Frühlingsgefühle

An der Straßenbahnhaltestelle sitzen ungefähr zehn Leute, die allesamt Maske tragen, obwohl da noch weit und breit keine Bim zu sehen ist.
Einigermaßen geistesabwesend blicken sie geradeaus.
Dabei ist so ein herrlicher Tag mit blauem Himmel. Die Forsythien kommen auch schon raus und die Luft lässt sich wunderbar atmen, ist fast schon süßlich von den austreibenden Blütensäften.
Aber die Leute sehen gar nix, wie ich meine.
Schauen nur in die jeweilige Richtung, aus der sie ihre Straßenbahn erwarten.

Nur ich hab es gleich gesehen, aufmerksam, wie ich bin.
Wie ich so auf die Kreuzung zugehe, habe ich die beiden sofort gesehen.
War ja schon irgendwie auffällig, dass die zwei da so regungslos an der Ecke stehen und sich konsequent anschauen.
Ganz exponiert an diesem Straßeneck, aber an der Ampel warten die nicht, soviel steht fest.
Beide sind sie jung, ein junger Mann und eine junge Frau, vermutlich in ihren Zwanzigern.
Und beide tragen sie Brille und durch ihre Brillen schauen sie einander an und reden was.
Was sie reden, kann ich aus der Entfernung natürlich nicht erkennen, aber es scheint bedeutungsvoll.
Übers Wetter reden die bestimmt nicht.

Aber richtig warm ist es heute.
Der erste richtig warme Tag, an dem man noch nicht mal eine Jacke braucht.
Das Pärchen an der Kreuzung allerdings trägt einen dünnen Parka, jeder für sich.
Von ihrer Erscheinung her könnte man glauben, die zwei wollten einfach nur miteinander spazieren gehen an diesem frühlingsmilden Tag, aber das ist es nicht.
Näher komme ich, und die zwei reden immer noch. Es scheint etwas Ernstes zu sein.
Inzwischen habe ich die Haltestelle fast schon erreicht und kann sogar schon von der Anzeigetafel ablesen, dass die nächste Bahn in fünf Minuten eintreffen wird.
Die Wartenden mit Maske haben aber immer noch nicht kapiert, was nebenan abgeht.
Nur ich kann meinen Blick nicht von dem Pärchen wenden.
Ich ahne, dass gleich was passieren wird.
Es ist zu seltsam, das alles, und ich soll recht behalten.

Und dann hat er es wirklich gemacht.
„Nein!“ denke ich bei mir und ich schau der jungen Frau ins Gesicht und sehe, dass sie genau das Gleiche denkt.
Da hat sich der Typ auch schon hingekniet.
Fummelt in seiner Jackentasche herum und streckt seiner Freundin schließlich eine kleine Schatulle entgegen.
Die ist wirklich so entzückt wie es in den romantischen Filmen immer gezeigt wird und kann es scheinbar noch immer kaum glauben.
Freudig fängt sie an zu nicken, zieht ihren Freund zu sich hoch und fällt ihm um den Hals.
Die Augen an der Haltestelle folgen immer noch abwartend und gelangweilt dem Schienenstrang.

Nur vom Marktgelände heraufkommend wartet ein weißes Auto an der Ampel, das hat alles mitgekriegt.
Sitzen lauter junge Leute drin, die lassen das Fenster runter und jauchzen und rufen Glückwünsche herüber.
Also wenigstens die.
Das Pärchen winkt den Gratulanten dankbar grüßend zu, dann wird endlich der Ring angesteckt.
Das weiße Auto zieht johlend und hupend vorüber.
An der Haltestelle wird verständnislos kopfgeschüttelt.

Daneben das frischverlobte Paar schwebt ein paar gemeinsame Schritte und bleibt erneut stehen, um sich inniglich zu küssen.
Auch ich möchte ihnen freundlich zuwinken, aber die beiden haben nun nur noch Augen füreinander.
Die Verliebten schauen nicht ein einziges Mal in meine Richtung.
In den ganzen vier Minuten nicht, die es noch dauert, bis meine Straßenbahn einfährt.
 



 
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