Fünfzehn Schritte

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Eowyn

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Grau in Grau zerfloss das Panorama vor der Windschutzscheibe. Regentropfen perlten an der Außenseite der Fenster nach unten, zeichneten unförmige Linien auf das Glas. Stetes Trommeln auf dem Autodach war das einzige Geräusch, das die sonstige Stille durchbrach.
Bis zum Wald, der nur schemenhaft zu erkennen war, waren es nur einige Meter. Fünfzehn Schritte um genau zu sein – in normalem Tempo. Wenn man rannte, war der Weg mit weniger zu schaffen. Ging man allerdings langsam, fast zögerlich, so brauchte es mehr.
Fünfzehn Schritte, die über alles entschieden. Mark würde keinen mehr oder weniger brauchen. Stattdessen zielstrebig seinem Schicksal entgegentreten, das hatte er sich geschworen.
Die Glock auf seinem Schoß wog schwer und verströmte zugleich ein beruhigendes Gefühl. Mark würde nicht zögern. Er wusste, was zu tun war und es musste erledigt werden. Zu lange hatte er auf diese Gelegenheit gewartet, sie immer wieder hinausgeschoben. Nicht mehr länger!
Weder würde er sich Ausflüchte oder Entschuldigungen anhören noch Beschimpfungen über sich ergehen lassen.
Die Zeit heilte keine Wunden. Narben blieben immer, manche deutlich sichtbar, andere blass, doch Probleme konnten sie einem trotzdem noch bereiten. Und manche Wunden rissen immer wieder von Neuem auf, ohne jemals zu verheilen.
Mark nahm die Waffe zur Hand. Er ließ das Magazin herausgleiten. Voll geladen. Kein Entkommen.
Sein Blick glitt zu dem schwarzen Porsche Panamera, der auf der anderen Seite des sonst völlig verlassenen Parkplatzes stand. Ein schöner Wagen, vor allem verglichen mit seinem eigenen alten VW Polo. Der Porsche spiegelte perfekt den Charakter seines Besitzers wieder: Seine Überlegenheit, Zielstrebigkeit, seinen Stolz.
Soweit er erkennen konnte, war das Auto leer. Nur die Rücksitze waren durch die getönten Scheiben nicht einsehbar.
Ob Stefan jemanden mitgebracht hatte? Irgendjemandem erzählt hatte, wohin er unterwegs war? Mark konnte es sich nicht vorstellen.
Alina, Stefans Frau, mochte Mark nicht – nicht mehr. Wenn sie nur die Wahrheit über ihren eigenen Mann kennen würde! Aber solche Details würde sie nie erfahren.
Die Polizei würde am Abend oder kommenden Morgen an ihrer Tür klingeln und ihr erklären, dass sie Witwe war. Und ihre Tochter eine Halbwaise.
Wenn er an Sarah dachte, die kaum laufen konnte und sich vermutlich nicht einmal an ihren Vater würde erinnern können, wurde ihm das Herz schwer. Gleichzeitig zwang er seine Gefühle wieder zurück. Es brachte nichts, wenn er sich selbst ein schlechtes Gewissen einredete. Stefan, an seiner Stelle, würde sich davon nicht aufhalten lassen.
Mark konnte sich diese Gefühlsduselei nicht erlauben. Nicht jetzt. Sein Entschluss stand fest.
Die Intensität des Regens ließ allmählich nach. In der Ferne lockerte die Wolkendecke etwas auf und zeigte hellere Schichten darüber.
Er würde noch warten. Stefan würde Geduld zeigen. Er musste es.
Bei dem Gedanken daran, wie unruhig Stefan früher immer geworden war, wenn man ihn warten ließ, breitete sich ein bitteres Lächeln über sein Gesicht aus.
Mehr als einmal hatte er die aufbrausende Art seines ehemaligen Freundes selbst erlebt. Wenn er wieder einmal zu spät in einer Bar erschien oder ihn im Auto warten ließ, weil er die Zeit vergaß und sich vor dem Computer verzockte.
Es war nicht einmal allzu lange her, da waren sie beste Freunde gewesen. Schon zur Schulzeit hatte man sie kaum voneinander trennen können, was sich auch während des Studiums nicht änderte. Auch hatten sie kaum Geheimnisse voreinander gehabt.
Doch manche Dinge konnte man einfach nicht verzeihen, so wie sich manche Ereignisse nicht vergessen ließen.
Mark würde sich noch ewig an den Tag erinnern können, der auf einen Schlag alles veränderte. Der Tag, der ihn für alle Zeit geprägt hatte.
