Gedanken über "Unser höchstes Gut"

5,00 Stern(e) 1 Stimme

memo

Mitglied
Ich wollte eine Geschichte über eine Freundschaft schreiben. In Ihrer Zartheit sollte sie ganz wahr und gut sein und in ihrer Reinheit, hätte sie eine allgemeine Wahrhaftigkeit finden können. In meinem Gedanken und in meinem Herzen, war auch der Versuch eines Liebesgedichts, das aus meinem Innersten fließt.
Ich dachte über den individuellen Tod nach und über das Leben an sich, das uns geschenkt ist. Ich wollte die Möglichkeit ausschöpfen, aus dem konkreten Erleben des Einzelnen ein Kollektiv zu finden. Ein allgemeines Empfinden von Glück und Lust.
Ich glaube, ich hätte eine „Formel“ beschreiben können, eine die als größten Wert unseres Lebens, womöglich für die meisten Menschen „durchgehen“ würde. Aber all das befriedigte mich nicht. Es durchdrang mich nicht. Denn die Liebe ist für mich kein Wertmaß, sondern ein fundamentales Fühlen, das unser ganzes, intimstes Mensch sein bestimmt. Sie ist viel mehr als das, es ist das, was letztlich bleibt, wenn alles vergeht.

Da vieles, das wirklich von Bedeutung ist, uns auf Umwegen findet, bin ich – auf eine jüdische Philosophin gestoßen. Dies ist bemerkenswert, da sie mir völlig fremd war. Ich wurde nur auf sie aufmerksam, da ich über Aristoteles Ethik und dessen Auffassung von Glück, sensibilisiert wurde. Wenn man aber so tief in Gedanken im Nachsinnen danach ist, was uns Menschen wirklich berührt, uns das Wichtigste ist, gibt es letztlich nur zwei Möglichkeiten:
Man erfühlt sein ganz persönliches, eigenes Lust- und Lebensprinzip oder das individuelle Fühlen eines anderen, ganz konkreten Menschen. Die Allgemeinheit verliert darin plötzlich völlig an Bedeutung. Warum ist das so? Nichts ist, in diesem Zusammenhang (auch Gedanken sind glückspendend), belangloser als ein abstraktes Denken, das abgelöst von unserer sinnlichen Wahrnehmung, in einem leeren Raum über uns schwebt, vernünftig oder auch unvernünftig. Es hat nichts damit zu tun, was wir empfinden, in unserem existentiellen Ausgeliefert sein, wenn wir allein vor unserem Spiegelbild stehen, auf uns selbst zurück geworfen oder was wir fühlen, wenn wir einen geliebten Menschen innig umarmen.
Auch wenn Kants kategorischer Imperativ sich hier förmlich aufzwingt, denkt man nur ein kleines Stück über den Rand der uns eingebrannten Wertvorstellungen, eröffnet sich eine Welt, die nicht mehr davon spricht, so zu handeln, wie es einer allgemeinen Gesetzgebung entsprechen könnte.

Die Philosophin Simon Weil starb mit 34 Jahren. Sie verhungerte 1943. Aber nicht, weil sie so arm oder so krank war. Nein, sie verweigerte das Essen, da ihre Mitmenschen in Frankreich hungerten.
Sie teilte ihr Gehalt als Professorin mit Menschen die Not litten. Sie provozierte im Philosophieunterricht mit Worten wie “Die Ehe ist eine vom Gesetz gebilligte Prostitution.“ Sie arbeitete freiwillig in einer Fabrik und scheiterte an ihrer körperlichen Schwäche, da sie die Akkordzahlen nicht erreichen konnte, setzte sich Anfeindungen aus – auch unter den Arbeiterinnen. Sie kämpfte in Spanien mit Waffen, obwohl sie Pazifistin war und verletzte sich schwer, da sie in einen großen Topf mit heißem Öl trat. Sie musste aufgeben. Sie war sich bewusst, dass sie als zarte, physisch eher ungeschickte Person, nicht die größte Hilfe darstellte. Wenig später starben alle, an deren Seite sie war. Sie kritisierte das Judentum – als Jüdin. Sie litt mit den getretenen Arbeitern und schenkte dem Sterben in den Konzentrationslagern wenig Achtsamkeit.
Sie gestand, sie könne sogar in einer Gemeinschaft, durch die Macht der Einheit, nationalsozialistische Lieder singen. Obwohl sie, gerade vor dieser Gesinnung, Angst haben musste. Sie warf alle Werte durcheinander, im Ziel, den Menschen den Hunger und das Leid zu nehmen – bis zur völligen Selbstaufgabe.
Simon Weil war ein Widerspruch in sich, aus wohlhabendem Haus. Ohne Religion, frei erzogen – aber mit großen Wert auf Sauberkeit und Bildung. Im Schatten ihres Bruders, der als Mathematikgenie galt, spürte sie schon als 14 jähriges Mädchen die Sehnsucht, in diese abstrakte, analytische Welt eintauchen zu können, in der Suche nach Wahrheit, sah sie aber für sich selbst verschlossen. Sie war Jahrgangsbeste und erhielt für ihre eigenwillige Abschlussarbeit über Descartes gerade noch ein "genügend".
„Ich bin nicht von der Art, dass es gut wäre, sein Schicksal mit mir zu verknüpfen.“, sagte Simon Weil über sich selbst.

Simone de Beauvoir, die zusammen mit Simone Weil an der École Normale studierte, berichtet in ihren "Memoiren einer Tochter aus gutem Hause", von dem einzigen Gespräch, das sie miteinander führten: "Simone behauptete mit einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ, dass heutzutage eine einzige Sache Not tue: die Revolution, die allen Menschen zu essen verschaffe. Ich erwiderte in demselben kategorischen Ton, dass das Problem nicht darin bestehe, die Menschen glücklich zu machen, sondern den Sinn ihrer Existenz zu ergründen. Sie sah mich von oben bis unten an und sagte: 'Da kann man sehen, dass Sie nie Hunger gelitten haben'."

Weils Sehnen war nicht das gute Leben. Ihr Glück war das Unglück. Ihre Existenz war das Handeln und das Leiden. Warum habe ich diese Frau herausgehoben aus der Vergessenheit – als Beispiel einer Realität?
Es gebe so viele, die uns vielleicht näher wären und die wir für wertschätzend halten könnten, die ein gutes, geglücktes Leben führten.

Sie lässt uns als Philosophin auf ihre Weise das Dasein hinterfragen, da sie vieles, das wir als Unumstritten halten, neu bewertet – in ihrem letztlich aussichtlosen, selbst zerstörerischen Kampf.
Was ist richtig – was gut? Welche Dogmen erhalten wir als heilig, welche zerschlagen wir?

Welche „Glut der Liebe“ lässt uns eine Wahrheit finden, wie ein Liebesgedicht, das im Fühlen, jeden Widerspruch erstickt? Niemand kann uns unseren Schmerz, unser Leid wegdiskutieren, oder unser individuelles Glück, die unbändige Freude zu sein!

Weil schreibt: „Man scheut sich, etwas Gedrucktes zu lesen, wenn man einmal der Unmenge und Ungeheuerlichkeit des sachlich Falschen innegeworden ist, das sich, selbst in den Büchern der angesehensten Verfasser allenthalber schamlos darbietet. Man liest dann, als tränke man aus einem trüben Brunnen.“
In ihrem Mut selbst zu denken, ist sie unbeugsam in ihrer Suche nach Gerechtigkeit, schonungslos ehrlich in ihrer Selbsterkenntnis, radikal in ihrem Mitgefühl mit den Leidenden, aufmerksam für Gott. Von einem Gott, von dem sie selbst sagt, sie hätte ihn nie gesucht.
Weil taugt nicht als Idol, sie ist vielmehr ein Mensch, eine Frau, die unser eigenes Denken grundlegend durchkreuzt, uns ratlos zurück lässt.

Es hilft uns nichts - welche Ideologie, welche Religion auch immer, uns eine vorgefertigte Hoffnung vorgaukeln – schon lange nicht mehr. Nicht erst seit dem Existentialismus sind wir ins Nichts geworfen, müssen/dürfen wir uns selbst immer wieder, Tag für Tag neu entwerfen.

Und der Wahrheit, die uns eine Philosophin wie Simone Weil, gerade in ihrer Widersprüchlichkeit, zeigt - bei allem, dem wir zustimmen, oder auch nicht nachvollziehbar können – dieser Wahrheit wagen wir nichts entgegen zu halten – ihrem Herzen, das für alles bereit war.
Gibt es ein stärkeres Argument, als ihren eigenen Tod?

Simone de Beauvoir erinnerte sich an eine Begegnung in der Studienzeit:
„Eine große Hungersnot hatte China heimgesucht, und man hatte mir erzählt, daß sie bei Bekanntgabe dieser Nachricht in Schluchzen ausgebrochen sei: Diese Tränen zwangen mir noch mehr Achtung für sie ab als ihre Begabung in Philosophie. Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen.“
 

memo

Mitglied
Ich wollte eine Geschichte über eine Freundschaft schreiben. In Ihrer Zartheit sollte sie ganz wahr und gut sein und in ihrer Reinheit, hätte sie eine allgemeine Wahrhaftigkeit finden können. In meinem Gedanken und in meinem Herzen, war auch der Versuch eines Liebesgedichts, das aus meinem Innersten fließt.
Ich dachte über den individuellen Tod nach und über das Leben an sich, das uns geschenkt ist. Ich wollte die Möglichkeit ausschöpfen, aus dem konkreten Erleben des Einzelnen ein Kollektiv zu finden. Ein allgemeines Empfinden von Glück und Lust.
Ich glaube, ich hätte eine „Formel“ beschreiben können, eine die als größten Wert unseres Lebens, womöglich für die meisten Menschen „durchgehen“ würde. Aber all das befriedigte mich nicht. Es durchdrang mich nicht. Denn die Liebe ist für mich kein Wertmaß, sondern ein fundamentales Fühlen, das unser ganzes, intimstes Mensch sein bestimmt. Sie ist viel mehr als das, es ist das, was letztlich bleibt, wenn alles vergeht.

Da vieles, das wirklich von Bedeutung ist, uns auf Umwegen findet, bin ich – auf eine jüdische Philosophin gestoßen. Dies ist bemerkenswert, da sie mir völlig fremd war. Ich wurde nur auf sie aufmerksam, da ich über Aristoteles Ethik und dessen Auffassung von Glück, sensibilisiert wurde. Wenn man aber so tief in Gedanken im Nachsinnen danach ist, was uns Menschen wirklich berührt, uns das Wichtigste ist, gibt es letztlich nur zwei Möglichkeiten:

Man erfühlt sein ganz persönliches, eigenes Lust- und Lebensprinzip oder das individuelle Fühlen eines anderen, ganz konkreten Menschen. Die Allgemeinheit verliert darin plötzlich völlig an Bedeutung. Warum ist das so? Nichts ist, in diesem Zusammenhang (auch Gedanken sind glückspendend), belangloser als ein abstraktes Denken, das abgelöst von unserer sinnlichen Wahrnehmung, in einem leeren Raum über uns schwebt, vernünftig oder auch unvernünftig. Es hat nichts damit zu tun, was wir empfinden, in unserem existentiellen Ausgeliefert sein, wenn wir allein vor unserem Spiegelbild stehen, auf uns selbst zurück geworfen oder was wir fühlen, wenn wir einen geliebten Menschen innig umarmen.

Auch wenn Kants kategorischer Imperativ sich hier förmlich aufzwingt, denkt man nur ein kleines Stück über den Rand der uns eingebrannten Wertvorstellungen, eröffnet sich eine Welt, die nicht mehr davon spricht, so zu handeln, wie es einer allgemeinen Gesetzgebung entsprechen könnte.

Die Philosophin Simone Weil starb mit 34 Jahren. Sie verhungerte 1943. Aber nicht, weil sie so arm oder so krank war. Nein, sie verweigerte das Essen, da ihre Mitmenschen in Frankreich hungerten.
Sie teilte ihr Gehalt als Professorin mit Menschen die Not litten. Sie provozierte im Philosophieunterricht mit Worten wie “Die Ehe ist eine vom Gesetz gebilligte Prostitution.“ Sie arbeitete freiwillig in einer Fabrik und scheiterte an ihrer körperlichen Schwäche, da sie die Akkordzahlen nicht erreichen konnte, setzte sich Anfeindungen aus – auch unter den Arbeiterinnen. Sie kämpfte in Spanien mit Waffen, obwohl sie Pazifistin war und verletzte sich schwer, da sie in einen großen Topf mit heißem Öl trat. Sie musste aufgeben. Sie war sich bewusst, dass sie als zarte, physisch eher ungeschickte Person, nicht die größte Hilfe darstellte. Wenig später starben alle, an deren Seite sie war. Sie kritisierte das Judentum – als Jüdin. Sie litt mit den getretenen Arbeitern und schenkte dem Sterben in den Konzentrationslagern wenig Achtsamkeit.
Sie gestand, sie könne sogar in einer Gemeinschaft, durch die Macht der Einheit, nationalsozialistische Lieder singen. Obwohl sie, gerade vor dieser Gesinnung, Angst haben musste. Sie warf alle Werte durcheinander, im Ziel, den Menschen den Hunger und das Leid zu nehmen – bis zur völligen Selbstaufgabe.
Simon Weil war ein Widerspruch in sich, aus wohlhabendem Haus. Ohne Religion, frei erzogen – aber mit großen Wert auf Sauberkeit und Bildung. Im Schatten ihres Bruders, der als Mathematikgenie galt, spürte sie schon als 14 jähriges Mädchen die Sehnsucht, in diese abstrakte, analytische Welt eintauchen zu können, in der Suche nach Wahrheit, sah sie aber für sich selbst verschlossen. Sie war Jahrgangsbeste und erhielt für ihre eigenwillige Abschlussarbeit über Descartes gerade noch ein "genügend".
„Ich bin nicht von der Art, dass es gut wäre, sein Schicksal mit mir zu verknüpfen.“, sagte Simon Weil über sich selbst.

Simone de Beauvoir, die zusammen mit Simone Weil an der École Normale studierte, berichtet in ihren "Memoiren einer Tochter aus gutem Hause", von dem einzigen Gespräch, das sie miteinander führten: "Simone behauptete mit einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ, dass heutzutage eine einzige Sache Not tue: die Revolution, die allen Menschen zu essen verschaffe. Ich erwiderte in demselben kategorischen Ton, dass das Problem nicht darin bestehe, die Menschen glücklich zu machen, sondern den Sinn ihrer Existenz zu ergründen. Sie sah mich von oben bis unten an und sagte: 'Da kann man sehen, dass Sie nie Hunger gelitten haben'."

Weils Sehnen war nicht das gute Leben. Ihr Glück war das Unglück. Ihre Existenz war das Handeln und das Leiden. Warum habe ich diese Frau herausgehoben aus der Vergessenheit – als Beispiel einer Realität?
Es gebe so viele, die uns vielleicht näher wären und die wir für wertschätzend halten könnten, die ein gutes, geglücktes Leben führten.

Sie lässt uns als Philosophin auf ihre Weise das Dasein hinterfragen, da sie vieles, das wir als Unumstritten halten, neu bewertet – in ihrem letztlich aussichtlosen, selbst zerstörerischen Kampf.
Was ist richtig – was gut? Welche Dogmen erhalten wir als heilig, welche zerschlagen wir?

Welche „Glut der Liebe“ lässt uns eine Wahrheit finden, wie ein Liebesgedicht, das im Fühlen, jeden Widerspruch erstickt? Niemand kann uns unseren Schmerz, unser Leid wegdiskutieren, oder unser individuelles Glück, die unbändige Freude zu sein!

Weil schreibt: „Man scheut sich, etwas Gedrucktes zu lesen, wenn man einmal der Unmenge und Ungeheuerlichkeit des sachlich Falschen innegeworden ist, das sich, selbst in den Büchern der angesehensten Verfasser allenthalber schamlos darbietet. Man liest dann, als tränke man aus einem trüben Brunnen.“
In ihrem Mut selbst zu denken, ist sie unbeugsam in ihrer Suche nach Gerechtigkeit, schonungslos ehrlich in ihrer Selbsterkenntnis, radikal in ihrem Mitgefühl mit den Leidenden, aufmerksam für Gott. Von einem Gott, von dem sie selbst sagt, sie hätte ihn nie gesucht.
Weil taugt nicht als Idol, sie ist vielmehr ein Mensch, eine Frau, die unser eigenes Denken grundlegend durchkreuzt, uns ratlos zurück lässt.

Es hilft uns nichts - welche Ideologie, welche Religion auch immer, uns eine vorgefertigte Hoffnung vorgaukeln – schon lange nicht mehr. Nicht erst seit dem Existentialismus sind wir ins Nichts geworfen, müssen/dürfen wir uns selbst immer wieder, Tag für Tag neu entwerfen.

Und der Wahrheit, die uns eine Philosophin wie Simone Weil, gerade in ihrer Widersprüchlichkeit, zeigt - bei allem, dem wir zustimmen, oder auch nicht nachvollziehbar können – dieser Wahrheit wagen wir nichts entgegen zu halten – ihrem Herzen, das für alles bereit war.
Gibt es ein stärkeres Argument, als ihren eigenen Tod?

Simone de Beauvoir erinnerte sich an eine Begegnung in der Studienzeit:
„Eine große Hungersnot hatte China heimgesucht, und man hatte mir erzählt, daß sie bei Bekanntgabe dieser Nachricht in Schluchzen ausgebrochen sei: Diese Tränen zwangen mir noch mehr Achtung für sie ab als ihre Begabung in Philosophie. Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen.“
 

Haremsdame

Mitglied
Liebe Memo,

leicht fiel es mir nicht, Deinen Text ganz zu lesen. Aber ich war neugierig auf Deine Philosiphie.

Sätze wie:

Aber all das befriedigte mich nicht. Es durchdrang mich nicht. Denn die Liebe ist für mich kein Wertmaß, sondern ein fundamentales Fühlen, das unser ganzes, intimstes Mensch sein bestimmt. Sie ist viel mehr als das, es ist das, was letztlich bleibt, wenn alles vergeht.
Da vieles, das wirklich von Bedeutung ist, uns auf Umwegen findet
hielten mich gleich zu Beginn bei der Stange und führten mich weiter in Deine Abhandlung.

Nun überlege ich, ob es nicht sinnvoll für mich wäre, mir auch mal Simone Weils Leben näher zu betrachten. (Übrigens hast Du sie einmal "Simon" genannt, was mich beim ersten Überfliegen total verwirrte.)

Deine Überlegungen zu ihrem Leben, die zu folgender Einsicht führt:
Welche „Glut der Liebe“ lässt uns eine Wahrheit finden, wie ein Liebesgedicht, das im Fühlen, jeden Widerspruch erstickt? Niemand kann uns unseren Schmerz, unser Leid wegdiskutieren, oder unser individuelles Glück, die unbändige Freude zu sein!
hat mich sehr beeindruckt.

Um diesen Kommentar zu schreiben, war es nötig, Deine Zeilen intensiver zu lesen. Ich bin froh, dass ich mich dazu aufraffte, denn sie haben eine unwahrscheinliche Tiefe.

Vielen Dank dafür!
sagt die Haremsdame
 

memo

Mitglied
Ich wollte eine Geschichte über eine Freundschaft schreiben. In Ihrer Zartheit sollte sie ganz wahr und gut sein und in ihrer Reinheit, hätte sie eine allgemeine Wahrhaftigkeit finden können. In meinem Gedanken und in meinem Herzen, war auch der Versuch eines Liebesgedichts, das aus meinem Innersten fließt.
Ich dachte über den individuellen Tod nach und über das Leben an sich, das uns geschenkt ist. Ich wollte die Möglichkeit ausschöpfen, aus dem konkreten Erleben des Einzelnen ein Kollektiv zu finden. Ein allgemeines Empfinden von Glück und Lust.
Ich glaube, ich hätte eine „Formel“ beschreiben können, eine die als größten Wert unseres Lebens, womöglich für die meisten Menschen „durchgehen“ würde. Aber all das befriedigte mich nicht. Es durchdrang mich nicht. Denn die Liebe ist für mich kein Wertmaß, sondern ein fundamentales Fühlen, das unser ganzes, intimstes Mensch sein bestimmt. Sie ist viel mehr als das, es ist das, was letztlich bleibt, wenn alles vergeht.

Da vieles, das wirklich von Bedeutung ist, uns auf Umwegen findet, bin ich – auf eine jüdische Philosophin gestoßen. Dies ist bemerkenswert, da sie mir völlig fremd war. Ich wurde nur auf sie aufmerksam, da ich über Aristoteles Ethik und dessen Auffassung von Glück, sensibilisiert wurde. Wenn man aber so tief in Gedanken im Nachsinnen danach ist, was uns Menschen wirklich berührt, uns das Wichtigste ist, gibt es letztlich nur zwei Möglichkeiten:

Man erfühlt sein ganz persönliches, eigenes Lust- und Lebensprinzip oder das individuelle Fühlen eines anderen, ganz konkreten Menschen. Die Allgemeinheit verliert darin plötzlich völlig an Bedeutung. Warum ist das so? Nichts ist, in diesem Zusammenhang (auch Gedanken sind glückspendend), belangloser als ein abstraktes Denken, das abgelöst von unserer sinnlichen Wahrnehmung, in einem leeren Raum über uns schwebt, vernünftig oder auch unvernünftig. Es hat nichts damit zu tun, was wir empfinden, in unserem existentiellen Ausgeliefert sein, wenn wir allein vor unserem Spiegelbild stehen, auf uns selbst zurück geworfen oder was wir fühlen, wenn wir einen geliebten Menschen innig umarmen.

Auch wenn Kants kategorischer Imperativ sich hier förmlich aufzwingt, denkt man nur ein kleines Stück über den Rand der uns eingebrannten Wertvorstellungen, eröffnet sich eine Welt, die nicht mehr davon spricht, so zu handeln, wie es einer allgemeinen Gesetzgebung entsprechen könnte.

Die Philosophin Simone Weil starb mit 34 Jahren. Sie verhungerte 1943. Aber nicht, weil sie so arm oder so krank war. Nein, sie verweigerte das Essen, da ihre Mitmenschen in Frankreich hungerten.
Sie teilte ihr Gehalt als Professorin mit Menschen die Not litten. Sie provozierte im Philosophieunterricht mit Worten wie “Die Ehe ist eine vom Gesetz gebilligte Prostitution.“ Sie arbeitete freiwillig in einer Fabrik und scheiterte an ihrer körperlichen Schwäche, da sie die Akkordzahlen nicht erreichen konnte, setzte sich Anfeindungen aus – auch unter den Arbeiterinnen. Sie kämpfte in Spanien mit Waffen, obwohl sie Pazifistin war und verletzte sich schwer, da sie in einen großen Topf mit heißem Öl trat. Sie musste aufgeben. Sie war sich bewusst, dass sie als zarte, physisch eher ungeschickte Person, nicht die größte Hilfe darstellte. Wenig später starben alle, an deren Seite sie war. Sie kritisierte das Judentum – als Jüdin. Sie litt mit den getretenen Arbeitern und schenkte dem Sterben in den Konzentrationslagern wenig Achtsamkeit.
Sie gestand, sie könne sogar in einer Gemeinschaft, durch die Macht der Einheit, nationalsozialistische Lieder singen. Obwohl sie, gerade vor dieser Gesinnung, Angst haben musste. Sie warf alle Werte durcheinander, im Ziel, den Menschen den Hunger und das Leid zu nehmen – bis zur völligen Selbstaufgabe.
Simone Weil war ein Widerspruch in sich, aus wohlhabendem Haus. Ohne Religion, frei erzogen – aber mit großen Wert auf Sauberkeit und Bildung. Im Schatten ihres Bruders, der als Mathematikgenie galt, spürte sie schon als 14 jähriges Mädchen die Sehnsucht, in diese abstrakte, analytische Welt eintauchen zu können, in der Suche nach Wahrheit, sah sie aber für sich selbst verschlossen. Sie war Jahrgangsbeste und erhielt für ihre eigenwillige Abschlussarbeit über Descartes gerade noch ein "genügend".
„Ich bin nicht von der Art, dass es gut wäre, sein Schicksal mit mir zu verknüpfen.“, sagte Simon Weil über sich selbst.

