Fukushima

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Dimpfelmoser

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Fukushima

Vielleicht noch drei Monate, hat er gesagt. Versuchen Sie, ihre guten Tage zu genießen, hat er gesagt. Und besprechen Sie mit Ihren Angehörigen frühzeitig, was immer Sie für, naja, Sie wissen ja, was immer Sie halt noch regeln möchten. Das hat er, das hat dieses Arschloch tatsächlich gesagt. Was ich regeln möchte, na klar. Was weiß der denn schon. Was ich regeln möchte. Verdammt, ich will nichts regeln, ich will machen. Leben will ich. Ich will den Malle-Trip im Herbst mit den Jungs. Unseren 26. Hochzeitstag, endlich mal wieder in Paris. Ach, Scheiße, genau, ist ja schon der 27. Und Maries Geburtstag in … mein Gott, in achteinhalb Monaten. Das will ich machen. Vielleicht noch drei Monate … was ich regeln möchte … So eine Scheiße. So eine verfickte Scheiße!

Du sitzt in deinem Dienstwagen, bist aber nicht imstande zu fahren. Deine Hände umklammern das Lenkrad und wollen es zerquetschen. Die Knöchel laufen rot an, doch irgendwann gibst du nach, der Schmerz befiehlt deinem Verstand, den Druck zu reduzieren, deinen Fingern etwas Entspannung zu gönnen. Du bist wütend, so unendlich wütend, weißt nicht, wohin mit dieser Wut. Deine Gedanken fahren Achterbahn, drehen Runde um Runde um Runde.

Am Wochenende ist doch Training. Das kann ich den Jungs doch nicht erzählen. Keinem kann ich das erzählen. Das ist doch nicht fair. Aber klar, fair spielen zählt ja nichts mehr in dieser scheiß Zeit. Wenn ich jetzt auf dem Platz wäre, da könnten die alle mal sehen, was es heißt, nicht fair zu spielen. Alle aus dem Weg räumen würde ich. Verdammt, einen Libero würde ich euch machen, den ihr noch nicht gesehen habt. Libero, Scheiße, manche von den Jungs kennen doch nicht einmal mehr das Wort. Euch würde ich es zeigen. Wollen alle Spiele am liebsten ohne Verteidigung gewinnen. Leute, wisst ihr eigentlich noch, wer der Beckenbauer war? Na klar, der hat die WM zu uns geholt, auch schon wieder eine Ewigkeit her. Aber auf dem Platz, was war das ein geiler Spieler, was für ein Libero. Ein echter Leader, einer, der sagt, wo es lang geht. Meine Rolle, mein Job. Genau, ein echter Kapitän, immer vorne weg, so wie das sein muss. Irgendeinen Wichser würde ich mir da ausgucken, nach allen Regeln der Kunst in den Rasen stampfen würde ich den. Drei Tage Intensivstation, mindestens. Aber nein, ich hocke hier in dieser Karre und lasse mich aus dem Verkehr ziehen. Für immer. 60 Riesen haben sie mir für diese Kiste zugestanden, diese Kackfirma. Tolles Budget, hat so gerade gereicht. Ich rette euch den Arsch mit diesem ganzen, diesem ganzen Driss. Energiekosten, Personalkosten, scheiß auf die Kosten. 60 Riesen für einen Leichenwagen, herzlichen Glückwunsch. In den Rasen treten würde ich den. Denkste, Alter, in den Rasen gestampft, in die feuchte Erde gesteckt wird nur einer. Ich selber. In drei Monaten. Drei Monate gibt er mir noch. Vielleicht.

