frühling in verdun

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anbas

Mitglied
frühling in verdun


dort wo elendig
menschen starben

mehr als 700 000

spaziere ich
durch überwaldetes

granatkrater
wohin man auch schaut
friedlich bewachsene narben
einer mörderischen zeit

noch immer
verbirgt
die erde tote

etwa 80 000

ein friedhof ohne kreuze

nicht identifizierte
unbekannt zerfetzte

rund 130 000

wurden zu namenlosen
die in der heimat betrauert wurden

und granaten
versteckt auf den feldern
des gemetzels

über 20 millionen

verrottende erbmassen
mit tödlichem finderlohn

bäume tragen erstes grün
und vögel zwitschern erfolglos
gegen die beklommenheit an
 

revilo

Mitglied
puuuuuhhhhh.....schwieriges Thema....meistens gehen solche Gedichte komplett in die Hose, weil sie entweder peinliche Betroffenheitslyrik oder selbstzufriedene politische Botschaften enthalten....das ist hier nicht der Fall, weil mit der letzten Strophe eine sehr unaudringliche Atmosphäre geschaffen wird, die frei von jeglichen Beleerungstendenzen ist.....

schönes WE vom heftig erkälteten revilo
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo Anbas,

ich wage mich mal an dein Gedicht heran. Revilo hat recht, das ist ein schweres Thema. Ich muss gestehen, so ganz will es mich noch nicht überzeugen.

dort wo elendig
menschen starben
Hier triffst du für meinen Geschmack durch die genauere Bestimmung, die das Wort "elendig" vornimmt, eine zu starke Eingrenzung. Nicht jeder ist hier elendig gestorben, manche ja, manche dagegen schnell oder mit einem Lächeln auf den Lippen, weil es für sie nichts schöneres gab, als das Opfer fürs Vaterland zu bringen. Außerdem lenkst du die Deutung des Lesers damit bereits hier auf einen bestimmten Punkt. Krieg ist ein hochgradig komplexes Thema, ich würde das elendig streichen.

"spaziere ich
durch überwaldetes"

Diese Stelle ist durch deine Entscheidung auf Großschreibung zu verzichten ein wenig irreführend, es wirkt als fehle das Substantiv auf den sich überwaldetes als Adjektiv bezieht oder es wird mit dem Granatkrater der nächsten Stophe verknüpft.

nicht identifizierte
unbekannt zerfetzte

rund 130 000

wurden zu namenlosen
die in der heimat betrauert wurden
Hier ist in meinen Augen ein Bruch zu den übrigen Zahlen, sie beziehen sich in den anderen drei Fällen auf den über ihnen stehenden Satz, in diesem auf den darunter stehenden.

"und granaten
versteckt auf den feldern
des gemetzels"

Hier habe ich die Felder des Gemetzels als zu pathetisch Empfunden. Ich finde gerade durch den Zusatz mit dem tödlichen Finderlohn könntest du hier zu einer etwas weniger drastischen Umschreibung greifen.

"bäume tragen erstes grün
und vögel zwitschern erfolglos
gegen die beklommenheit an"

Hier ist es ein bisschen wie beim Anfang des Gedichtes, durch das "erfolglos" grenzt du den Deutungsraum des Lesers auf ein Extrem ein und nimmst dem Leser so die Möglichkeit eines eigenständigen Fazits. Ich würde vorschlagen statt erfolglos bemüht zu setzen, so bleibt die Richtung erhalten, wird aber deutlich abgeschwächt.

Sind alles subjektive Eindrücke und ein bunt gemischtes Potporrie aus formalem und inhaltlichem. Vielleicht hilft es ja trotzdem ein bisschen.

Beste Grüße

Blumenberg
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
und vögel zwitschern erfolglos
gegen die beklommenheit an
"erfolglos" heißt: Sie haben eine Absicht. Sie wollen Beklommenheit auflösen, sind aber erfolglos darin.
Bei so einer Projektion des Betrachtergefühls können die armen Vögel das natürlich nicht schaffen.
Würde man tatsächlich zuhören, wie die Amselmachos sich gegen die anderen Männchen durchsetzen, unbekümmert um andere Wesen wie Ameisen, Menschen, Mücken, Maden und Spatzen, und die Spatzen wiederum gegen die anderen Ebengenannten, würde man deren Unbekümmertheit wahrnehmen. Und vielleicht auch die des Windes, der Wolken, der Sonne, der Gräser.

