Gaist Tutnix und das Problem, welches sich ihm erst nach dem Ableben aufzeigte

Rainer Lieser

Mitglied
Gaist Tutnix und das Problem, welches sich ihm erst nach dem Ableben aufzeigte

Es war Nachmittag. Gaist Tutnix wachte gerade auf. Neben seinem Bett lagen sieben leere Eimer von dem Speiseeis aus dem Supermarkt. Sein Eisvorrat war damit aufgebraucht. Es hatte Gaist letzte Nacht einfach überkommen. Aber das Projekt war termingerecht abgeschlossen. Nur das zählte. Er stand jetzt auf und tat, was er äußerst ungern tat – er verließ das Haus. Ein Tag ohne Eis war für Gaist kein schöner Tag. Also musste er Eis einkaufen. Vor dem Supermarkt traf ihn das blanke Entsetzen. Der Eingang war verschlossen. Obwohl es Mittwoch war. Oh, heute ist ein Feiertag, fiel Gaist ein. Das hatte er im Stress der vergangenen Tage ganz vergessen. Er schnäuzte sich die Nase. Danach ging es ihm ein Klitzekleines bisschen besser.
Zu Hause setzte er sich vor den Computer. Dort wurde sein Verlangen nach einer großen Portion Eis, mit jeder E-Mail, die er las, immer stärker. Seine Konzentrationsfähigkeit sank ins Unermessliche. So kam es, dass Gaist versehentlich auf den Link in einer E-Mail klickte, welche er eigentlich hatte löschen wollen. Gaist landete auf einer Website für potenzsteigernde Präparate, die ihn nicht im geringsten interessierten. Aber am Kopf der Site blinkte ein Werbebanner, welches sofort seine vollste Aufmerksamkeit erregte, denn es weckte in ihm die Hoffnung, heute doch noch ein Eis zu bekommen. Nach einem kurzen Anruf unter der Telefonnummer, die auf dem Werbebanner stand, beschloss Gaist an diesem Tag eine Reise zum anderen Ende seines Heimatdörfchens zu unternehmen. Dieses eine Mal wollte er auf große Entdeckungsreise gehen. Auch wenn ihm Herausforderungen dieser Art ein Graus waren und er das Haus in der Regel nur dann verließ, wenn es darum ging, im großen Supermarkt nebenan einzukaufen. Vorzugsweise Speiseeis. Doch heute befand er sich in einer absoluten Notsituation.
30 Minuten würde er unterwegs sein. Hin- und Rückweg zusammengenommen. Normale Schrittgeschwindigkeit. Mit dem Smartphone in der Hand machte Gaist sich auf den Weg zum ältesten und besten Eissalon in ganz Hintervordereberbach – wie es auf dem Banner geheißen hatte.
15 Schritte geradeaus, gab ihm das Navigationssystem vor.
Schon nach wenigen Metern blickte Gaist sehnsüchtig auf sein kleines Häuschen zurück. Sein massiger Körper erschien ihm noch schwerer als sonst. Unsicherheit stieg in Gaist auf. Soll ich dieses Abenteuer wirklich wagen? Wer weiß, wie vielen Menschen ich dabei begegne, denen ich besser nicht begegnet wäre … Um von seinem Weg nicht abzukommen, hielt er sich die elf Eiskugeln vor Augen, welche er zu kaufen beabsichtigte. Fünf Kugeln mit Erdbeergeschmack, drei mit Zitrone, zwei mit Schokolade und eine mit Pfirsich. Das Pfirsicheis muss ganz oben hin. Das trieb ihn an, weiterzulaufen.
Nach vier Schritten, links abbiegen.
Kurz vor dem Eissalon verlor das Smartphone die Netzanbindung. Die letzten Meter musste Gaist alleine bewältigen. Vom Schweiß durchnässt und völlig außer Atem erreichte er schließlich nach insgesamt 12 Minuten den Eissalon. Gaist legte die Hand auf die Klinke. Machte die Tür einen Spalt auf und schaute vorsichtig hinein. Leer. Keiner da. Eine Klingel läutete. Verunsichert kratzte sich Gaist am Hinterkopf. Ob ich mich in den Zeiten vertan habe? Er schloss die Tür von außen und überprüfte die Öffnungszeiten, die auf dem Türschild standen. Alles in Ordnung. Ich bin zur rechten Zeit hier.