Nach Hause fahren, das packst du immer noch nicht. Du überlegst, ob du es doch deiner Frau erzählst. Bislang hast du versucht, dir nichts anmerken zu lassen. Klar, die Kopfschmerzen, du hattest ein paar ziemlich stressige Monate in der Firma. Hast dein Team durch den aufwändigen Reorganisationsprozess geführt. Dann die ganzen Umstellungen in der Kostenrechnung. Weil diese ganzen Amateure in der Regierung durchdrehen, vor allem diese Weltverbesserer, diese grüne Mischpoke, so nennst du sie gerne und recht häufig. Die Energiewende treibt die Firma in den Abgrund, erzählst du ihr gerne abends beim Essen. Und jetzt machen die tatsächlich alle AKWs dicht. Irre, einfach irre, oder? Wie soll man da noch klar im Kopf bleiben? Da muss das Schädelbrummen doch einfach chronisch werden. Aber so ist er halt, dein Job. Zum Arzt bist du trotzdem gegangen, denn irgendwann wusstest du, dass da mehr ist als nur der Stress im Büro, der stetig von Innen gegen deine Stirn hämmert. Und jetzt hast du die Diagnose, und weißt nicht mehr, was du machen sollst. Du bist der Leader, der Kapitän, der die Kontrolle verloren hat. Realisierst, dass es rein gar nichts gibt, was du jetzt noch tun kannst, um dies zu ändern. Du machst das Autoradio an, um das Chaos deiner Gedanken mit irgendeinem Geräusch zu ersticken. Gerade laufen die Nachrichten, und es geht, na klar, mal wieder um diese Umweltchaoten. „In der Pressekonferenz erklärte der Bundeswirtschaftsminister …“ - dein Gedankenkarussell nimmt erneut Fahrt auf.

Oh man, diese Scheiße kann ich mir nicht mehr anhören. Der grüne Oberspinner, der hat diese Klima-Kleber doch persönlich auf die Straße geschickt. Ich fasse es echt nicht, warum gibt sich Marie bloß mit diesem Gesocks ab? Will sich allen Ernstes demnächst selber irgendwo ankleben. Am besten direkt vor der Firma. Herrgott, Tochter, irgendwann musst du es doch kapieren, dass die Welt so nicht funktioniert. Aber nein, du hast die Weisheit ja mit Löffeln gefressen. Von mir hast du das aber nicht. Möchte mal wissen, was die dir in deiner WG in deinen vegetarischen, veganen, was weiß denn ich, Tee kippen. Und mein Holzfällersteak gehört natürlich auch verboten. Von wem hast du das bloß? Ein toller Besuch war das. Wie lange ist das her, sechs, sieben Wochen? Immer dieses Gerede, ihr tut nichts für unsere Zukunft, euer Wohlstand macht die Zukunft meiner Generation kaputt. Klar, mein Steak macht deine Zukunft kaputt. Außerdem waren da viel zu wenig Zwiebeln dran. Und zäh wie die Hölle war das Zeugs auch noch. Aber vielleicht gerade die richtige Henkersmahlzeit. Altes Fleisch für totes Fleisch, mehr bin ich doch jetzt nicht mehr. Gönnen sie sich noch etwas, wir alle wissen doch nicht, was morgen ist, hat er gesagt. Hat der sich eigentlich mal in seinem Laden umgeschaut? Verdammt, diese junge Blonde am Empfang. Bestimmt noch eine Azubi. Genau, Doc, da gönnst du dir etwas, oder? Volljährig wird sie schon sein. Aber bestimmt jünger als Marie, und eine echt schicke weiße Bluse, 85D, mindestens. Mein Gott, was bin ich für ein Arschloch. Ich gehe hier kaputt, genau jetzt. Was gönnen soll ich mir. Drei Monate. Nein, das kann nicht sein. Nicht ich. Nein. Verdammt!

Schließlich öffnest du deine Aktentasche, nimmst den Block, fängst an zu schreiben, und merkst nicht, wie deine Tränen allmählich das Blatt durchtränken.

Irgendwann später, du weißt nicht mehr, wie lange es her ist, dass du die Praxis verlassen hast, bist du Zuhause. Deine Frau küsst dich auf die Wange, sie weiß ja, dass du nie wirklich früh aus dem Büro kommst. Sie fragt dich, wie dein Tag war. Du blickst an ihr vorbei, auf die Fotos aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt.


Was erzählen die, wie ist das, wenn man abtritt? Der Film deines Lebens vor deinem inneren Auge? Das muss doch so ähnlich sein wie diese Fotos hier. Das da, das war oben, auf dem Empire State. Wir hatten eine Woche kinderfrei, Marie-frei. Die Kleine war die Woche doch bei den Schwiegereltern, oder? Und dahinten, ach ja, dieser Strand auf Phuket. Der erste Flug für Marie, und dann gleich ein so langer. Mein Gott, was war sie da noch klein, und was hatte sie für einen Spaß auf der Bootstour. Und hier, auweia, Marie in diesem sauteuren türkisgrünen Abendkleid. Ach ja, der Abiball. Verdammt, was war ich stolz auf die Kleine.