Das ist die Unbekümmertheit der Toten.
 
T

Trainee

Gast
Hallo anbas,
für mich in wichtigen Teilen ein gelungenes Gedicht. Aber eines, das
noch etwas Schliff vertragen könnte.
Zunächst zu den Zahlen: Aus der Rhetorik weiß ich, dass diese einen Text ungemein beschweren können und im Ohr des Hörers (hier Lesers) fast wirkungslos verhallen.
Insofern ist äußerste Beschränkung geboten.
Die ersten Verse könntest du aus meiner Sicht "kreatürlicher" gestalten. Etwa

dort wo menschen krepierten
und .. [material / Waffen / ...]

denn Blumenberg hat mit seinem Einwurf Recht.
Insgesamt wäre ein wenig Verdichtung nicht schlecht:


dort

wo menschen krepierten
mehr als 700 000
spaziere ich
durch [blue]überwaldete[/blue]

granatkrater
wohin man auch schaut
friedlich bewachsene narben
einer mörderischen zeit

noch immer
verbirgt
die erde tote
ein friedhof ohne kreuze

nicht identifizierte
unbekannt zerfetzte
wurden zu namenlosen
die in der heimat betrauert wurden

[strike]und[/strike] granaten versteckt
auf den feldern des gemetzels
[blue]verrottete[/blue] [blue]erbmasse[/blue]
mit tödlichem finderlohn

bäume tragen erstes grün
und vögel zwitschern unerschrocken (?)
gegen [strike]die[/strike] beklommenheit an
Kannst ja mal überlegen, ob du die Zahlen alle benötigst.
Und vielleicht einmal Granaten - durch Bombentrichter ersetzen o. ä. -

Verdun ist nach wie vor ein hochinteressantes und schreckliches Thema. Ich glaube während dieser Schlacht ist zum ersten Mal Giftgas zum Einsatz gekommen und der Krieg verlor jedwede verlogene Romantik: die "ritterliche" Auseinandersetzung unter Männern. - Guckstuauch:

https://www.leselupe.de/lw/titel-Bilder--1914-132113.htm

Schon deswegen ist dein Gedicht von großer Brisanz und (ein) wenig mehr.

Sehr gut finde ich das herausgearbeitete Kontrastprogramm. Das löst viel aus.

Liebe Grüße
Trainee
 

anbas

Mitglied
Hallo in die Runde!

Ich danke Euch für Eure Rückmeldungen und Anmerkungen, die ich z.T. auch nachvollziehen kann. Mal sehen - ich werde mir meine Gedanken machen.

Ja, es ist ein schwieriges Thema. Ich war kurz nach Ostern dort, und habe meine Eindrücke in dieses Gedicht einfließen lassen.

Was die Zahlen betrifft, so weiß ich um dieses Risiko. Hier hatte ich aber das Gefühl, dass sie nötig sind. Es sind die "kalten Fakten", welche das Unfassbare wenigstens etwas greifbarer machen. Man muss sie sich nicht merken, es reicht, dass sie angeführt werden. Somit sind sie hier auch so etwas wie ein Stilelement. - Aber auch über diesen Einwand werde ich noch mal nachdenken.

Vielen Dank auch für die bisher abgegebenen Wertungen.

Liebe Grüße

Andreas
 

Perry

Mitglied
Hallo Andreas,

bei aller zurückliegender Greuel kann ich dem Text sogar so was wie Hoffnung abgewinnen, denn vielleicht kehrt auf den aktuellen Kriegsschauplätzen irgendwann auch wieder Frieden ein. Vielleicht wäre das auch ein verbindender Schlussgedanke für deinen Text.
LG
Manfred
 

anbas

Mitglied
frühling in verdun


dort wo menschen
krepierten

mehr als 700 000

spaziere ich
durch überwaldete
granatkrater
wohin man auch schaut
friedlich bewachsene narben
einer mörderischen zeit

noch immer
verbirgt
die erde tote

etwa 80 000

ein friedhof ohne kreuze

nicht identifizierte
unbekannt zerfetzte

rund 130 000

wurden zu namenlosen
in der heimat
betrauerte

und dann die granaten
versteckt auf den feldern
des gemetzels

über 20 millionen

verrottende erbmassen
mit tödlichem finderlohn

bäume tragen erstes grün
und das zwitschern der vögel
verhallt in beklommener stille
 

anbas

Mitglied
Hallo in die Runde,

ich habe diesen Text nun überarbeitet und eine Reihe an Vorschlägen und Anregungen übernommen. Danke noch mal!

