Fremdkörper

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anbas

Mitglied
Fremdkörper

Bin heute mit einem Fremdkörper unterwegs. Im Grunde ist es ja mein Körper – doch das fühlt sich gerade nicht so an.

Schon als ich morgens aufstehen wollte, war es so, als würde mein Körper sagen: "Geh schon mal vor, ich bleibe noch etwas länger liegen."
Da ich nicht streiten wollte, gab ich ihm dreißig Minuten Bedenkzeit und döste noch ein wenig weiter. Doch auch danach blieb er bockig. Nun musste ich handeln, um nicht zu spät zur Arbeit zu kommen. Also zwang ich ihn dazu, mit mir ins Bad zu gehen.
Erstaunlicherweise erkannte ich mich im Spiegel sofort wieder – im Gegensatz zu vielen anderen Tagen um diese Uhrzeit. Heute war mir aber das Gesicht, das ich dort erblickte, gut bekannt, und daher begrüßte ich mich aufs herzlichste.
Mein Körper blieb mir dagegen weiterhin fremd. Er war so schwer und träge. Außerdem schien jeder Muskel in ihm total verhärtet zu sein, jede Bewegung tat weh. Es war so, als hätte er mehrere Tage lang Sysiphos vertreten müssen – aber das würde ich ja wohl wissen.
Auch im weiteren Verlauf des Morgens versagte er mir die Zusammenarbeit. Das Duschen und Zähneputzen ging ja noch. Doch beim Anziehen meiner Socken wurde er dann wieder störrisch und zwang mich dazu, mich auf mein Bett zu setzen. Und genau damit war ich ihm in seine Falle gegangen, denn er weigerte sich schlicht und ergreifend wieder aufzustehen.
Nun saß ich also da und starrte leicht apathisch ins Nirgendwo. Die ratternden Gedankenkreise in meinem Kopf wurden langsam weicher und begannen sich allmählich in ein wohliges Nichts aufzulösen. Meine Augen wurden immer schwerer. Fast hätte ich mich wieder zurück ins Bett gelegt. Aber im letzten Moment – ich war schon dabei, in Richtung Kopfkissen zu kippen – gelang es mir mit eisernem Willen das Zepter wieder in die Hand zu nehmen.

Zum Glück hatte ich heute Vormittag im Büro keine Termine. So war die dreißigminütige Verspätung kein Problem – Überstunden zum Abbummeln hatte ich eh genug. Doch auch den Rest des Tages verweigerte dieser, also mein, Körper jegliche Kooperation. Jede Bewegung erschien mir wie ein Kraftakt und in Zeitlupe zu verlaufen. Während mein Kopf schon den ersten Satz eines Anschreibens formuliert hatte, kämpften meine Finger noch mit dem ersten Buchstaben; zwischen dem Plan, ein Telefonat zu führen, und dem Abheben des Hörers verging eine gefühlte Ewigkeit; und selbst das Aufstehen, um mich in der Mittagspause auf den Weg in die Kantine zu machen, war Schwerstarbeit.

Jetzt habe ich endlich Feierabend, doch dieser Fremdkörper sitzt, so als wäre er tonnenschwer, auf meinem Bürostuhl und lässt sich keinen Millimeter bewegen. Er verweigert sich mir komplett. Ich werde wohl wieder Überstunden machen müssen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Das tut mir sehr, sehr leid @anbas, man hört und liest das ja immer wieder: Von Leuten, die sich nicht wohl im eigenen Körper fühlen.
Schon mal an eine Operation gedacht? Oder wenigstens an den Besuch einer Talkshow: "Im eigenen Körper gefangen - Gesichter eines neuzeitlichen Phänomens" ?;)
 

anbas

Mitglied
Hallo Isbahan,

Danke für Deine mitfühlenden Worte und die aufmunternden Sternchen!

Eine OP wird wohl nichts bringen, da ich zunehmend den Verdacht habe, dass sich mein Körper mit mir nicht wohl fühlt und daher versucht, immer mehr "sein Ding" zu machen.
Somit wären wohl auch eher Talkshows interessant, in denen es um außerkörperliche Erfahrungen geht. ;) Wenn das Honorar stimmt, würde ich es vielleicht in Erwägung ziehen.

Liebe Grüße

Andreas
 



 
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