Gedanken eines Toten, nachdem er sich auf die Gleise warf (Sonett)

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Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich wollte nicht mehr, warf mich auf die Gleise,
der Zug, ein Aufprall, und ich lag verteilt
zwischen den Schwellen, wo mein Wehmut weilt.
Es wurde meine allerletzte Reise.

Zwei Passagiere folgten mir dann leise.
Sie stürzten nieder, waren eingekeilt
in Türen, nichts, was sie noch heilt,
so klingt jetzt auch für sie die letzte Weise.

Der Lokführer hat Notbremsung versucht.
Anstatt den Dingen ihren Lauf zu lassen!
und danach hat er mich auch noch verflucht!

Was mischt er sich auch ein, ich kann's nicht fassen!
Krank sitzt er da, kann keine Lok mehr führen.
Mich kann das alles gar nicht mehr berühren.
 
G

Gelöschtes Mitglied 16600

Gast
Guten Abend Bernd,

da hast du dich von Sartres " Les jeux sont faits" inspirieren lassen. Oder?

Das lyrische Ich ist tot, "lebt" in der realen Welt weiter und betrachtet diese.

Inhaltlich stört mich der Widerspruch, dass das lyrische Ich, als Toten, nichts mehr berührt (S4V3), obgleich es, in den Versen zuvor emotional reagierend, es nicht fassen kannst, dass…….

Sprachlich gefällt mir S2V3 nicht: "nichts, was sie noch heilt". Hier hätte ich unbedingt den Konjunktiv 2 erwartet. Aber schwer hinzubekommen, wenn der Reim passen soll.

Und die Dopplung von "auch" in den benachbarten Versen S3V4 und S4V1 finde ich etwas ungeschickt.

Ansonsten, die Idee zur Perspektive: Klasse!
lg manehans
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die Perspektive ist eher wie die neuen Leiden des jungen W.
Ob Plenzdorf es von Sartre hat, weiß ich nicht.
Die Geschichte selbst ist völlig anders.

Ich will das Gedicht auch noch verbessern. Danke für die Hinweise.
Ein Dilemma ist der Reim.
Den Rhythmus habe ich schon etwas komplexer gemacht, als es für das Sonett typisch ist.

"Mich kann das alles gar nicht mehr berühren!" ist aus der Perspektive des Selbstmörders eine Lüge und Schutzbehauptung.

Wie beim Vors-Zug-Springen macht er sich was vor ...
 

Herr H.

Mitglied
Hallo Bernd,

bemerkenswert und originell, das Drama des Suizids auf den Bahngleisen mal im Nachhinein aus der Sicht des Selbstmörders zu betrachten.
Kleine Anmerkungen: S1Z3 passt grammatisch und rhythmisch nicht.
Die Episode mit den anderen beiden Opfern leuchtet mir nicht ganz ein. Versuchten sie, dem Suizidanten, der sich aus dem Zug stürzte (?), nachzuspringen? Wieso folgten sie leise? Und leben sie noch? Sonst könnte ich mir das Tempus bei "heilt" nicht erklären.
Die Kritik am Lokführer mutet grotesk an; das ist wohl auch beabsichtigt. Gerade die beiden Dreizeiler des Sonetts empfinde ich in ihrer Absurdität als sehr gelungen.

LG von
Herrn H.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Sie sind Opfer des Unfalls, durch die Notbremsung ... im Gedicht. Sie folgten auf dem Weg ins Nirwana. Das habe ich vage gelassen, dachte aber, man erkenne das aus dem Kontext.

Die Kritik am Lokführer erfolgt aus Sicht des Selbstmörders. Es ist also tatsächlich eine total unberechtigte Kritik, die den verwirrten Zustand darstellt.

Es steht da: nichts (gibt es), was sie noch heilt, (Sie sind verdammt, auch wenn sie im Moment noch leben, der Unfall war da.)

Andere beim Selbstmord mitzunehmen, inkauf zu nehmen, kommt oft vor.
 

namibia

Mitglied
Lieber Bernd,

das gefällt mir richtig gut! Der Freitod als lässiger, gelangweilter Beobachter einer Verkettung von weiteren Todesunfällen und das Ganze noch als Sonnett verfasst.. Ich werde deine Worte sicher noch ein paar mal lesen..

best regards

Anna
 



 
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