen. Wenn man vergisst, spart man Energie – die Sache kommt unter Verschluss. Es kostet was, sie wieder hervor zu holen; also lässt man es sein. Feng Shui für die Seele. Gesund.
[ 6]Verdrängen ist wie Schubladen verstecken, die permanent zugehalten werden müssen, damit der ganze Dreck nicht herausströmt und einen normalen Alltag unmöglich macht. Viel Einsatz, um die Lügen, die nötigen Trugbilder aufrecht zu halten. Es kostet Kraft, die unsichtbare Hand zu lösen, die über Jahre und Jahrzehnte die Schubladen des Unbewussten geschlossen hält. Krank. Wehe, die Hand ermüdet. Oder bricht.

[ 6]Mit Nicks Frau wird es nicht einfach werden. Zu viele Schubladen. Wir werden weit zurückgehen und tief bohren müssen, denn bei ihr beginnt das Krebsleben schon bevor sie entbunden wird, im Alkohol- und Nikotinrausch ihrer Mutter. Beim dilettantischen Versuch, den unerwünschten, gehassten Wurm in ihrem Bauch abzutreiben.

[ 6]Ich beuge mich über sie: „Plötzlich sind sie alle richtig lieb – nicht wahr?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie schaut mich mit großen Augen an: „Wer sind Sie?“, sie reibt sich die Augen, „Was haben Sie in meinem Zimmer verloren?“
So reagieren sie manchmal, wenn sie mich sehen. Aber es ist ein gutes Zeichen: ein Lebenszeichen.

[ 6]„Du weißt, dass das keine Liebe ist! Er hat nur Schiss! Es dämmert ihm langsam: wenn du weg bist, dann muss er die Verantwortung für die Kinder tragen. Kann sich nicht mehr einfach aufs Motorrad schwingen und mit den Kumpels ins weiberfreie Lager verpissen. Saufen. Zocken. Ficken. An Wochenenden. Manchmal auch sonst.“ Ich muss schnell auf den Punkt kommen – Diplomatie liegt mir nicht.

[ 6]Ihre Empörung gefällt mir: Ihr vergelbter Teint – durch die Lebermetastasen verursacht – erfährt eine winzige Rotverschiebung. Sie spürt die Härte der Worte und kämpft gegen ihre Wahrheit. Kämpft!

[ 6]Nick, die Kinder, die sie so liebevoll belagern, wollen ihre Wünsche jetzt aus kleinsten Regungen lesen: möchtest du ein Eis, Mama, oder soll ich dir ein Buch, eine Zeitung bringen? Entscheide! Jetzt! Mutter hat Kohlrouladen geschickt. Sie sind ihr besonders gut gelungen. Mit viel Liebe zubereitet. Extra für dich. Weil du sie so gerne hast. Möchtest du jetzt essen? Oder lieber später? Sind sie warm genug? Ich kann sie in der Küche aufwärmen lassen – soll ich? Oder möchtest du doch lieber später essen? Jetzt vielleicht ein Joghurt? Oder lieber nur Obst? Ich habe auch frische Datteln mitgebracht. Vom Türken. Die sollen sehr gesund sein. Möchtest du? Oder doch lieber was Richtiges? Entscheide! Jetzt! Jetzt, da ihre Energie kaum noch zum Atmen reicht, und sie von der Gewissheit bedroht wird, dass es jetzt so weit sein könnte. Dass es vielleicht diesmal nicht mehr gut ausgehen wird. Jetzt erstickt sie in Aufmerksamkeit und Zuwendung. Es ist keine Zärtlichkeit, keine liebevolle Berührung. Panisches Grapschen, aggressives Schnappen – Festhalten, damit sie bleibt. Egoistisches Zerren und Zupfen. Klammern, damit sie bleibt, solange sie gebraucht wird. Für Liebe und Sex schon lange nicht mehr. Für das Management und Betrieb im Haus und Garten. Eine sehr nette, harmonische Familie, würde jeder sagen, der sie kennt.

