Für immer

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Sammis

Mitglied
Für immer

Nur mehr fünfzehn Meter trennen mich vom Waldrand. Ich taumele, immer häufiger wird mir schwarz vor Augen. Dann stürze ich. Das letzte Stück schleppe ich mich auf allen vieren voran, mit buchstäblich letzter Kraft ziehe ich mich ins Unterholz.
Die hereinbrechende Nacht verschling die Dämmerung, was mir recht ist.
Unten, vom Dorf her, am Fuß des Hügels, sind noch immer Schüsse zu hören. Mir wird kalt. Nur mehr schemenhaft kann ich die Silhouetten der Häuser ausmachen.
Wieder ein Schuss, ein Schrei, noch mehr Schüsse.
Dann Ruhe. Plötzlich ist es still. Mit bangem Herzen erwarte ich Verfolger. Niemand kommt.
Immer rascher wird es dunkler, wird es kälter. Unerträglich kalt, einmal mehr wird mir schwarz vor Augen.
Dann schmecke ich Blut. Mein Blut. Mir wird übel.
Würgend übergebe ich mich, krümme mich vor Schmerz, keuchend ringe ich um Atem.
Einzig das kühle feuchte Moos, in welches ich meine glühende Stirn presse, bringt ein wenig Linderung, spendet mir Trost.
Mit klammen Fingern streifte ich die Mütze von meinem Kopf, um noch tiefer in diesen Trost hinein flüchten zu können.
Dann ist auch das vorbei.
Kein Trost mehr, kein Fliehen, keine Linderung.
Was bleibt, ist Angst. Kälte, Erschöpfung, Schmerzen und namenlose Angst.
Ich beginne zu weinen. Kein leises Weinen, kein Wimmern oder Schluchzen ist es, es ist ein Weinen, welches sich aus Hoffnungslosigkeit erbricht. Aus entsetztem Begreifen meiner Lage, aus der schrecklichen Gewissheit um das bevorstehende Ende.
Ein schreiendes Weinen aus Todesangst.
Plötzlich ist auch das vorbei.
Die Tränen versiegen, die Angst verfliegt, die Kälte wird erträglich und die Schmerzen zu einem dumpfen, nebensächlichen Etwas. Alles, was jetzt noch bleibt, ist Gewissheit. Das Wissen, dass es vorbei ist, dass ich endgültig verspielt habe.
Auch weiß ich, spüre ich, dass es nun nicht mehr lange dauern wird. Mit jeder weiteren verstreichenden Sekunde weicht das Leben von mir zurück, fühle ich mich dumpfer, ferner von mir selbst.
Was bleibt nun noch übrig?
Was ist noch zu tun?
Sollte ich beten? Um Verzeihung bitten?
Aber bei wem und wofür?
Ich glaube weder an Gott, noch an ein Leben nach dem hier und jetzt; und dieses ist nun gleich zu Ende.
Ich fühle mich leicht. Leer. Und – irgendwie enttäuscht.
War das alles? War das wirklich alles?
Wut keimt in mir auf. Wut auf mein Schicksal und mehr noch auf mich selbst.
War das alles!?
War das alles, was ich erreicht habe? Alles, was ich mit meiner Zeit habe anzufangen wissen?
Was hatte ich alles erreichen wollen! Welch tolle Ideen hatte ich. Immer hatte ich geglaubt, zu Höherem bestimmt zu sein. Zu mehr in der Lage als der Rest. Für kreativ hatte ich mich gehalten. Etwas erschaffen wollte ich, der Welt etwas hinterlassen, sie auf mich aufmerksam machen, sie um manches erweitern und bereichern. Auch Geld wollte ich haben, viel Geld; für all die schönen nutzlosen Dinge. Ein großes luxuriöses Haus und ein schnelles Auto. Einen Porsche. Besser zwei oder drei.
Kurz schleicht sich ein halbes Lächeln auf meine Lippen; selbst in der Stunde meines Todes gebe ich mich solch naiven Fantasien hin.
Dabei weiß ich doch, wie flüchtig kurze Freuden sind. Wie überflüssig und wertlos, wenn die wichtigen Dinge fehlen. Anerkennung ist wichtig. Selbstachtung und Daseinsberechtigung. Auf Gesundheit ist zu achten und auf geistige und körperliche Fitness. All das scheint mir wichtiger und erstrebenswerter; und ist auf vielfältige Weise zu erlangen. Auf mancherlei Art lässt sich Geist und Körper formen, straffen. Anerkennung ist in unterschiedlichster Form zu finden und damit einher geht immer Daseinsberechtigung.
Daseinsberechtigung – der eigentliche Sinn im Leben.
Das begreife ich jetzt.
Zu wissen, ich bin wofür da. Ich habe etwas zu tun, etwas zu vollbringen. Mein Leben hat ein Ziel, nur ein kleines vielleicht, aber ein Ziel. Nur ein vorübergehendes, vielleicht banales, aber ein Ziel. Und dann noch eines und noch eines und noch eines.
Mein Leben hat Ziele und ich versuche sie zu erreichen. Mein Leben hat einen Sinn.
Ich verfolgte Ziele. Nur waren die zumeist sehr eigennützig gewesen.
Warum habe ich nie viel für andere getan? Warum waren meine Ziele fast ausnahmslos zu meinem Wohl bestimmt gewesen? Warum habe ich nichts Nützliches, Selbstloses oder Wohltätiges getan?
Öfter hätte ich einen anderen Menschen über mich selbst stellen sollen. Auch das bringt Anerkennung, auch das berechtigt Sein.
Nur was nützt mir die Erkenntnis jetzt noch?
Es ist zu spät. Es ist vorbei.
Jetzt noch darüber nachzudenken erscheint mir unsinnig. Genauso gut könnte ich fragen, warum ich nie einen Achttausender bestiegen, nie in die Tiefsee zu tauchen versucht habe.
Reinkarnation flammt in meinen Gedanken auf.
Wiedergeboren werden, eine neue Chance erhalten.
Neu anfangen können, manches besser machen.
Nur werde ich als Mensch wiederkehren?
Vielleicht als ein Hund. Ein Golden Retriever wäre ich dann gern, den lieben alle. Oder auf samtig weichen Pfoten als Katze durch die Welt schleichen. Immer ein Zuhause, wo Menschen mich sehnsüchtig erwarten, mir zu fressen geben, mir den Bauch kraulen. Und wenn ich genug habe, bin ich weg. Frei. Davonschleichen auf leisen Sohlen.
Der Gedanke gefällt mir. Nur daran zu glauben fällt mit schwer.