Jetzt interessiert mich natürlich, wie Ihr das Ergebnis findet.

Liebe Grüße

Andreas
 

Monochrom

Mitglied
Hi,

gefällt mir ganz gut, besonders

"verrottende erbmassen
mit tödlichem finderlohn"

Das Ende ist in der jetzigen Fassung besser.
Ich neige jedoch dazu, es nochmals aufzugreifen.

Ich glaube, nach den harten Zahlen im Mittelteil des Gedichts sollte es bei einer reinen Naturbetrachtung bleiben. Der letzte Vers trägt sehr viel pathos.

Warum nicht so:
"
bäume tragen erstes grün
und das zwitschern der vögel
verhallt in stille
"

So trägt sich die "Stille" in ihrer ganzen Pracht, in allen Facetten und wirkt viel mehr als mit einem Adjektiv behaftet.
Was für ein besseres Ende gibt es als die reine Stille.

Gerne gelesen,
Monochrom
 

anbas

Mitglied
Hi monochrom,

danke für Deine Rückmeldung!

Hinsichtlich Deines Vorschlags zur letzten Zeile werde ich noch mal in mich gehen. Ich kann Deinen Argumenten folgen. Doch im Moment habe ich beim Lesen das Gefühl, dass dann etwas fehlt, wenn ich das Adjektiv streiche. Näher begründen kann ich es nicht, es ist ein reines Bauchgefühl.

Liebe Grüße

Andreas
 

Monochrom

Mitglied
Wie wäre es mit:

und das zwitschern der vögel
schwindet in der stille

Finde ich gerade ganz gut.

grüße
monochrom
 

anbas

Mitglied
Hallo Monochrom,

vielen Dank fürs Mittdenken - ich empfinde es als hilfreich.

Hm,
"verhallen" gefällt mir schon recht gut. Da ist ein "Türchen" zu "nachhallen", was ja auch der Fall ist - die Erlebnisse hallen nach ...

Meine Überlegungen kreisen seit ein paar Tagen um

"verhallen in meiner stille"

Da käme der Aspekt der eigenen Sprachlosigkeit hinzu. Aber irgendwie fühlt es sich dann auch wieder nicht so gut an...

Lass mich/uns ;) gerne weitergrübeln - vielleicht kommt ja noch der richtige Einfall.

Liebe Grüße

Andreas
 

Monochrom

Mitglied
Hi,

das verhallen impliziert, dass es in der Stille etwas zurück kommt.
Das schwinden zeigt auf, dass es in der Stille vergeht.

Das sollte dann dem Autor überlassen werden, oder einer Diskussion über die gesellschaftliche Relevanz der historischen Begebenheit und ihres zeitlichen zerfallsprozesses.

Ich schätze jedoch, nach wie vor, dass eine reine naturbetrachtung besser wirkt. Und da schwinden laute, wenn sie in stille dringen.

Grüsse,
monochrom
 

anbas

Mitglied
frühling in verdun


dort wo menschen
krepierten

mehr als 700 000

spaziere ich
durch überwaldete
granatkrater
wohin man auch schaut
friedlich bewachsene narben
einer mörderischen zeit

noch immer
verbirgt
die erde tote

etwa 80 000

ein friedhof ohne kreuze

nicht identifizierte
unbekannt zerfetzte

rund 130 000

wurden zu namenlosen
in der heimat
betrauerte

und dann die granaten
versteckt auf den feldern
des gemetzels

über 20 millionen

verrottende erbmassen
mit tödlichem finderlohn

bäume tragen erstes grün
und das zwitschern der vögel
verhallt in stille
 

anbas

Mitglied
bin weiter dran ...

Hi,

meine Gedanken kreisen weiter. Das Adjektiv ist schon mal weg. Ich brauchte etwas mehr Zeit und Abstand, um zu entdecken, dass es tatsächlich besser ist, wenn ich hier noch mal streiche.

Das "hallen/verhallen" mag ich immer noch nicht ändern...

Aber ich werde weiter um diese Zeilen kreisen - mal sehen, wohin mich das bringt ...

Liebe Grüße und Danke fürs Dranbleiben.

Andreas
 



 
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