Danach ging alles sehr schnell. Gerade hatte er die Eingangstür erneut geöffnet, erneut hatte die Klingel geläutet, als sich, wie aus dem Nichts erschienen, fünf Kinder vor ihm in den Raum drängten. Der Junge, der zuletzt an Gaist vorbei lief, guckte an ihm hoch, kicherte kurz und sagte verlegen, »Tschuldigung.« Die zwei anderen Jungs waren schon vorne an der Eistheke. Eines der beiden Mädchen in der Mitte drehte sich um und schaute Gaist voller Bedauern an. Schließlich kam ein »Entschuldigung« aus ihrem Mund. Heuchlerische Bestien! Danach quetschten sich noch eine Frau und ein Mann – die Eltern der Kinder, vermutete Gaist – eilig in den kleinen Eissalon, sodass darin für Gaist jetzt kein Platz mehr war.
Mist! Es wird Ewigkeiten dauern, bis die alle von dem einen Verkäufer bedient worden sind, der da hinten gerade auftaucht. Ich werde meinen Zeitplan nie und nimmer einhalten können! Womöglich verpasse ich sogar die Videokonferenz heute Abend und verliere dadurch einen meiner Kunden. Niemals hätte ich mein Häuschen verlassen dürfen, dachte Gaist aufgebracht und begann mit den Füßen zu scharren. Das blonde Mädchen in der Mitte betrachtete ihn immer noch. Um sich etwas zu beruhigen, schnäuzte Gaist laut in sein Taschentuch. Das half in der Regel. Diesmal nicht. Stattdessen drehten sich nun auch noch die restlichen Kinder und die beiden Erwachsenen nach ihm um. Nicht gut! Alle sahen ihn an.
Das schweißnasse Gesicht von Gaist wurde rot. Er guckte ratlos auf sein Smartphone. Offline. Immer noch! Die Gedanken von Gaist rasten. Eigentlich hatte er jetzt anfangen wollen zu schimpfen, doch ohne elektronische Unterstützung, fehlten ihm die passenden Worte. Immerhin waren die Kinder mit ihren Eltern hier. Da musste Gaist schon darauf achten, was er brüllte. Sonst würden die Eltern ihn womöglich verklagen. Erst dieser Gewaltmarsch, dann der mögliche Verlust eines Kunden und zuletzt vielleicht auch noch von den Eltern einer ungehobelten Kinderbande verklagt werden – und das alles an einem Tag? Nein. Das wäre zuviel für mich. Mit hochrotem Kopf und offenem Mund stand Gaist keuchend an der Tür und überlegte verzweifelt was zu tun war. Die zwei Erwachsenen hatten sich derweil kopfschüttelnd von ihm abgewandt und waren ganz nach vorne gelaufen. Sie hatten sich noch vor die beiden Jungs geschoben, die Gaist nach wie vor so seltsam anstarrten – wie das auch die anderen drei Kinder immer noch machten. Was denken sich diese Ungeheuer? Guckt endlich weg! Habt ihr noch nie einen Mann in einer Tür stehen sehen?
Die Sekunden verwandelten sich scheinbar in Jahrzehnte. Gaist litt Höllenqualen. Schließlich nahm er Abstand davon, in seinem Gedächtnis weiter nach kindgerechten Schimpfworten zu forschen und beschloss schweren Herzens in diesem Eissalon heute kein Eis zu kaufen. Gaist löste die Hand vom Türgriff. Die Kinder schauten ihn immer noch mit riesengroßen Kulleraugen an. Kurz glaubte er, in ihren Gesichtern Tränen erkennen zu können. Dann fiel die Tür vor Gaist zu. Vorbei! Verärgert ging er nach Hause. Als Gaist in seinem Wohnzimmer stand, waren seit Beginn der Reise exakt 30 Minuten vergangen. Den Zeitplan hatte er letztlich also noch eingehalten. Aber das verbesserte seine Laune kein bisschen. Er versuchte es mit lautem Schnäuzen. Es änderte nichts. Da war immer noch dieser Heißhunger auf Eis. Plötzlich bemerkte Gaist, dass er weder ein Hemd, noch eine Hose trug. Nur seine Shorts und die Schuhe hatte er am Leib. Verdammt noch mal! Für den Rest meines Lebens werde ich mich niemals wieder auf so eine Reise einlassen – und um Menschen werde ich zukünftig einen noch größeren Bogen machen als ich das bisher schon getan habe, vor allem um Kinder. Gott sein dank hat Morgen mein Supermarkt wieder geöffnet!

Irgendwann später, es waren einige Jahre seit dem Vorfall in dem Eissalon vergangen, saß Gaist vor dem Fernseher und ärgerte sich über einen unglaublich schlechten Wrestling Kampf. Niemals zuvor hatte er einen derart unfähigen Kämpfer im Ring gesehen. Gaist ärgerte sich so sehr, dass er einen Herzanfall bekam und verstarb.
Kurz darauf stand er vor einem großen nackten Mann mit langem Bart. Hinter dem Riesen befand sich ein unscheinbares hölzernes Tor. Überall waren Wolken. Gaist suchte vergebens nach seinem Smartphone und stellte dabei fest, dass er ebenfalls völlig unbekleidet war. Der große Mann sprach ihn an. »Hm … Viel getan hat sich in Deinem Leben ja nun nicht gerade, um es noch freundlich auszudrücken, Gaist Tutnix. Ich bin übrigens Petrus, Apostel und Himmelstorwächter und Du bist tot.«
Gaist bekam beinahe einen Schock, nachdem er das gehört hatte. Es brauchte etwas Zeit, um das sacken zu lassen. Träume ich etwa? Gaist suchte nach einem Taschentuch. Natürlich war keins da. Er holte ein paar Mal tief Luft. Dann konnte er wieder sprechen. »Ich … ja … ich habe sehr zurückgezogen gelebt. Vielleicht ein klein wenig zu zurückgezogen. … Dadurch dürfte ich aber ein weitgehend sündenfreies Leben geführt haben. Das ist doch auch etwas … Bin ich wirklich tot?«
Petrus bog den Oberkörper weit nach unten, um Gaist direkt ins Gesicht zu sehen. »Dass Faulheit eine Todsünde ist, weißt Du aber schon?«, wollte der Apostel wissen – und verzichtete darauf, die Frage von Gaist mit einer ganz offensichtlichen Antwort zu würdigen.
»Ich war nicht faul! Niemals!«, widersprach Gaist energisch. Langsam fing ihn dieser Petrus mit seinen Gruselgeschichten wirklich zu nerven an. »Keiner meiner Auftraggeber hat je über mich geklagt. Alle meine Rechnungen wurden stets pünktlich bezahlt. Gibt es etwa ein Gebot, welches besagt, dass man nicht zu Hause arbeiten darf? Oder gibt es etwa ein Gebot, welches einem befiehlt, dass man sein Leben nicht allein verbringen darf? Mir zumindest sind solche Gebote nicht bekannt.«
Der Apostel sah Gaist fest an. »Natürlich kann ich Dir im strengen Sinn, kein sündiges Leben vorwerfen. Legen wir also einmal das Thema Faulheit – oder nennen wir es besser Bequemlichkeit – beiseite. Obwohl es sich bei Dir gefährlich nah am Rand der Akzeptanzgrenze bewegt, wie ich Dir hiermit deutlich sagen will. Dennoch gibt es da eine Sache, die, bei Licht betrachtet, extrem negativ zu Buche schlägt. Eine Sache, die nicht so einfach beiseitegelegt werden kann. Ich spreche von dem Vorkommnis in dem Eissalon.«
Die Augen von Gaist Tutnix wurden groß.
»Erinnere Dich an jenen Tag.« Forderte der Apostel Gaist auf. Petrus hatte sich entschlossen, Gaist eine letzte Chance zu geben.
»… Ein Elternpaar mit seinen fünf Kindern hatte sich vor mich gedrängt. Um keinen Streit vom Zaun zu brechen, verzichtete ich auf mein Eis und lief verärgert nach Hause. Ich sehe nicht, was daran so negativ zu Buche schlagen soll …«
»Und weshalb genau, wolltest Du keinen Streit vom Zaun brechen?«, bohrte Petrus nach.
»Ich … Äh … Mir fielen gegenüber den Kindern keine passenden Schimpfworte ein. Schließlich waren ihre Eltern dabei … und mein Smartphone hatte keinen Empfang …«
»So so, die Eltern waren dabei und das Smartphone hatte keinen Empfang …«
Verlegen lächelnd, nickte Gaist mehrfach mit dem Kopf.
»Papperlapapp! Ausreden! Nichts weiter als Ausreden! Du hast Dich vor Deiner Verantwortung gedrückt, Du jämmerlicher Feigling. Wie so oft in Deinem Leben. Ich hasse solche Typen wie Dich! Sei doch wenigstens jetzt gegenüber Dir selbst ehrlich.«
Gaist schluckte heftig. »Es war aber nicht recht, wie die sich damals verhalten haben.« Versuchte er sich zu rechtfertigen. Ich muss träumen!
»Das mag sein. Doch viel schlimmer war, wie Du Dich damals verhalten hast! Denn Dein Verhalten hat letztlich dazu geführt, dass die Zukunft dieser Kinder zur Hölle auf Erden wurde!«, entgegnete Petrus zornig. »Die armen Kleinen haben sich nämlich die Schuld für Dein Versagen gegeben. Niemals haben sie Deinen erbarmungswürdigen Anblick in dem Türrahmen vergessen. Ein verwirrter schwitzender dicker Mann in Unterwäsche, unfähig zu sprechen, hilflos, verloren. Tagelang haben die Fünf später versucht, Dich zu finden, wollten sich alle gemeinsam entschuldigen und Dir ihre Hilfe anbieten. Weil sie dazu aber keine Gelegenheit erhielten, fingen sie an, gewaltige Schuldkomplexe zu entwickeln. Sie sind niemals wieder nach vorne gestürmt, sondern haben es stattdessen vorgezogen, immer Anderen den Vortritt zu lassen. Aus den Kindern wurden ebensolche Waschlappen, wie Du in Deinem gesamten Leben einer warst. Der erfolglose Wrestler, über den Du Dich zu Tode geärgert hast, war einer der Fünf. Ein anderer wurde Fernsehmoderator. Die beiden Mädels singen als Schlagerduo. Der dritte Junge züchtet heute in Singapur Mehlwürmer. Sie alle sind nahezu die Schlechtesten in ihren Zünften.«
Fassungslos sah Gaist den Apostel an. »Und ich allein soll daran schuld sein? Das ist doch unmöglich. Nein. Das kann nicht sein.«
»Selbstverständlich ist das nicht ausschließlich auf Dich allein zurückzuführen.« Petrus hob seine gewaltige Hand und wies mit dem Zeigefinger auf sein Gegenüber. »Du jedoch hast das erste Samenkorn für diese Entwicklung in ihren Leben gepflanzt. Den Stein ins Rollen gebracht.«
Die Worte von Petrus trafen Gaist hart. Schuldbewusst wandte er sein Gesicht von dem Apostel ab. »Aber … Ich … habe das nicht gewollt. Ich … habe mich doch immer aus allem herausgehalten … habe mich doch immer von den Menschen ferngehalten und für mich allein gelebt …«
»Jedes Leben ist mit anderen Leben verknüpft. Es geht gar nicht anders. Niemand kann für sich allein leben.« Donnerte Petrus Gaist entgegen.
Gaist begann, an den Fingernägeln zu knabbern. Sein Körper zitterte. Ich will endlich aufwachen!
»Wie ich sehe, zeigst Du keinen Ansatz von Reue. Erkennst Deine Fehler nicht. Hast keine Einsicht. Nur Angst. Es hat keinen Sinn Dein Fürsprecher zu werden. Also mache ich es kurz. Die Lebenszeitvergeuderüberwachungsbehörde hat bestimmt, dass Du aufgrund des unvorteilhaften Einwirkens auf die Lebensläufe von fünf Personen nicht direkt in den Himmel eingelassen wirst. Ich schicke Dich deshalb zurück zur Erde. Nutze diese zweite Chance, um positiv auf die Menschen einzuwirken, so wie Du das bereits in Deinem ersten Leben hättest tun sollen. Dann wirst auch Du irgendwann Zugang zum Himmel erhalten. Für Deinen zweiten Aufenthalt auf der Erde wird Dir aber kein weiterer Körper zur Verfügung gestellt.« Sprach Petrus und ließ Gaist Tutnix in Ohnmacht fallen. Anschließend trennte der Apostel Gaists Bewusstsein von dessen Erscheinung. Die Erscheinung rollte Petrus wie ein Handtuch zusammen, zog eine Schublade aus einer Wolke auf – und legte darin die Erscheinung ab. Gaist würde sie später, beim Einzug in den Himmel, zurück erhalten – und, sofern seine Lebensbilanz dann deutlich besser ausfiele, seine Erscheinung nach eigenen Vorstellungen umgestalten können.
