2am
Mitglied
Ich lächele unter meiner Maske. Es fühlt sich an wie ein Insider mit mir selbst. Ob man mir meine Stimmung anmerken kann? Der Zug schwebt, vorbei an karierten Feldern, alten Dörfern mit kleinen Häusern, und Wäldern, in denen unterschiedlichste Grüntöne miteinander verschmelzen, hin zum nächsten Bahnhof, wo neue Menschen ein- und alte aussteigen. Koffer rollen, Türen öffnen sich, Sitzplätze werden gesucht, gefunden und eingerichtet. Dann legt sich die Hektik. Manche schlagen ein Buch auf, sie haben sich wahrscheinlich fest vorgenommen, es wenigstens anzufangen, und andere beißen in das erste belegte Brötchen. Neugierig scannen meine Augen den Gang nach neuen Gesichtern und bleiben schließlich direkt vor mir zwischen den blauen Sitzen hängen. Verwundert beobachte ich eine Frau, obwohl, eigentlich beobachte ich viel mehr ihren Fuß, den sie, zu meinem Erstaunen, auf dem Tisch vor sich ausstreckt und ablegt. Die korallenrot lackierten Fußnägel spiegeln sich glitzernd im Fenster, die Frau trägt keine Schuhe. Das sind relativ junge Füße, denke ich. Oder sie weiß deutlich mehr über Fußpflege als ich. Kurz fällt mir der halb abgeblätterte grüne Nagellack an meinen Zehen ein. Mist. Als die Frau sich beim Personal einen Kaffee bestellt, mit Milch und Zucker, macht sie keinen Anschein, ihre Haltung zu hinterfragen. Es scheint für sie ganz normal zu sein. Und weil es für sie so normal ist, finden der Mann mit den Getränken und ich es auch völlig normal. Dass die Frau ihn mit derselben Selbstverständlichkeit duzt, erscheint mir folgerichtig. Jetzt telefoniert sie. Es ist kein Gespräch unter Freunden, zumindest vermute ich das. Ihr unruhiges Wippen mit dem Fuß verrät ihre Gedanken. Vielleicht ein Kollege? Ein unangenehmer Geschäftspartner? Aber ihre Stimme bleibt klar und ruhig. Gekonnt wickelt sie ihn um den Finger. Das kann sie so gut, dass die Kürze des Telefonats durch seine angenehme Leichtigkeit völlig nebensächlich wird. Alles ist gesagt. Dann legt sie auf, lehnt sich zufrieden zurück und ich habe keine Zweifel daran, dass ich dieselbe Zufriedenheit auch am anderen Ende der Leitung vorfinden würde. Wieder lächele ich in meine Maske. Meine Bewunderung für Menschen, besonders für diejenigen von ihnen, die wirken, als seien sie nirgendwo mehr zuhause als in ihrer eigenen Haut, ist endlos. Wieder frage ich mich, was mich eigentlich daran hindert, öfter Zug zu fahren. Und finde keine Antwort. Bei all den vergangene Fahrten durch Städte, an deren Namen ich mich nicht erinnere, habe ich mich so gefühlt wie heute. Ich steige mit einem Ziel ein und sobald ich sitze, habe ich es vergessen. Riga, Köln, Paris, ich könnte überall hinfahren. Ich könnte überall herkommen. Es ist völlig egal. Ich wusste es noch nicht, aber deswegen bin ich unterwegs. Hier kann ich die Dinge wieder von oben betrachten. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass wir schweben. Ein Zug im Himmel, in dem die Zeit steht. Wieder fällt mein Blick auf die Frau vor mir. Sie schläft, scheinbar tiefenentspannt. Was hat sie erlebt, dass sie so sein kann? Kann ich das noch werden? Ich hoffe, dass ich Teile von Ihnen mitnehme, die guten Teile der Menschen, die ich beobachte. Ihren Charme und ihre Sicherheit. Aber vielleicht, denke ich, sollte ich auch einfach nur sein, ohne Analysen und Vergleiche. Dann fällt mir niemand ein, der das jemals geschafft hat. Niemand findet sich alleine. Noch eine Weile schaue ich den Wäldern hinterher und höre gebannt den Gesprächen der anderen Passagiere zu. Geschichten häufen sich und ich versuche, sie an einem sicheren Ort zu verwahren. Für mich und für alle, die sie mal hören wollen. Später stellt sich dann heraus, dass die barfüßige Frau an Rückenschmerzen leidet. Nur deshalb, so erklärt sie es entschuldigend ihrer neuen Sitznachbarin, habe sie sich so ausgestreckt. Hm. Und was ist mit Schuhen? Ich versuche mir vorzustellen, welche sie wohl trägt. Vielleicht erhasche ich einen Blick auf ihre Füße, wenn sie aussteigt. Zum ersten Mal schaue ich auf die Uhr. Noch fünf Stunden. Ich lächele.
Zuletzt bearbeitet: