Frühlingswanderung

Karinina

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Frühlingswanderung im Gebergrund

Wenn nach einem langen schneeigen und frostigen Winter der erste Hauch von Frühling durch unseren Garten zieht, überfällt mich diese mir sehr bekannte Sehnsucht nach dem Tal meiner Kindheit, dem Gebergrund.

Nicht jeder Winterausklang ruft dieses Gefühl in mir hervor, in den letzten Jahren waren die Winter wie verlängerte Herbsttage und der Übergang zum Frühling fast unbemerkt.

Vor zwei Jahren aber war der Winter lang gewesen, schneereich und von zwar wenigen, aber eisigen Tagen durchzogen und von Nächten, in denen am klaren Himmel sogar die Sterne vor Kälte zu zittern schienen.

Solche Winter mag ich. Sie geben mir das Gefühl, dass der natürliche Rhythmus meines Körpers ganz genau dazu passt. Und wenn dann zwischen den weißgetürmten Wolken am Himmel dieses "blaue Band" zu flattern beginnt, ja, dann ist es Zeit, an den Gebergrund zu denken. Wohlgemerkt: zu denken. Denn, was für Gründe es auch immer gab, die letzten 25 Jahre jedenfalls habe ich mir diese Sehnsucht nicht erfüllt.
Am ersten schönen Aprilsonntag vor zwei Jahren aber fuhr ich also los. Unten im Tal an der Straßenkreuzung zwischen Goppeln, Golberode und Gaustritz, unweit der ehemaligen "Mittelmühle", stellte ich mein Fahrzeug ab, schon dort wurde ich überrascht. Die große Wiesenfläche zwischen Straße, Bach und den Gaustritzer Hängen, die Tränenwiese, von der man sich erzählt, hier habe es während der Schlacht um Dresden ein Gemetzel mit Napoleons Truppen gegeben, war im vorderen Teil zu einem kreisrunden festgestampften Reitplatz geworden. Ich ging die Gaustritzer Straße etwas weiter hinauf und den mir so sehr lieb gewordenen Abzweig zwischen Gaustritzer Wiese und dem locker bewaldeten, steilen Abhang oberhalb der Tränenwiese hinunter zur ehemaligen Gebergund- oder Gaustritzer Mühle.
Zwischen den alten Bäumen und dem Gesträuch am Wegesrand konnte ich unter mir einen weiteren festen und mit Geländer eingefassten quadratischen Reitplatz sehen und etwas weiter Richtung der ehemaligen Mühle eine viereckige grautrübe Wasserfläche, mit niedriger Fichtenhecke umsäumt.

Etwas vermisste ich sofort, das Zitzebier der Vögel. Ob den Vögeln die Pferde nicht passten? Wie oft bin ich diesen Weg gegangen, mit meiner Mutter oder auch allein. Immer wurden wir vom Gesang der Vögel begleitet. Jetzt war es still. Die Sonne schien in das Gebüsch hinein und ins Tal hinunter, Buschwindröschen und Veilchen blühten wie damals und ein bisschen war die Luft tatsächlich von "Seide" erfüllt.

Ach, dieser Weg.

Meine Mutter hatte 1943 in der Gebergrundmühle ein Zimmer erhalten. Es lag im oberen Stock am Ende eines langen dunklen Ganges. Und obwohl es an drei Seiten je zwei Fenster hatte, lag es im Schatten der großen Bäume rund um die Mühle und immer im Dunkeln. Hier gab es keine Sonne. Was es gab, war das Rauschen des Baches und das Rauschen der Bäume. Elektrisches Licht hatten wir nicht. Wenn wir abends nach Hause kamen, zündete meine Mutter ein Talglicht an und ich musste ins Bett. Dann sah ich die Schattenspiele, die das blakende Licht von den Bewegungen meiner immer geschäftigen Mutter an die Zimmerdecke warf. Um so schöner war es, am frühen Morgen im hellsten Sonnenschein diesen Weg hinter meiner Mutter hinauf zu laufen, Licht und Vogelgesang zu genießen und oben im Dorf, Golberode, auf dem Gutshof zu spielen, oder die anderen Kinder auf der Dorfstraße zu treffen, und nicht mehr im Dunkeln und nicht mehr einsam zu sein.

Natürlich gab es andere Tage, Tage mit Regen und Schnee, mit Nebel und Kälte.. Aber immer gab es Licht auf diesem Weg und morgens führte er immer hinauf in das Leben...

