Frieren in Saarbrücken

Inu

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Erinnerung an 1978
Saarbrücken im November. Sonntagmorgen.

Durch das Tal der Saar dringen von Lothringen her Sturmböen in die Stadt.
Schon seit Tagen regnet es. Nieselregen.








Lena geht auf der ‚Promenade‘ spazieren.

Die sechshundert Meter lange Fußgängerzone mitten in der City, als Renommierobjekt und Flaniermeile gedacht, führt zwei Stockwerke hoch über der Erde - wie auf einer riesigen Empore - am Fluss entlang.

Auf der linken Seite der Promenade Boutiquen, Kinos, Bistros, italienische Eis-Cafés. Auf der anderen Seite, zum Fluss hin, ein langes, schmuckloses Geländer – Stahlrohr, grau gestrichen.
Entlang des Geländers Sitzbänke aus weißem Kunststoff - sowie schwächliche Bäumchen in Eternit-Kübeln. Kahl und karg das alles.

Nur eine Minute entfernt, auf der Bahnhofstraße drängeln sich für gewöhnlich die Käufer und Bummler, viele aus Luxemburg und Lothringen. Nur die Promenade im Herzen der Stadt ist meistens menschenleer. Höchstens läuft man einmal hin, wenn man zu einem bestimmten Geschäft will und dann rasch wieder weg. Warum? Vielleicht liegt es daran, dass es da so zugig ist. Ständig pfeift einem der Wind um die Ohren.
Hier fehlen die meiste Zeit im Jahr die Biergartengäste, die Flaneure, es fehlt der französisch angehauchte Charme, der sonst irgendwie über der Stadt liegt und den die Bauherren und Architekten sich wahrscheinlich gerade auf einer solch exponierten “Luxusmeile' erträumt hatten. Nein ... zum sommerlichen Feiern im Freien, zum Sehen und Gesehen-Werden geht man von Alters her an den nahe gelegenen St. Johanner Markt.

Nur an glühenden Hochsommertagen, wenn es wirklich keine Menschenseele mehr in den aufgeheizten Wohnungen hält - die Wirte auf der Promenade haben schon seit Wochen Tische und Stühle nach draußen gestellt mit mäßigem Erfolg - dann sind endlich die Leute da, sitzen in gemütlicher, fast provinzieller Enge in der Sonne, genießen Eisbecher, Schorle, Cola, schauen hinunter aufs immergraue Wasser, zu den Anlagen ohne Blumenschmuck und zu den wenigen Bäumen.
Wahrhaftig … es gibt romantischere Winkel auf dieser Erde.

*

Jetzt ist November.
Die Promenade liegt verlassen da.
Heute morgen ist hier oben kein Mensch außer mir, stellt Lena unberührt fest.

Über den Fluss herüber tönt, zu laut wie immer, der monotone Sound der Stadtautobahn. Hört keine Sekunde auf, so wie das Rauschen des Meeres nie aufhört. Ein ewig nervenzerrendes Dröhnen. Dabei hat doch an fernen Stränden das Wellenbrausen sich ähnlich angehört, hat aber stets Lenas Seele wunderbar erfrischt, fällt ihr plötzlich ein.

Sie macht die Augen zu und versucht, sich mit dem Verkehrsgeräusch zurück zu versetzen an die Mittelmeer und Atlantikküsten ihrer früheren Tage. Was für eine Freiheit damals, was für eine Fülle des Lebens! Ein wenig kommt das alte Feeling wieder ... wenn sie die Augen schließt ...
Aber geht schnell vorbei ...

Tief unten fließt trüb und träg, nicht schmal, nicht breit, nicht schön, nicht hässlich, ihr Heimatfluss. Sie hat sie hingenommen, die Saar, ohne Begeisterung, ohne Stolz, schon als Kind. Die Saar war der einzige Fluss, den sie kannte. Sie hatte sich von Anfang an weg gesehnt.