Aus dem hölzernen Tor lief ein Mann mit einer Mütze auf dem Kopf langsam auf den Apostel zu. Die Mütze kennzeichnete den ansonsten unbekleideten Mann als einen Angestellten der Lebenszeitvergeuderüberwachungsbehörde.

Gaist kam vor einer großen Rutschbahn wieder zu sich. Er erkannte jetzt, dass er nicht geträumt – und der Apostel die Wahrheit gesprochen hatte. Denn da waren weder Arme, noch Bauch, noch Füße um ihn. Gaist schwebte körperlos in der Luft. Gerade wollte er anfangen laut auf Petrus zu fluchen, als Gaist sich besann, und stattdessen lieber versuchte ruhe zu bewahren. Sein Verstand sagte ihm, letztlich bleibt Dir ja gar nichts anderes übrig. Zur Entspannung betrachtete er sich die Umgebung etwas genauer. Die Rutschbahn gehörte zu einem Spielplatz, der wiederum teil eines knallbunten Kindergartens war. Dutzende von Jungen und Mädchen tobten dort herum und machten einen Heiden Lärm. Ein Mädchen rutschte durch Gaist hindurch. Er blieb halbwegs ruhig. An solche Dinge, würde er sich wohl gewöhnen müssen. Links und rechts neben dem Kindergarten gab es eine große Anzahl von Häuschen und Blumenbeeten. Hier mussten viele Familien wohnen. Gaist kannte diesen Ort. Er gehörte zu seinem Heimatdörfchen. Aber diesen auffälligen Kindergarten kannte er nicht. Dabei hätte er ihn eigentlich damals bemerken müssen. Denn Gaist befand sich jetzt genau in jener Straße, in welcher der Eissalon gestanden hatte. Ja, er befand sich sogar exakt an dem Punkt, an dem er damals den Türgriff in der Hand gehalten hatte, stellte Gaist überrascht fest. Aber da war kein Eissalon. Wenn man es recht bedachte, passte der Kindergarten allerdings auch deutlich besser her. Doch all das änderte nichts daran, dass Gaist immer noch enorm wütend war, wie er sich eingestehen musste. Er ärgerte sich darüber, dass dieser Petrus ihn einfach so, ohne einen Körper – also unfähig, einen Computer zu nutzen – zurück zur Erde geschickt hatte. Gaist wünschte, er hätte eine Nase, um sie schnäuzen zu können.
»Laut hier, nikt wahr?«
»Wer ist da?«, fragte Gaist knurrend.
»Ah, Du sein neuer Geist. Nun, Du habe es mit Tomaso zu tue. Frieher hier habe Eisgeschäft gestande und das habe Tomaso gehöre. Tomaso immer wieder komme her, um sich an frieher zu erinnere.«
Aufmerksam hatte Gaist den Worten des Anderen zugehört. Es war demnach durchaus möglich, dass er und dieser Fremde sich in jenem Eissalon vor vielen Jahren schon einmal begegnet waren, ging es Gaist durch den Sinn. Vielleicht erinnerte sich Tomaso an Dinge, die ihm damals entgangen waren – und die Gaist heute dabei helfen konnten zu verstehen, was er hier auf der Erde nun eigentlich genau tun sollte. Doch Gaist war immer noch sehr wütend auf Petrus und wollte sich nur ungern auf ein Gespräch einlassen, das ganz zwangsläufig früher oder später zu dem Apostel hinführen musste. Es war besser, den Tag in dem Eissalon vorerst noch unerwähnt zu lassen, entschied Gaist. »Verstehe. Dann ist in Deinem Leben also auch nicht gerade sonderlich viel passiert und Du wurdest ebenso wie ich, von dem nackten Apostel ohne Körper zurück zur Erde geschickt?«
»Ja, die Petrus ware mit Tomaso nikt nett. Aber er wenigstens Tomaso nix in Hölle geschickt habe. Tomaso seie jetzt Geist, so wie Du. Zusamme mit viele andere auch.«
»Es scheint also nicht gerade eben wenige Lebenszeitvergeuder zu geben … Tröstlich … Können wir eigentlich irgendwie von hier verschwinden? Das Gekreische der Kinder nervt.«
»Tomaso und Du dann jetzt besuche Eisgeschäft von Sophia, Tomaso sein Schwester.« Schlug der frühere Eisverkäufer vor. »Dort es sein leiser und wir könne besser rede. Tomaso gern rede mit neue Geister. Und Tomaso mit Dir besonders gern rede. Du sein Tomaso irgendwie sehr vertraut.«
Gaist nahm den Vorschlag an, ohne lange darüber nachzudenken. Er wollte weg von diesem Ort. Zu vieles hier erinnerte ihn an die fünf armen Kinder. Petrus hatte ihm deren Schicksal wohl noch einmal ausdrücklich in Erinnerung bringen wollen, als er ihn an diesem Platz aufwachen ließ, glaubte Gaist. Und das hatte vorzüglich geklappt.