Simone de Beauvoir, die zusammen mit Simone Weil an der École Normale studierte, berichtet in ihren "Memoiren einer Tochter aus gutem Hause", von dem einzigen Gespräch, das sie miteinander führten: "Simone behauptete mit einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ, dass heutzutage eine einzige Sache Not tue: die Revolution, die allen Menschen zu essen verschaffe. Ich erwiderte in demselben kategorischen Ton, dass das Problem nicht darin bestehe, die Menschen glücklich zu machen, sondern den Sinn ihrer Existenz zu ergründen. Sie sah mich von oben bis unten an und sagte: 'Da kann man sehen, dass Sie nie Hunger gelitten haben'."

Weils Sehnen war nicht das gute Leben. Ihr Glück war das Unglück. Ihre Existenz war das Handeln und das Leiden. Warum habe ich diese Frau herausgehoben aus der Vergessenheit – als Beispiel einer Realität?
Es gebe so viele, die uns vielleicht näher wären und die wir für wertschätzend halten könnten, die ein gutes, geglücktes Leben führten.

Sie lässt uns als Philosophin auf ihre Weise das Dasein hinterfragen, da sie vieles, das wir als Unumstritten halten, neu bewertet – in ihrem letztlich aussichtlosen, selbst zerstörerischen Kampf.
Was ist richtig – was gut? Welche Dogmen erhalten wir als heilig, welche zerschlagen wir?

Welche „Glut der Liebe“ lässt uns eine Wahrheit finden, wie ein Liebesgedicht, das im Fühlen, jeden Widerspruch erstickt? Niemand kann uns unseren Schmerz, unser Leid wegdiskutieren, oder unser individuelles Glück, die unbändige Freude zu sein!

Weil schreibt: „Man scheut sich, etwas Gedrucktes zu lesen, wenn man einmal der Unmenge und Ungeheuerlichkeit des sachlich Falschen innegeworden ist, das sich, selbst in den Büchern der angesehensten Verfasser allenthalber schamlos darbietet. Man liest dann, als tränke man aus einem trüben Brunnen.“
In ihrem Mut selbst zu denken, ist sie unbeugsam in ihrer Suche nach Gerechtigkeit, schonungslos ehrlich in ihrer Selbsterkenntnis, radikal in ihrem Mitgefühl mit den Leidenden, aufmerksam für Gott. Von einem Gott, von dem sie selbst sagt, sie hätte ihn nie gesucht.
Weil taugt nicht als Idol, sie ist vielmehr ein Mensch, eine Frau, die unser eigenes Denken grundlegend durchkreuzt, uns ratlos zurück lässt.

Es hilft uns nichts - welche Ideologie, welche Religion auch immer, uns eine vorgefertigte Hoffnung vorgaukeln – schon lange nicht mehr. Nicht erst seit dem Existentialismus sind wir ins Nichts geworfen, müssen/dürfen wir uns selbst immer wieder, Tag für Tag neu entwerfen.

Und der Wahrheit, die uns eine Philosophin wie Simone Weil, gerade in ihrer Widersprüchlichkeit, zeigt - bei allem, dem wir zustimmen, oder auch nicht nachvollziehbar können – dieser Wahrheit wagen wir nichts entgegen zu halten – ihrem Herzen, das für alles bereit war.
Gibt es ein stärkeres Argument, als ihren eigenen Tod?

Simone de Beauvoir erinnerte sich an eine Begegnung in der Studienzeit:
„Eine große Hungersnot hatte China heimgesucht, und man hatte mir erzählt, daß sie bei Bekanntgabe dieser Nachricht in Schluchzen ausgebrochen sei: Diese Tränen zwangen mir noch mehr Achtung für sie ab als ihre Begabung in Philosophie. Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen.“
 

memo

Mitglied
Liebe Haremsdame -
hab vielen, vielen DANK fürs Lesen - ich weiß, der Text ist lang und nicht ganz "einfach".
Darum schätze ich das sehr!
Philosophinnen, eine Frau wie Simone Weil, sind es wirklich wert, sich über sie Gedanken zu machen und sie, da sie nicht sehr bekannt ist, aus der Vergessenheit in die Gegenwart zu holen.
Einen schönen Sonntag -
memo
 



 
Oben Unten