Entlang des Ufers, wo im vorletzten Jahr noch Rasenanlagen und Blühendes zum Verweilen lockten, haben sie neuerdings den Boden pflegeleicht mit niedrigen Hecken bepflanzt, undurchdringlichem Dickicht aus stacheligen Koniferen.
Das dornige Gestrüpp hat mit seinem Zwergwuchs das Ufer vollständig überwuchert. Dort kommt niemand bis zum Fluss durch. Auf diese Weise hat die Stadt den Pennern ihren Stammplatz genommen und sie in dieser Umgebung am Plattemachen gehindert. Jetzt haben sie sich an einen anderen Ort verzogen.

In den zugigen, offenen Gewölben unter den Betonpfeilern der Promenade, nah am Wasser - so sagt man - trieben sich aber noch verdächtige Gestalten herum.
-

Und es regnet, regnet.
Heute bläst noch dazu dieser furchtbare Wind.
Lena läuft weiter.

Hinter den Glasfronten im rotgepolsterten ‚Queens-Pub‘ bedienen zwei junge Kellner, sitzen Saarbrücker Leute beim Frühstück - ein paar davon kennt sie - man raucht, lächelt, bewegt Lippen und Hände. Bilder irreal ... als ob ein Film dort hinter tropfennassen Scheiben lautlos abläuft. Unwirklich. Wie in Zeitlupe alles.
Und draußen Regen. Lena hat nicht einmal einen Schirm dabei.

Sie denkt, sie sollte vielleicht auch hineingehen und eine Tasse Espresso trinken. Früher hat sie hier oft am Abend gesessen. Mit Aaron, Jean Marie, Manfred, Jörg. Oder mit Frauen und Mädchen, Freundinnen, die vorher stundenlang bei ihr im Geschäft herumgesessen hatten und mit denen sie abends dann um die Häuser zog! Ja, sie hatte einen Second-Hand-Laden im 'Viertel' gehabt. Den hat sie inzwischen aufgegeben.

Wann ist sie zum letzten Mal hier im Pub gewesen? Es muss ein Jahr her sein. Sie hat die Atmosphäre geliebt. Warm und geborgen fühlte sie sich. In den schwellenden Polstern aus Plüsch hängt immer der leichte Geruch von Kaffee, Parfüm, altverschüttetem Cognac, Tabak, Staub. Das Lokal ist in Mode. Es erinnert sie an ein luxuriöses Zugabteil: Irgendwie Orient-Express: exquisit, Art-Deco-Anklänge, etwas Gold, sehr viel roter Samt. Das Lokal ist schmal wie ein Schlauch. Panoramascheiben an gleich zwei Seiten über Eck. Sodass man einen großen Ausblick auf den Fluss hat. Kuschelige Enge im Innern und - nur durch Glas getrennt - die Weite draußen ... gefällt ihr.

Heute muss Lena auf die Tasse Kaffee verzichten, denn sie stellt fest: Geld hat sie sich keines in die Manteltasche gesteckt.
Aber auch wenn sie Geld bei sich hätte, so fehlt ihr heute morgen die Lust, von diesen Leuten gesehen zu werden.

Ohnehin besser, sie spart sich den Kaffee, denn auch zuhause hat sie fast kein Geld mehr.
Das Dasein ist eng geworden. Die Welt hat sich verschlossen. Sie begreift noch nicht, dass sie arm ist. Sie denkt, ein ihr zustehendes Wunder müsse / würde irgendwie kommen. Bald.
Aber dumpf spürt sie heute mehr denn je, wie unter ihr das Eis dünn ist. Es kann ... nein ... es wird brechen. Furcht!