Einen Wimpernschlag später befanden sich Gaist Tutnix und Tomaso in dem Eissalon von Sophia.
»Gedankereise sein schon tolle Sache. Nikt?«
Es dauerte einen Moment, bis Gaist verstanden hatte, was der frühere Eisverkäufer meinte. Einzig durch die Kraft der Gedanken, waren er und Tomaso von dem Kindergarten in diesen Eissalon gelangt – einen Platz, von dem Gaist nie zuvor auch nur gehört hatte –, und das ohne die Hilfe eines Computers. Ein wenig versöhnte ihn das mit seiner aktuellen Lage. »Ja, Gedankenreisen sind wirklich eine tolle Sache! Mein neues Leben hat demnach exakt eine angenehme Seite.«
»Damit Du kenne jetzt die eine große Vorteil. Und die eine große Nachteil von neue Lebe sein«, fügte Tomaso hinzu, »Du jetzt könne kein Eis mehr esse.«
Stille.
»Ich kann kein Eis mehr essen? … Verdammt! … Natürlich …«, Gaist war entsetzt, daran hatte er noch gar nicht gedacht.
»Zweite große Vorteil aber sein – Du jetzt kenne Tomaso … Du jetzt sein nicht mehr allein … Damit es gebe mehr Vorteil als Nachteil.« Tomaso lachte.
Du jetzt sein nicht mehr allein … das ging Gaist nicht aus dem Sinn. Gaist überlegte. Lange. Er versuchte zu ordnen, was bisher geschehen war. Versuchte, seine Lage neu zu überdenken. Petrus hatte ihm erzählt, dass er, Gaist, an dem Unglück der Kinder in hohem Maß schuld war, und schickte ihn deshalb zurück zur Erde. Dann erwachte Gaist vor einem ganz bestimmten Kindergarten und traf dort auf den früheren Besitzer, des Eissalons, in welchem sich die schicksalhafte Begegnung mit den Kindern ereignet hatte. Schließlich führte dieser Eisverkäufer Gaist in einen neuen Eissalon und brachte ihm alles wissenswerte über das Geisterdasein bei. Fast kam es Gaist vor, als habe er mit Tomaso erstmals so etwas wie einen Freund gefunden. Eine völlig neue Erfahrung für Gaist. Das Alles, erweckte nicht den Eindruck, als wäre es zufällig geschehen. Vielmehr schien es so, als stünde dahinter ein gut durchdachter Plan. Vielleicht war der Apostel doch gar kein so schlechter Kerl … »Weißt Du Tomaso, ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet. Zu unseren Lebzeiten in Deinem Eissalon, meine ich. An einem ganz bestimmten Tag …«
»Ja, ich habe gedacht gleich. Du habe rein komme wolle an die Tag, als Tomaso gestorbe sein. Die Tag, als Sophia habe Tomaso aus die Eisgeschäft raustrage lasse. Davor in ganze Lebe Tomaso nix habe aus Eisgeschäft rausgegange. Ah, da komme Sophia.«
Hinter der verglasten Theke erschien eine rundliche Frau mit pechschwarzen Haaren und einer dicken Hornbrille auf der viel zu langen Nase. Sophia war gewesen, als ob jemand den Salon betreten hatte. Doch sie musste sich getäuscht haben. Da war niemand. Sie nahm einen feuchten Lappen und begann die Thekenscheibe sauber zu wischen.
Gaist war sehr überrascht, als er Sophia sah.