Jetzt gehe ich hinunter und suche die Mühle.
Was ich finde ist ein übergroßer von Moos überwucherter Steinhaufen.
Ein einzelner Mühlstein liegt noch da. Dieser Mühlstein lag einstens am Aufgang zu der oberen Haustür. Vor dieser Haustür, bergan Richtung Gaustritzer Sommerfeld, befand sich eine Wiese voller Apfelbäume, im Frühjahr 1945 auch ein kleiner Erdbunker, in den wir gehen mussten, wenn die Sirenen heulten.
Vorn im Haus wohnte Frau R. mit Anneliese, die so alt war wie ich. Sie bekam später noch einen Bruder, und sehr viel später, in den fünfziger Jahren, fing ihr Nachthemd beim morgendlichen Anmachen des Ofens Feuer, im Krankenhaus ist sie gestorben.
Dann kam der bewusste lange Gang, von dem man geradeaus in unser dunkles Zimmer und seitlich über eine steile Treppe in die Bäckerei hinunter kam.

Neben dem Mühlstein lag damals geradezu der von Weinlaub überrankte Gastgarten der Mühlenbäckerei. Sie selbst war ein L-förmiges Fachwerkhaus mit zwei Hauseingängen, trat man aus diesen heraus, stand man sofort im Gastgarten. Im kurzen Teil des Hauses war eine kleine Gaststube und außen führte eine Sandsteintreppe hinunter zu der eigentlichen Mühle am Bach, die damals schon eine Ruine war und im vorderen Teil als Unterstellplatz für das kleine Gefährt und die Ziegen diente, mit denen Familie Uhlemann einmal in der Woche Brot und Brötchen in die drei Gebergrunddörfer fuhr.

Nun bot sich mir dieses traurige Bild, und der Steinhaufen war so hoch und so von Gestrüpp um- und überwachsen, dass er keinen Blick auf die eigentliche Fläche des abgetragenen Hauses, des Gastgartens und der Mühle erlaubte.

Nun gut, dachte ich, dann gehe ich halt über die Brücke und über den Bach und da werde ich schon das Gelände dahinter zu Gesicht bekommen....

Früher öffnete sich hier das Tal in eine üppige Wiese mit Gebirgsflora, hier wuchs zum Beispiel der wilde Storchschnabel mit seinen blauroten Blüten. Auf der Mühlenseite vom Bach zog sich das stark bewaldete Steilufer hinauf nach Gaustritz und Sobrigau, die man wiederum über eine Brücke und einen Hohlweg durch den Wald erreichen konnte. Auf der anderen Seite, nach Goppeln zu, lag hinter einer hohen Sandsteinmauer ein alter Weinberg mit einem Winzerhäuschen in der Mitte. Nach Goppeln führte eine steile Sandsteinstreppe an der Weinbergsmauer hinauf bis zur Straße, die die drei Dörfer verband.
Als ich in Goppeln in die Schule ging, fanden auf dieser Wiese die Maifeiern statt. Unser Oberlehrer hielt so eine Art Frühlingsrede und ließ uns Gedichte und Lieder vortragen. Wir Mädchen trugen lange Stöcke in den Händen, an denen oben Sträuße mit Frühlingsblühern angebunden waren, vorwiegend Wiesenschaumkraut.

Von der Wiese war leider nichts mehr da. Gleich hinter der alten Brücke verlief sich der Bach in einem morastigen Delta hinein in eine größere tröge Wasserfläche, die irgendwann in den Siebzigern angestaut worden war, um Erdbeer- und Tomatenplantagen um Kauscha herum zu bewässern.
Jetzt lag sie bleiern in der Frühlingssonne, nur ein Wildentenpaar zog am Waldufer drüben still und gemessen seine Kreise. Von sonstigen Vögeln höre ich nichts. Früher lebten neben den vielen Vögeln des Mischwaldtals auch der Kuckuck und sogar Fasane hier. Dafür überfällt einen statt Vogelsingsang ein unglaubliches Getöse, ein Klatschen, Rattern, Heulen, wieder Klatschen, der Autoverkehr auf der Autobahn A 17 Dresden- Prag. Die Autobahnbrücke überquert das Tal. Eine kurze Brücke und soviel Lärm. Ein junges Anglerpärchen sitzt am Ufer des angestauten Wassers, Stöpsel ihrer MP3-Player im Ohr. Ich gehe an ihnen vorbei, sie bemerken mich nicht. Ich bin erschrocken, denn nun fällt mir die Waldschlößchenbrücke ein. Wie wird es dort werden? Wer soll dort noch entspannt spazieren gehen können? Ich fürchte, die Dresdner werden eine böse Überraschung erleben.