Vorhin ist sie panikartig aus der Wohnung geflüchtet, weil ihr dort die Luft plötzlich weg blieb. Weil es draußen, trotz des Regenwetters, besser sein würde - hatte sie gedacht. Diese Angst und Beklemmung hatte sie in letzter Zeit häufig befallen, besonders in ihrem Second-Hand-Laden, der sie ohnehin mehr und mehr belastete. Als Trödelhändlerin hatte sie angefangen, 'kleiner' und kleiner, zu denken, es war, als ob Staub und Altertümer, aber auch die Probleme ihrer gebeutelten Kundschaft ihre matte Seele langsam unter sich verschütteten. Am Ende wühlte sie in Bergen von antikem Kram, kaputtem Schmuck, stieg über Haufen ausgemusterter Pelze und Klamotten und schrie vor Entsetzen - in ihren nächtlichen Albträumen.

Sie hatte sich den Laden aus Freude am Hantieren mit schönen Dingen eingerichtet, als sie nach ihrer Scheidung aus Amerika zurückgekehrt war. Aber dann waren auf einmal diese vagen, aber furchtbaren Gefühle der Sinnlosigkeit über sie gekommen. Schleichend war etwas in ihrem Inneren geschehen. Die Ärzte nannten es 'Depression'. Das ganze An- und Verkauf-Business, ständiges Aufpassen, dass man nicht zum Hehler wurde oder zum Betrüger an jenen, die einem unwissend Omas letzte Schätze für ein paar Pfennige verkaufen wollten! Nein, der Laden war nicht gut für sie.

Eigentlich ist Geld ihr nie wichtig gewesen. Jetzt aber schon, wo es 'weg' ist. Denn all ihr Geld ist weg! Das, was sie in den Ehejahren in USA gespart hatte ( eine nicht gerade hohe Summe ), zusammen mit ihrem größeren Erbteil vom Vater, hatte ihr Bruder Wolfgang Jahre zuvor für sie 'angelegt', kurz nachdem sie mit ihrem kleinen Sohn Robin nach Deutschland zurückgekommen war. Zinsgünstig hatte der Bruder es für sie angelegt! Geld, mit dem sie und Robi gute fünfzehn Jahre sich hätten über Wasser halten können. Sogar ohne Second-Hand-Laden. Das hatten Bankleute für Lena ausgerechnet.

Ihr Bruder hatte aber in Geldsachen mehr Überblick als alle anderen und als er sich anbot, ihr Geld zu verwalten, war sie froh gewesen. Studienrat war er an einer staatlichen kaufmännischen Schule. Oberstudienrat. Beamter. War ein Fachmann in Betriebswirtschaft. Brachte Schülern unter anderem auch die Regeln des Finanzwesens bei. Bei ihm würde ihr Geld in kompetenten Händen sein. Das machte er Lena klar. Nicht dass er sich ansonsten groß um seine Schwester und seinen damals 11jährigen Neffen gekümmert hätte. Sie merkte es mehr und mehr: er hatte sich verändert. Es war etwas Hektisches, Gehetztes in seiner Art, mit Menschen umzugehen. Wolfgang, der auf vielen Hochzeiten tanzte! Immer in Eile. Auf Achse.


Die monatlichen Zahlungen, die Lena aus ihrem Vermögen und den Zinsen bekommen sollte, waren auch ein Jahr lang regelmäßig bei ihr eingegangen und alles schien in Ordnung. Aber dennoch ... alles war ein Lügengebäude gewesen. Wenn sie schüchtern nach ihrem Bargeld fragte, speiste Wolfgang sie mit dem Hinweis auf komplizierte Festgeld-Verträge ab und auf eine Immobilie, die er in ihrem und Robis Namen erstanden habe, zuletzt auf Lebensversicherungspolicen, mit denen sie im Fall, dass ihm etwas zustöße, mehr als großzügig abgesichert seien. So hatte er sie, trotz ihrer erwachten Skepsis, immer wieder beruhigt. Hoffnung und Verzweiflung lösten sich ab. Manchmal bekam sie etwas Geld, dann monatelang gar nichts. Bald blieben jegliche Überweisungen an sie aus.