[ 6]„Halt' dir die Kinder vom Leib – das ist keine Liebe! Es ist nur schlechtes Gewissen: 'hätten wir der Mama vielleicht doch im Haushalt helfen, ihr vielleicht manchen Kummer ersparen sollen, vielleicht Mal die U-Bahn genommen, statt Jahre lang, manchmal drei Mal am Tag, die Taxi-Fahrerin-Mama bemüht, auch um drei Uhr nachts; Mal Oma sagen sollen, dass sie Mama in Ruhe lassen und nicht dauernd kontrollieren solle; dass Mama, keine Versagerin sei, die nichts zustande bringt; dass sie nicht faul von Omas Geld, in Omas Haus lebte, sondern eine liebe Mama sei; dass Mama sehr wohl kochen könnte, wenn sie nur dürfte.'“

[ 6]Sie versucht mich anzuschreien, zu widersprechen – schafft es aber nicht. Zu schwach. Aber es liegt nicht am Kraftmangel. Ich erkenne es am Glanz ihrer Augen: „Wie heißt du?“, sie schaut mich dabei milde an und kratzt sich wund. Wenn jeder Quadratzentimeter Haut juckt, ist das die Hölle. Es sind die Gifte – innerlich und äußerlich.

[ 6]Eine bildhübsche Krankenschwester kommt herein, um die Infusion zu prüfen. Adrett, seit dem das Klinikum eine GmbH ist, lächelt sie freundlich: „Nicht weinen“, sagt sie warm und berührt sanft die Schulter der Patientin, „das wird schon!“ – sie spürt, dass ich da bin, verdrängt es aber. Nicks Frau nickt, wischt sich die Tränen, und schüttelt den Kopf, als die Schwester beim Hinausgehen fragt, ob sie noch einen Wunsch hätte.

[ 6]„In L.A. nennt man mich Joe Black“, antworte ich, „Der Schwarze Sepp, und du hast den Schwarzen Peter ...“, ich lache über mein Wortspiel. Ihre Tränen zeigen: sie lässt die Wahrheit zu, vor der sie sich immer verkrochen hatte. Geflüchtet in geschäftiges Machen-und-Tun-und-Lächeln-dazu und in Pilcher-Filme, in Volksmusik und in Schönfärberei. Und leugnen, lügen und heucheln, bis es nicht mehr nötig war, weil es von selbst geschah. Eine zweite Natur wurde – und eine Krankheit. Eine Bedingung für ein Krebsleben. Nicht der Grund. Das Abheben in Traumwünsche, für deren unerreichbar gleichen Abstand, sie, die Umstände und ihre Lieben immer gesorgt haben – unbewusst, aber tatkräftig, bis sie irgendwann zum Traum-vom-Traum mutierten, um später noch wie Floskeln geplappert zu werden, und heute nur noch die verblasste Erinnerung von etwas zu sein, was einmal ein Wunschtraum, vielleicht sogar Wirklichkeit hätte sein können. Es war komfortabel – bösartig bequem. Was es aber genau war ...

[ 6]„Ihr seid alle krank, führt ein asymmetrisches Leben: Sie sind Räuber! Nehmen ohne zurückzugeben! Natürlich aus freien Stücken. Aus FREIEN! Das ich nicht lache! Das ist die größte Verarschung: die Selbstverarschung. Böses Kind! Du hast den schlimmsten Verrat begangen: den Verrat an Selbst. Ja – heule nur!“ Sie wird durch die wuchtigen, krampfartigen Erschütterungen ihres ausgemergelten Körpers im Bett hin und her geworfen. Nicks Frau wiegt fast nichts mehr. Ich jedenfalls bin für alle Fälle bei ihr und bereit.

[ 6]„Du bist der Tod! Hier bin ich! Halte dein Versprechen und hole mich! Erlöse mich! Aber quäl' mich nicht!“, brüllt sie.
Ich muss innerlich lachen. Bei Krebs muss auch der Tod paradox denken: der Patient meint oft das Gegenteil von dem, was er sagt.