»Das ist Sophia? Das ist die Frau, die sich damals an mir vorbei gedrängt hat … Zusammen mit ihrem Mann. Dann ist also Deine Schwester die Mutter der fünf Kinder …«
»Sophia nix sein Mutter. Die funf Kinder nix habe zu tue gehabt mit Sophia und die fremde Mann.« Erklärte Tomaso. »Fremde Mann habe damals zu Sophia gegange, weil er geglaube habe, Tomaso sich zu stark aufrege, wenn die fremde Mann allein zu Tomaso komme. Deshalb Sophia und die fremde Mann komme zusamme zu Tomaso, um Tomaso die Papier zu zeige. Weil Sophia so aufgeregt ware, die beide sich vorgedrängt habe vor die Kinder. Papier sein Gerichtsbeschluss gewese, die besage, dass Tomaso sein Eisgeschäft musse gebe an Mann, die wolle dort Kindergarte baue. Sophia habe sage, dass Papier habe recht. Gerade als Tür vor Dir zufalle gewese, Tomaso sein tot umgefalle. Sophia, die Mann und die funf Kinder habe noch versucht Tomaso zu rette. Doch alles sein gewese zu spät. Die Mann habe dann für Sophia neue Eisgeschäft baue lasse, weil die Mann habe wolle Tod von Tomaso wieder gut mache. Mann heute sein tot.«
»Meine Güte, erst jetzt erkenne ich, was an jenem Tag in dem Eissalon alles vor sich gegangen ist. Jedes Leben ist mit anderen Leben verknüpft, hatte Petrus gesagt. All die Lebenswege der Menschen, die sich damals kurz überkreuzten, wurden durch die Geschehnisse in dem Eissalon verändert. Manche weniger, manche mehr.« Plötzlich wurde Gaist in seinen Gedanken unterbrochen. Die Tür zum Eissalon öffnete sich. Die Klingel läutete.
Sophia ließ den Putzlappen schnell auf den Fußboden fallen und schaute zur Eingangstür. Ein unsicherer junger Mann stand im Türrahmen. Er hielt die Klinke noch in der Hand. Dem Anschein nach wollte der junge Mann gerade eintreten, als ihm fünf Kinder zuvor kamen.
Gaist Tutnix erschrak und fuhr den jungen Mann wütend an. »Du darfst das diesen Kindern nicht durchgehen lassen. Sonst gibt es bald nur noch mehr schlechte Wrestler, Fernsehmoderatoren, Schlagerduos und … und Mehlwurmzüchter in Singapur.«
»Du musse das lasse gut sein.« Kam es von Tomaso. »Die Mann Dich nix könne höre. Tomaso und Du nix könne mache. Tomaso und Du sein Geister. Tomaso und Du besser bete, dass Sophia nikt auch balde tot umfalle. Was geschehe solle, das geschehe werde.«
Doch Gaist wollte das nicht einfach so akzeptieren. Nicht mehr! Zu lange schon hatte er sich selbst auf die Rolle des teilnahmslosen Beobachters reduziert und immer Anderen die Verantwortung zugewiesen. Ja, Petrus hatte recht gehabt, aus Faulheit. Und zu lange schon war er auch ein jämmerlicher Feigling gewesen. So durfte es nicht weitergehen. Gerade wollte Gaist sich die Nase schnäuzen, um sich etwas zu beruhigen und um einen klaren Gedanken zu fassen, als er sich daran erinnerte, dass er ja gar keine Nase mehr hatte. Keine Nase … Kein Körper … Ich bestehe nur noch aus Erinnerungen und Gedanken. Mehr bin ich aber auch nicht in den Köpfen jener Kinder gewesen – und das hat ausgereicht, um ihre Leben so nachhaltig zu verändern … Gaist kam eine Idee …
Eine Frau und ein Mann versuchten, sich nun auch noch an dem jungen Mann vorbei in den Eissalon hinein zu quetschen.
Gaist konzentrierte sich mit aller Kraft. Er wollte mit Sophia direkten Kontakt aufnehmen. In ihren Kopf hinein. Wollte bei ihr die Erinnerung an eine vergleichbare Situation wecken. Die Erinnerung an einen unsicheren Mann an der Tür eines Eissalons. An fünf Kinder. An einen Mann und eine Frau.