"Ich habe mich verspekuliert", kam ihr Bruder eines Tages zu Lena. Er unterrichtete sie davon ganz nebenbei. Fast ohne Bedauern. Kühl. Zuckte die Achseln. Als wolle er sagen: Na ja, so etwas kann schon mal passieren.
Lakonisch meinte er: "Jetzt bin ich bankrott. Den Banken schulde ich dreihunderttausend DM. Dein Geld ist ebenfalls futsch. Alles futsch!"
Sie fand heraus: Die Bankverträge, die Wohnung und Versicherungspolicen hatte es am Anfang wirklich gegeben, aber er hatte sie inzwischen ohne ihr Wissen aufgelöst und nun gab es nichts mehr

In ein Lügengespinst hatte der kluge, wortgewandte und oft auch liebenswerte Bruder viele Leute eingehüllt. Nicht einmal vor der Familie hatte er Halt gemacht. Hatte er die Betrügereien ausgeklügelt bis ins letzte Detail? Oder einfach in krankhafter Weise den Überblick verloren? Wirklich hatte er auch Lenas Geld verzockt in den Casinos zwischen Bad Dürkheim und Travemünde. Dass er ein Spieler geworden war, während sie in den U.S.A. lebte, hatte sie nach ihrer Rückkehr von niemandem erfahren, obwohl sich herausstellte, dass viele Bekannte es wussten.

*


Lena ist eine elegante Spaziergängerin. Ihr Mantel aus weißem Wollstoff mit Cashmere, in Baltimore gekauft, ist ein Modellstück und die Ozelotkappe sieht immer noch chic aus.

"Ich sollte umkehren", denkt sie, "es könnte ja sein, dass mein Liebling bereits zuhause ist." ‚Mein Liebling‘, das ist Robi, inzwischen vierzehn, der schönste Junge der Welt, ihr schwarzgelockter Sohn mit dem einzigartigen Robi-Lächeln. Sie fühlt eine Liebe, die ihr fast das Herz bricht. Seit zwei Tagen ist er jetzt wieder weg. Wo? Sie ist zu müde, ihn immer von Neuem aufzuspüren und aus Jugendkneipen oder gammeligen WGs herauszuziehen.

Im Kühlschrank steht das Mittagessen von gestern, das sie für ihn gekocht hat und die Mahlzeit vom vorgestrigen Abend. Sie denkt: "Wenn ich besser kochen könnte und ihm auch sonst mehr Gluckenhalt böte, dann hinge er vielleicht nicht so viele Tage und Nächte mit Leuten herum, die ich nicht einmal kenne ... Und er kifft ... das hat er ihr selbst gesagt!
Sinnlos, ihm ständig hinterher zu jagen ... Also, ich werde heim gehen und auf ihn warten."

Das Unwetter zerrt jetzt an den Fassaden der hohen Gebäude, Sturm verfängt sich an Giebeln, heult schaurig um Ecken und Erker. Was nicht niet-und nagelfest ist, wirbelt durch die Luft. Blechdosen rollen scheppernd übers Pflaster.

Zehn Uhr in der Frühe. Sonntagmorgen. Grauschwarz ist die einzige Farbe … trostlos, als trudle die Erde, aus den Angeln gehoben, beschleunigt einer Sintflut entgegen. Weltuntergang.

Matschige Melonen aus umgefallenen Abfalltonnen wirbeln Lena vor die Füße und blutiger Fleischabfall einer Metzgerei. Scheiben zersplittern.

Wie eine Feder im Wind will sie zurückfliegen zur Wohnung. Da schlägt ihr eine Bö ins Gesicht. Bretthart. Nimmt ihr die Luft. Haut sie um, sodass sie aus den Stöckeln kippt und hinstürzt. Fetzt ihr die Kappe vom Kopf. Die landet nach zickzackigem Flug ein paar hundert Meter weiter tief unten am Flussufer, als kleiner, dunkler Fleck sichtbar, aufgespießt im dornigen Gestrüpp der Koniferen. Niemand wird sie mehr von dort heraufholen können.

Lena rafft sich auf. Am Gestänge des Geländers krallt sie sich fest. Mit beiden Händen. Damit der Orkan sie nicht noch einmal von den Füßen reißt.

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