[ 6]„Ich quäle dich nicht. Die Erkenntnis deiner Wahrheit quält dich. Das Fühlen der Wahrheit. Wenn es gut geht, dann wirst du sogar auf dich wütend sein. Glaub' es mir: Ich kann dich nicht täuschen – der Tod lügt nie.“
[ 6]Sie hat schon lange nicht mehr aus vollem Herzen geweint: ihr Kinn verkrampft sich. Die Kraft der stärksten Muskeln, die ein Mensch besitzt, packt gnadenlos zu. Ihre Zunge blockiert. Sie würgt – übergeben kann sie sich aber nicht. Es ist süß, wie ihre dünnen Ärmchen in die Luft schlagen, wie ein Boxer ohne Gegner, bekämpft sie ihr eigenes Schattendasein. Ich habe sie richtig eingeschätzt: sie kämpft. Aber sie wird Zeit brauchen, bis sie sich davon erholt. Bis sie ihre Wahrheit ertragen kann. Ich muss ihr die Zeit geben.


[ 6]„Hallo!“, begrüßt mich Nicks Frau, jetzt, sechs Monate später, bei ihrer letzten Chemo: „Komm herein! Ich erkenne dich wieder!“ Sie lächelt.

[ 6]„Oh ja, die Therapie greift ...“, ich beobachte einige kleine Veränderungen an ihr. Na – wir wollen mal sehen, was dahinter steckt.

[ 6]„Bin dir wieder einmal von der Schippe gesprungen!“, strahlt sie.

[ 6]Es ist nicht nur so dahin gesagt. Ich merke es natürlich sofort. Wer, wenn nicht ich. „Warst du oft beim Pferd?“, ich sauge ihre Antwort auf: Sie nickt.

[ 6]„Du hattest Recht. Mit allem, was du über Nick und den Kindern gesagt hattest. Ich habe es verstanden. Ich denke wieder positiv. Ich will wieder leben! Ich werde leben!!“

[ 6]Mist! Noch ist sie nicht so weit. „Will wieder leben … wenn ich das schon höre! Du liegst falsch! Du hast nichts begriffen! Du lebst jetzt, und wirst sterben – so herum wird ein Schuh daraus!“

[ 6]„Doch! Wenn ich das hinter mir habe, werde ich alles verändern.“

[ 6]„Langweile mich nicht mit diesem Positiv-Denken-Gequatsche! Die Friedhöfe sind voll von Positiv-Denkern – ich habe sie alle dahin bringen müssen. Nick kommt gleich – was also hat sich geändert?“

[ 6]„Oh, das ist jetzt alles anders. Wir haben miteinander viel gesprochen und sind uns dabei sehr nahe gekommen. So gut war unser Verhältnis noch nie. Offen. Vertrauensvoll. Klar, es wird nicht mehr die große Liebe sein. Aber wir werden echte Partner. Keine Lügen, kein Heucheln mehr.“

[ 6]„Und die Kinder? Haben sie sich auch geändert?“

[ 6]„Sie brauchen ihre Mutter – das ist doch normal. Ich werde es ihnen schonend beibringen, wenn sie so weit sind. Wichtig ist sowieso, dass ich es kapiert habe. Dass ich mein Leben ändern muss! Ändern werde!“

[ 6]„Du täuschst dich – es ist immer noch deine alte Masche. Du glaubst verstanden zu haben, du denkst, du wirst es schon richten, du wirst …! Du, du und wieder du! Eigentlich warst du immer schon ein Kontrollfreak! Aber ein Blatt kann den kranken Baum nicht heilen.“

[ 6]„Ich lasse mich von dir nicht entmutigen – nicht jetzt! Du kriegst mich nicht! Nicht bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit gekommen ist!“

[ 6]„Ich muss lachen!“, ich muss wirklich lachen, wenn meine Kandidaten mit Gott kommen: „Lass bitte Gott aus dem Spiel! Das hier ist eine Sache zwischen uns – zwischen dir und mir.“
Sie weint. Nicht mehr so gequält. Das ist gut. Ich werde es ihr sagen: „Die Blätter müssen im Herbst vom Baum fallen, damit sie in einem neuen Frühling wieder knospen können. Der Stamm muss, von seiner Last befreit, sich erholen können. Die Wurzeln müssen genesen. Dein Mann und deine Kinder – sie sind nur Blätter einer Kriechpflanze auf deinem gebrochenen Stamm. Parasiten. Und die Wurzeln ... Erkenne es: Du gehörst immer noch mir!“

[ 6]„Das verstehe ich nicht. Seit wann bemüht der Tod Bilder, die kein Mensch versteht?“

[ 6]„Nick und die Kinder – sind nicht der Grund!“

[ 6]„Was bitte schön ist der Grund? Raus mit der Sprache!“

[ 6]Sie gefällt mir. Ihre Kraft, ihre Energie fließt. Ihr Pferd! Wenn es um Angst geht, sind Pferde Experten – ihre Rettung? Wenn sie wieder reiten wird …

[ 6]„Du kennst den Grund – genauer gesagt: du spürst den Grund. Es ist wie mit der Luft, die du atmest: unbewusst immer da. Erst wenn sie knapp wird, wirst du ihr gewahr. Nur: deine Luft ist vergiftet. Sie heißt MUTTER. Deine MUTTER, die seit drei Jahren kein Wort mehr spricht, weil du – ihre böse Doktor-Tochter – die sie von ihrer Depression nicht heilen will, bestraft werden muss; Omas böser Blick, ihre Stimme: Da darfst du nicht anfassen! Böser Finger! Der Teufel wird dich holen! Deine SchwiegerMUTTER, die im Laufe der Jahre deine allgegenwärtige ÜberMUTTER geworden ist. Wenn dich jemand besucht, schaust du unwillkürlich durch die Decke des Wohnzimmers, als müsstest du dich vergewissern, dass sie nicht gestört wird. Redest leise und bittest den Besuch, ebenfalls leise zu sein, Rücksicht auf die alte Frau zu nehmen. Sie könnte schlafen. Oder etwas Wichtiges erledigen. Kochen. Oder Malen. Vielleicht schreiben.
Aber die schlimmste, die gemeinste, die brutalste MUTTER, das bist du! Ein Tyrann. Wenn dich jemand lobt, dann lächelst du; Wenn ihr nur wüsstet, denkst du, ich bin schwach, gemein. Eine böse Mutter. Nicks Frau: Nichts.
[ 6]Eigentlich wolltest du keine Kinder haben. Du hattest doch so viel vor. So viele Begabungen. So viele Möglichkeiten. Energie in Überfluss. Und dann scheitert deine erste Ehe. Es ist meine Schuld, sagtest du, denn bei deiner Überlegenheit und deinem Potenzial konnte es nur einen Schuldigen geben: dich. Dein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein hatten aber Schaden genommen. Ein Baustein deiner Katastrophe wurde die Krise allerdings erst durch deine Mutter. Durch ihre Enttäuschung. Sie wollte immer Enkelkinder – von ihrem lieben Schwiegersohn, den sie regelrecht angehimmelt hatte. In den Jahren eurer Ehe hatte sie ihn hundertmal öfter in den Arm genommen, als dich in deinem ganzen Leben. Sie hat dich nie gewollt – das weißt du! Sie sah in dir den Grund für das Misslingen ihres eigenen Lebens. Das hat sie dir zwar nie gesagt, dich aber jeden Tag, jede Minute spüren lassen. Dir nie verziehen.“

[ 6]Das saß. Sie zieht die Decke über den Kopf. Ich glaube, sie schämt sich. Das ist gut. In ein paar Stunden komme ich wieder. So lange überlasse ich sie ihren Tränen. Damit sie ihr und sich verzeihen kann.

[ 6]Dass ich zeitgleich meinem Tagesgeschäft nachgegangen war, ist doch klar. Auf die Krebstation komme ich ja nur, um mich zu erholen. Und um mir über den Sinn meines Seins immer aufs Neue bewusst zu werden. Nicht dass der Sensenmann in Identitätskrisen stürzen könnte.


[ 6]Wenn ich am Abend vor ihrer Entlassung das Zimmer betrete, sitzt Nicks Frau nackt auf dem Boden neben ihrem Bett. Sie weint nicht, lächelt, denn sie erkennt mich sofort. Winkt mich zu sich.

