Fünf lange Jahre

4,50 Stern(e) 2 Bewertungen
Ins Leben wurde sie geworfen
aus Jux und Unachtsamkeit.
Aufwachsen musste sie
zwischen schmierigen Pizzaschachteln,
leeren Dosen und Flaschen,
verkrustetem Spritzbesteck
und riesigen Fernsehgeräten,
die Tag und Nacht plärrten.

Gefehlt hat es stets an allem,
außer an Lärm,
Schimpfworten,
Ohrfeigen,
und süßen Limonaden.

Alle paar Monate
brachte die Mutter
einen neuen Mann ins Haus,
an dem allerdings
selten etwas neu war,
außer der Haarfarbe vielleicht
oder den farbenprächtigen
Bildern auf der Haut.

Statt zu reden,
hat sie nur stammeln gelernt,
und statt zu lächeln,
eine Fratze zu schneiden.

Ihre Zeit verbrachte sie
lautlos in ihrem Winkel
zwischen den beiden
über Eck stehenden Sofas,
auf denen die Erwachsenen
mal dösten,
mal stritten,
mal aßen
oder mit verquollenen Augen
einem besseren Leben
entgegen fieberten.

Das wenige Spielzeug,
das ihr gehörte,
war zumeist weggeschlossen,
denn Kinderspiel verursacht
zuweilen störende Geräusche.

Mit der Zeit erschuf sie sich
eine eigene Welt
nur in Gedanken.
Doch mit den wenigen Worten,
die sie besaß,
war eine schöne Welt
nicht zu träumen.

Mitunter wurde sie auch
geherzt und gestreichelt.
Doch sie fürchtete das;
denn sie wusste aus Erfahrung,
dass es kurze Zeit drauf
nur umso ärger werden würde.

Als sie endlich groß genug war,
das Balkongeländer zu erklimmen,
zog sie sich eines frühen Morgens
dort hinauf,
und verweilte einen kurzen Augenblick,
erschauernd angesichts
der kalten Ödnis der Trabantenstadt,
in der, was sie nicht wissen konnte,
unzählige Kinder
nicht anders lebten als sie.

Entschlossen lockerte sie
den Griff ihrer kleinen Hände,
dem Schicksal abringend
ein wohl kaum länger als zwei Sekunden
dauerndes Gefühl
von Freiheit und Glück.
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Robert,

der Text gefällt mir sprachlich, aber inhaltlich habe ich da so meine Probleme.
Das liegt vor allem daran, dass Selbstmord ein ziemlich reifer Akt ist - neben anderen Faktoren natürlich - und ein Bewusstsein von der eigenen Situation vorhanden sein muss. Man kann nur denken, wofür man Worte hat und wenn man keine Worte hat, kann man nur fühlen. Fühlt man den Todeswunsch, oder ist die Frage nach dem Wert des eigenen Lebens eine rationale? Wissen kann ich das nicht, so wenig wie Du.
In dem (Vorschul-) Alter kennt man nichts anderes und ein Kind liebt seine Eltern, weil es muss. Ich sehe da eher das Drama des Todes durch Vernachlässigung (verhungert) oder durch Gewalt.
Hier scheint mir eher eine Projektion eines erwachsenen Ichs auf die Situation eines Kindes vorzuliegen. Aber wie gesagt, wissen kann ich es nicht.

Liebe Grüße
Petra
 

anbas

Mitglied
Hallo Robert,

mir geht es wie Petrasmiles. Da ich aber weiß, dass es auch bei Kindern Suizide gibt, habe ich mal nachgegooglet: Unter 10 Jahren kommen Suizide so gut wie nicht vor.

Es ist tatsächlich so, dass misshandelte Kinder sehr oft ihre Eltern lieben und eher sich selber die Schuld all das geben, was sie erleiden müssen.

Wie gesagt, das Gedicht an sich finde ich gut - nur passen ein paar Fakten einfach nicht.


Liebe Grüße

Andreas
 



 
Oben Unten