Plötzlich riss Sophia ihren Mund voller Entsetzen auf. Ein schlimmes Bild aus der Vergangenheit, welches sie hatte vergessen wollen, war ihr wieder vor Augen. Der Tod von Tomaso. Doch damit nicht genug. Dieses eine Bild eröffnete eine regelrechte Flut von Visionen in ihrem Kopf. Visionen von der Zukunft. Sie sah großes Leid bei vielen Menschen, auch bei sich selbst. Hoffnungslosigkeit. Krankheit. Armut. Doch sie sah auch, dass dieses Leid verhindert werden konnte. Heute. Jetzt. Dazu musste sie nicht einmal viel tun. Sophia schrie, »Du, junge Mann da hinten! Du Dir das dürfe nix gefalle lasse!«
Aufgeschreckt aus seinen Gedanken, versperrte der junge Mann augenblicklich mit einem Arm die Tür, sodass die Frau und der Mann hinter ihm, jetzt nicht mehr in den Raum gelangen konnten. Die Drei sahen sich überrascht an. Auch wenn es ihnen nicht bewusst war, so würde der nachfolgende Moment große Auswirkungen auf ihre weiteren Leben haben – und auf die Leben vieler anderer Menschen. Aus einer schier grenzenlosen Menge von Möglichkeiten würde gleich eine ausgewählt und bestimmt werden. In diesem scheinbar so völlig unbedeutenden Moment musste eine sehr bedachte Entscheidung getroffen werden. Von jedem Einzelnen von ihnen. Weil die Weitsicht eines jeden Menschen von Bedeutung ist. Weil jedes Leben mit anderen Leben verknüpft ist – und man sich der eigenen Verantwortung jederzeit bewusst sein sollte. Der junge Mann fasste sich schließlich ein Herz und kämpfte sich an den ungläubig nach oben schauenden Kindern zu Sophia vor. »Tschuldigung, aber nach meinem Verständnis von Anstand, Höflichkeit und Gerechtigkeit, sollte ich hier zuerst bedient werden.«
Sophia war überglücklich. Sie fing an, in die Hände zu klatschen. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, ihr Bruder stünde neben ihr und wünschte sich damals das getan zu haben, was Sophia gerade getan hatte. Und so war es tatsächlich.
»Bravissimo!«, kam es von Tomaso – und das war an Sophia und an Gaist gerichtet.
»Jaaaaa!«, freute sich auch Gaist Tutnix. Tschuldigung hatte der junge Mann gesagt. Dieses Wort hatte damals auch der kleine Junge genutzt, der sich zuletzt an Gaist vorbei in den Eissalon drängte. Und als sich Gaist das Gesicht des jungen Mannes genauer betrachtete, kam es ihm durchaus bekannt vor. Vom Fernsehen – und aus dem Eissalon von damals. Der junge Mann war einer der schlechtesten Moderatoren, die es gab. Von heute ab, da war sich Gaist sicher, wird der junge Mann einen besseren Job machen. Dieser Petrus ist ein ganz gerissener Hund …

Der Angestellte der Lebenszeitvergeuderüberwachungsbehörde und Petrus blickten in einen Spiegel. Darin beobachteten sie die Vorgänge im Eissalon. Gaist Tutnix war auf einem guten Weg. Es würde zwar noch etwas dauern aber der Angestellte und Petrus waren sich einig, Gaist werde schon in absehbarer Zeit die Pforte zum Himmel überschreiten. Es war also richtig gewesen ihn zurück auf die Erde zu schicken, fühlte der Apostel sich bestätigt. Gaist wusste nun, was er zu tun hatte – daran gab es keinen Zweifel – und er war nun auch in der Lage die vier restlichen Aufgaben zu lösen. Bei denen er auf die Hilfe von seinem Freund Tomaso zählen konnte. Wie Gaist, würde auch der von nun an versuchen, positiv auf die Menschen einzuwirken.
Tomaso hatte endlich erkannt, was wirklich zählte. Das freute den Angestellten sehr, denn er fühlte sich immer noch verantwortlich für den früheren Eisverkäufer. Immerhin hatte er ihm damals jenen Gerichtsbeschluss vorgelegt, aufgrund dessen Tomaso gestorben war.

Derweil wartete ein erfolgloser Wrestler in einer kleinen schmuddeligen Umkleidekabine auf seinen nächsten Auftritt. Wie immer hatte er auch heute kein gutes Gefühl vor dem Kampf. Gaist Tutnix und Tomaso überlegten, wie das geändert werden konnte …
 



 
Oben Unten