Es sind also nicht die Pferde, die die Vögel vertrieben haben...

Vom Ufer aus kann ich trotz aller Bemühungen nichts vom alten Mühlengelände einsehen, alles ist auch von dieser Seite mit Gestrüpp überwuchert.
Ich steige hinter dem alten Weinberg hinauf auf den höher gelegen Wanderweg nach Kauscha, von hier kann ich zwischen den noch kahlen Bäumen drüben im Wald den alten Hohlweg sehen, auf dem ich mit einem Kerl aus Sobrigau meine ersten Küsse wechselte. Er endet am Wasser. Langsam gehe ich wieder Richtung Goppeln zurück, an neuen Einfamilienhäusern vorbei, bis zur Straße.

Zwischen zwei alten Zaunlatten klemmt ein ramponiertes Schild mit dem Hinweis auf das Naturschutzgebiet, darunter liegt ein frischer Hundehaufen. Ja, was soll hier eigentlich auch noch schützenswert sein? Der grautrübe Wassertümpel vielleicht, der ein einzigartiges Biotop überflutet hat?
Oberhalb der Straßenbiegung, hinter der ehemaligen Goppelner Dorfmauer, lag "Bielacks Weinberg", hier hatten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts um eine gut besuchte Gaststätte einige Maler der Dresdner Schule einquartiert. Die Aussicht von hier über die im Frühjahr üppig blühenden Obstbäume auf den Hängen jenseits des Grundes hinauf in die beiden Dörfer Gaustritz und Golberode bis zur Babisnauer Pappel boten, neben dem Grund selbst und dem schon in alten Urkunden erwähnten "Malermühlgen" auf Golberoder Flur, die schönsten Motive für die sich damals neu entwickelte "Naturmalerei". Jetzt gehört das Gelände zum Goppelner Kloster.

Ich wende mich zur alten Treppe, die entlang der Weinbergsmauer wieder hinunter ins Tal führt. Es ist ein schwieriger Abstieg, die ausgetretenen Stufen liegen schief und unterschiedlich hoch und der eiserne Handlauf soweit weg von den Stufen, dass er mir keine Hilfe ist.

Mein Spaziergang ist zu Ende gegangen.

Wenn ich daran denke, dass der Gebergrund im unteren Lauf mit zu den ältesten Siedlungsgebieten in Mitteleuropa zählt, empfindet man Ehrfurcht. Vor dem Bau der Zubringer zur Autobahn A17 wurden im Kauschaer und Nickerner Gebiet des Gebergrundes rund 7000 Jahre alte Besiedlungsreste archäologisch erfasst. Es ist sozusagen das "Frühlingsgebiet" des Lebens hier im Einzugsbereich der Elbe.
Und Mühlen? Seit wann wird es Wassermühlen im Gebergrund gegeben haben? Drei Mühlen zwischen Rippien und Kauscha sind urkundlich belegt, die bekannteste ist die Gebergrund- oder Gaustritzer Mühle gewesen. Die Gebergrunddörfer sind um 1200 urkundlich erwähnt, also wird um diese Zeit auch schon eine Wassermühle hier betrieben worden sein.
Ob es schon die Mühle war, in der Maria Ohrisch im 17. Jahrhundert gelebt hat, weiß ich nicht
Wenn ich über ihr tragisches Schicksal berichten will, werde ich das meiste aus ihrem Leben erfinden
müssen.
Tatsache ist nur, dass sie im Mai 1687 auf dem Galgenberg bei Lockwitz enthauptet worden ist. Und aus den wenigen Unterlagen, den Einträgen in den Gerichtsbüchern und den alten Wege- und Straßennamen geht lediglich hervor, dass das Tal damals noch bis weit in die Höhenlagen hinauf von Mischwald, vorwiegend Bergahorn, bedeckt gewesen sein muss.
Wenn Sie sich dafür interessieren, weshalb sie hingerichtet wurde, dann will ich es Ihnen erzählen. Und vielleicht verstehen Sie manches besser, wenn Sie das Tal vor Augen haben, in dem sie gelebt hat....
 



 
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