Ja, was warst du stolz auf deine kleine, große Marie. Auf die Marie, die du manchmal Greta nennst, wenn ihr euch streitet, und wenn sie dir von ihrer Arbeit im StuPa und in der Grünen Hochschulgruppe erzählt. Jetzt fällt dir ein, dass sie morgen mal wieder vorbeischauen will, und bestimmt wieder ihren veganen Streuselkuchen mitbringt. Du hattest versprochen, extra früher nach Hause zu kommen. Sie wird mit dir dann wieder über den Klimawandel streiten. Und, na klar, über den Atomausstieg, den du so vollkommen hirnrissig findest. Vielleicht nennst du sie dann zur Abwechslung mal wieder Angie, um sie so richtig zu provozieren. Denn du weißt, dass sie diesen Vergleich überhaupt nicht witzig findet. Da seid ihr euch politisch zur Abwechslung mal ziemlich einig, wenn auch aus recht unterschiedlichen Gründen. Du wirst sie dann auch fragen, warum ihre grünen Wirrköpfe die Atomenergie ablehnen, wenn der Klimawandel etwas so übles ist. Kurz schließt du die Augen, siehst nur noch Marie, wie sie dich ansieht, und ganz leicht mit dem Kopf schüttelt. Und dann vielleicht noch sagt, ach Papa.

Ach, der übliche Stress, du weißt ja. Du, lass uns doch am Wochenende, naja, vielleicht mal wieder nach Paris? Ja, genau, in das kleine Hotel am Montmartre. Nein, einfach nur so, die Jungs kommen auch mal ohne mich klar, ist ja nur Training. Aber nein, es ist nichts. Ich dachte nur, ich meine, wir zwei, in Paris? Du meine Güte, wann war das? Wenigstens zwanzig Jahre? Wirklich, 25? Ach ja, stimmt, Marie wird dann ja schon 25, unsere kleine Pariserin. Müssten ihr wir vielleicht doch mal erzählen, meinst du nicht? Du, ich möchte einfach mal wieder mit dir, na einfach mal wieder raus. Ein Wochenende Auszeit. Komm, wir machen das einfach. Na, den Freitag mache ich einfach frei, für die habe ich in der letzten Zeit mehr als genug gemacht. Also, was meinst du? Echt, du willst auch? Oh man, ich freue mich. Weißt du was, das feiern wir. Ich hole uns mal eine Flasche vom Tannat von unten. Genau, von dem aus der Gascogne. Machst du uns ein paar Schnittchen? Ok, Canapés. Ja, wenn schon, dann französisch. Schmeckt dann bestimmt auch doppelt so gut. Und dazu schauen wir mal wieder den Gainsbourg, den du so magst. Genau, Je t’aime, ok?

Im Keller steckst du die zerknitterten Zeilen, die du im Wagen in einem Rutsch auf zwei Blättern herunter geschrieben hattest, zwischen die gelesenen Zeitungen. Das Altpapier wirst du später noch in die Tonne schmeißen, die wird ja morgen schon abgeholt. Dann gehst du zum Weinregal und suchst einen Tannat.

Oh, ein 2011er. War schon ein ganz guter Jahrgang. 2011, das ist auch schon wieder echt lange her. Den Sommer waren wir doch auch in Frankreich? Ach ja, da fing Marie ja mit dieser Grünen Jugend an, da war irgendwas. War überhaupt irgendwie ein komischer Urlaub. Wo genau waren wir da denn? Mist, warum weiß ich das nicht mehr? Wo waren wir da bloß? Ich muss echt mal wieder in die alten Fotoalben schauen. 2011, Frankreich. Da hatten wir irgendwie Stress, das weiß ich noch. Marie war da erst, Moment, da war sie doch dreizehn. Drei und zehn Jahre. Und jetzt erzählt mir dieser Wichser etwas von drei Monaten. Maries Geburtstag, den muss ich packen, das geht einfach nicht. Drei Monate, der irrt sich, der muss sich einfach irren.