Sie waren oft zu viert unterwegs gewesen: Stefan mit Alina und Mark mit Sofie. Früher hatten Stefan und er immer die Köpfe geschüttelt, wenn andere von Pärchentreffen sprachen. Und dann wurden sie selbst zu so einem Gespann. Aber sie verstanden sich alle vier sehr gut. Vielleicht ein bisschen zu gut.
Denn eines Tages erfuhr er, dass Stefan mit Sofie im Bett gelandet war. Ein Fehltritt, den er nur schwer verzeihen konnte, doch er tat es trotzdem. Weil er Sofie über alles liebte und weil Menschen nun einmal Fehler begingen.
Dann bemerkte Sofie, dass sie schwanger war und dass das Kind auf keinen Fall von Mark sein konnte. Ein weiterer Schlag ins Gesicht, wünschte er sich doch nichts sehnlicher als ein gemeinsames Kind mit ihr.
Auf seine Erklärung, er würde auch Stefans Kind akzeptieren, wollte sie jedoch nicht hören. Und erst später erfuhr er, dass sein bester Freund sie bedrängt hatte, es abtreiben zu lassen. Alina sollte von alledem niemals erfahren.
Aber da war es bereits zu spät gewesen. Ob es die Schuldgefühle waren oder die Verzweiflung, konnte er nicht genau sagen. Jedenfalls tötete Sofie nicht nur das Kind in ihrem Körper, sondern nahm sich gleichzeitig das eigene Leben.
Stefan wies alle Schuld von sich und warnte ihn davor, Alina etwas zu erzählen. Seine Frau erfuhr nur das, was er wollte und so war Sofie das tragische Opfer ihrer Depressionen geworden.
Eine Lüge, die sich ein weiteres Mal tief in Marks Fleisch bohrte. Sofie war der Inbegriff der Fröhlichkeit gewesen, hatte stets gelacht, ihn mit ihrer Lebensfreude angesteckt und sein Leben mit Licht erfüllt.
Den Verlobungsring, den er ihr nicht mehr schenken konnte, trug er seitdem in seiner Brieftasche mit sich. Ebenso wie ihr Bild, das er auf ewig in seinem Herzen behalten würde.
Stefan versuchte, ihn abzulenken, doch die Gleichgültigkeit, mit der er dem Tod Sofies begegnete, ließ den Graben zwischen ihnen immer tiefer werden. Mark verfiel dem Alkohol und wurde in die Einsamkeit getrieben.
Vor zwei Monaten hatte er bei Stefan geklingelt – wollte ihn zur Rede stellen. Stattdessen war ihr Gespräch in einer Schlägerei geendet, die nur Alina stoppen konnte. Sie hatte ihn gewarnt, sich ihnen nicht noch einmal zu nähern, da sie ansonsten die Polizei rufen würde.
Nun würde die Polizei zu ihr kommen. Sie würde die gleiche Endgültigkeit einer Nachricht erfahren, die Mark vor einem dreiviertel Jahr über Sofies Schicksal erhalten hatte. Man hatte sie in ihrer Badewanne mit aufgeschlitzten Pulsadern entdeckt. Stefan würde man mit einer Kugel im Kopf finden.
Der Regen hatte sich mittlerweile zusammen mit den schwarzen Wolken verzogen. Vereinzelte Sonnenstrahlen lugten zwischen den dünneren Wolkenschichten hervor, die an einigen Stellen aufgerissen waren.
Ein einsamer Strahl fiel direkt auf den Weg, der vor ihm lag. Einem Hoffnungsschimmer gleich.
Doch Hoffnung existierte nicht. Sie war so trügerisch, wie das Leben selbst, denn heute würde es zwei Tode geben. Sein eigener jedoch würde niemandem als tragische Nachricht überbracht werden. Es gab niemanden mehr, der für ihn eine Träne vergießen würde.
Sofie war der Anker in seinem Leben gewesen. Als ihre Kette riss, trieb ihn der Sturm aufs Meer hinaus. Die Wellen hatten ihn längst gebrochen, nur ein Stück Treibholz bot ihm einen letzten, rettenden Halt.
Aber er würde nicht zurück an Land schwimmen. Stattdessen würde er sich dem Meer stellen, das bereits alles andere ertränkt hatte.
Stefan war auf seinen Vorschlag für ein aussöhnendes Gespräch bereitwillig eingegangen – kein bisschen skeptisch. Vielleicht hoffte er tatsächlich, es würde wieder zwischen ihnen werden, wie es einmal gewesen war.
Vergebliche Hoffnung.
Mark stieg aus seinem Wagen und fixierte den Pfad, der zwischen ihm und dem Ende lag. Hinter der grünen Wand wartete bereits der Tod.
Bis er die ersten Bäume erreichte, zählte er genau fünfzehn Schritte.
 



 
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