Bezaubernd ist der Duft des kühlen Mooses. Bezaubernd sind die Sterne am Firmament. Bezaubernd schön ist es hier am Waldrand. Hierher würde ich schleichen. Hierhin möchte ich zurückkehren, wenn es soweit ist.
Dumpf fühlt es sich an. Fern klingen meine eigenen Gedanken.
Kalt ist mir nimmer. Schmerzen fühle ich keine mehr.
Angst ist keine geblieben und der Tod nicht mehr als ein Wort.
Dumpf wird alles. Dumpf und sehr leise.
Hierher werde ich schleichen. Hier werde ich dann bleiben.
Für immer.
Für immer.
 
Zuletzt bearbeitet:

Matula

Mitglied
Hallo Sammis,

das ist ja herzzerreißend! Bis zuletzt wollte ich wissen, warum Dein Protagonist angeschossen wurde. Ein Wilderer? Ein Deserteur? Ein Einbrecher? Aber darum ging es Dir offenbar nicht.
Was die Reinkarnation betrifft, kann ich nur sagen, dass auf dem Wiener Zentralfriedhof eine verdächtig große Zahl von wohlgenährten Feldhamstern lebt. Sie fressen Grabkränze und schlecken weiches Kerzenwachs aus den Grableuchten. Sie streiten und raufen viel, halten aber bei Gefahr zusammen. Da fragt sich schon, ob die alte Theorie, dass jeder Wiener als Dackel wiedergeboren wird, noch aufrechtzuerhalten ist.

Schöne Grüße,
Matula
 

Sammis

Mitglied
Hallo!

Den zankenden Hamster zöge ich vor. Ein Dackel – ich weiß nicht …

Wenn es zu Ende geht, ist es, glaube ich, egal wodurch.
Danke fürs Lesen, deine Worte und die Sterne.

Beste Grüße und viel Freude beim Schreiben
 



 
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