Du stehst vor dem Weinregal und musst dich zwingen, die Flasche nicht an die Wand zu knallen. Aber dieser Wein aus Frankreich triggert etwas in dir. Du denkst an Paris, an den Tag, an dem ihr Marie komponiert habt, so hast du es mal den Jungs erzählt, und ordentliche Lacher dafür geerntet. Du schaust noch einmal auf die Flasche, siehst stattdessen jedoch Marie, wie sie dir morgen gegenüber sitzt, mit ernster Mine und voller Leidenschaft und Überzeugung von der Zukunft eines Planeten Erde doziert, auf dem die Menschheit nicht mehr die erste Geige spielen wird, nicht mehr spielen darf. Du kannst hören, wie sie dir vorwirft, alles dafür zu tun, dass es bald überhaupt keine Zukunft mehr gibt. Nicht für sie, nicht für ihre Generation. So ist das, sagt sie, genau deswegen gehört sie zur, nein, ist sie die Letzte Generation. Dies bringt dich ins Grübeln.

Nächstes Jahr machst du endlich deinen Abschluss. Ach Blödsinn, endlich, du hast doch noch so viel Zeit. Letzte Generation, Marie, nein, Du hast eine Zukunft, Du bist die Zukunft. 25 wirst du dann sein, ein Vierteljahrhundert. Eigentlich nicht zu fassen. Und dann, was wirst du dann machen? Was würde ich machen, wenn ich nochmal so alt, ha, so jung wäre? Reisen würde ich, na klar. Du fandst das früher auch klasse. Wolltest immer nach Japan. Bestimmt erinnerst du dich noch an Prinzessin Mononoke. Das war dein Lieblingsfilm, du wolltest immer genau so aussehen wie sie. Immer wieder wolltest du den Film mit uns gucken. Wobei, schlecht war der ja wirklich nicht. Mangas sammelst du ja auch immer noch, hast du uns letztens ja noch erzählt. Aber fliegen willst du jetzt nicht mehr. Also eher nicht nach Japan. Trotzdem, du kannst und wirst noch so viel erleben, noch so viel sehen. Aber immer das scheiß Klima. Ach Marie.

Dann nimmst du dir vor, sie in der nächsten Zeit häufiger anzurufen. Einfach so, einfach um ihre Stimme zu hören. Du sagst dir selber, dass du morgen aufpassen musst, denn Marie ist echt pfiffig. Noch helfen dir die Tabletten, ja, der Tag kann einer von den guten werden. Er muss einfach. Du merkst, wie deine Augen wieder feucht werden, trocknest die Tränen rasch mit einem Taschentuch. Einen kurzen Augenblick verharrst du auf der Treppe, gehst dann langsam zurück zu deiner Frau. Morgen wirst du im Hotel anrufen, so früh wie möglich. Und gleich diese Flasche zusammen mit ihr leeren, und vielleicht dann noch eine zweite. Und wer weiß, was dann nachher noch passiert. Etwas gönnen sollst du dir, vielleicht gönnt ihr euch heute zusammen noch etwas. Kurz umspielt ein Lächeln deinen Mund, das erste an diesem Tag. Und in diesem Moment schießt dir der Spruch von Mahatma Gandhi durch den Kopf, den Marie so gerne zitiert: „Die Zukunft basiert auf dem, was wir heute tun“. So jedenfalls liest du es jetzt vor deinem inneren Auge. Du holst den Flaschenöffner und blickst im Flur nochmals auf das Bild von Marie in dem Kleid.

Zukunft, Marie, du bist die Zukunft. Und verdammt, was bin ich stolz auf dich, auf meine Greta!

Und dann fällt dir 2011 wieder ein, der Urlaub in Frankreich in Antibes. Der große Streit mit Marie, weil sie unbedingt etwas tun wollte, sich unbedingt engagieren wollte, um die Menschheit zu retten. Um ihre Familie zu retten, um dich zu retten. Du erinnerst dich an Fukushima.
 
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Dimpfelmoser

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Hallo Michael,

die Frage, warum nur noch drei Monate (vielleicht), was da für eine Diagnose gestellt wurde - das meinst du, oder? - bleibt unklar; dieses konkrete Detail war mir hier nicht so wichtig. Es geht ja u.a. um dieses Gefühl, aus dem Leben gerissen zu werden; die Frage nach der eigentlichen Ursache ist da für mich (also für die Geschichte) eher zweitrangig, wenn die Folge eine so eindeutige ist. Was naheliegen würde, wäre eine nicht mehr therapierbare Krebserkrankung (Symptome ignoriert bzw. zu diffus bzw. nicht erkannt etc.). Danke dir jedenfalls fürs Lesen und Werten.

LG
Dimpfelmoser
 



 
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