[ 6]„Man hatte damals festgestellt, dass ich keine Kinder haben kann, es sei denn … Ich hatte die Hormontherapie begonnen, um meine zweite Ehe zu retten. Den Gedanken, wieder zu scheitern und alleine zu sein, konnte ich nicht ertragen. Ich konnte doch meine Mutter nicht wieder enttäuschen. Wie sollte sie eine Chance bekommen, mich endlich lieb zu haben? Mein Mann wollte auch unbedingt Kinder. Er hätte das Recht gehabt, mich zu verlassen. Ich war unfruchtbar, unfähig eine normale Ehefrau zu sein. Ich hätte alles getan, um nicht alleine zu bleiben. Tod, du kennst keine Angst! Du kannst nicht fühlen, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast es leicht. Du bist leicht. Wieso habe ich dich nie gesucht? Als ich die Zwillinge bekam – das war Glück pur. Mein Sieg: Ich kann, wenn ich will! Es gibt immer einen Weg.“

[ 6]Sie redet leise, farblos – wie Novemberwolken, die, um nicht aufgelöst zu werden, das Wasser für sich behalten. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht. Es sieht nach Arbeit aus. „Ein Pyrrhussieg, Liebste! Auf dem falschen Gleis bloß nicht beschleunigen! Der Crash kommt schneller und der Knall ist lauter.“

[ 6]„Das stimmt! Dann wollte ich auch noch die beste aller Mütter werden. Und auch noch alle Menschen retten. Hatte mal eben eine Heilpraktikerausbildung absolviert, obwohl ich schon Arzt war. Durfte aber nie praktizieren – mein Mann und meine reiche Schwiegermutter hatten es mir untersagt. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ich gearbeitet hätte: 'Was sollen die Leute denken? Das Gerede der Leute würde mich umbringen: Deine Schwiegertochter ist eine Rabenmutter, sie lässt ihre Kinder im Stich! Habt ihr es wirklich nötig? So weit ist es schon mit euch gekommen?' Ich und arbeiten, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Dass ich nie wusste, wie viel Geld wir haben, wie viel mein guter Mann in seiner leitenden Position verdient – das interessierte niemanden, nicht einmal mich. Ich hatte mein Haushaltsgeld, mein Taschengeld – und wenn ich mehr brauchte, musste ich es nur sagen. Ich musste nur darum bitten. Jetzt wird mir bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie eigenes Geld hatte – mein wirklich EIGENES Geld.“

[ 6]Auf dem Stuhl neben ihrem Bett liegt ein angebissener Apfel. Sie greift danach, kratzt mit dem Fingernagel die braunen Flecken ab und beißt kräftig in die Frucht. Ein gutes Zeichen: Lebenszeichen.

[ 6]„Es gibt noch mehr Gründe. Aber um sie zu erkunden, musst du weg!“, betone ich langsam, „Es ist deine einzige Chance – keine Garantie, nur eine Chance – das Gleis zu wechseln. Frage jetzt nicht, welches das Richtige ist. Jedes ist besser. Warte nicht auf eine Weiche. Warte nicht auf ein Semaphor. Du musst jetzt in ein ganz anderes Leben springen. Jetzt! Sollte es schief gehen, sei gewiss: ich werde da sein.“

[ 6]Sie lächelt: „Ich schaffe das nicht. Mir fehlt die Kraft. Der Mut.“

[ 6]„Das war gut“, sage ich, denn bei Krebsmenschen muss man paradox denken: sie sagen oft das Gegenteil von dem, was sie meinen. „Um die Sache zu vereinfachen – darum bin ich hier. Um dir das zu sagen: Es gibt nur dich und mich. Es sieht folgendermaßen aus: Gehe ich vor dir durch diese Tür, dann nehme ich dich mit, und wir verbringen deine letzten Stunden zusammen mit deinen Lieben und deinem Nierenversagen. Kehrst du mir den Rücken zu und verlässt dieses Zimmer vor mir, weg von den Kindern und von Muttern, von Nick – wenn es sein muss, nackt und auf allen Vieren – in die freie Zeit, dann folge ich dir geduldig auf dem langen Weg. Immer mit gebührendem Abstand zum Leben.“
 



 
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