Gefahr im Verzug

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Gefahr im Verzug
Oktober 1996. Ich kam in Leipzig an. Mein Fleiß wurde belohnt. Ich hatte 2 Semester an der Leipziger Universität vor mir. Ab sofort war vieles neu. Ich kam aus ziemlich unstabilen Verhältnissen. In meiner Heimat herrschte ein wirtschaftliches Chaos. Die Inflation wütete. Ein Geldersatz war im Umlauf. Die Coupons wurden fleißig gedruckt. Tag und Nacht. Die Druckerei hatte viel zu tun. Mein monatliches Gehalt betrug damals 10.000.000 Coupons. Das waren umgerechnet etwa 85 DM. Die Portemonnaies waren mit viel Papier vollgestopft. Die Scheine waren viel zu groß, passten nur gefaltet in die standardisierten Geldbörsen und machten sie unpraktisch dick. Ein Bekannter kürzte die Scheine mit der Schere, damit sie in sein Portemonnaie passten. Er durfte schnell erfahren, dass das buntbedruckte Papier doch nicht so ganz wertlos war.

Über Nacht sah die Welt für mich ganz anders aus. „Ein Gelddepot unter der Matratze“ war gestern. Ich musste neue Erfahrungen mit Banken und Geldautomaten machen. Die netten Kollegen an der Uni unterstützten mich mit allen möglichen Informationen, die mir bei der Erschließung des kapitalistischen Neulands weiter helfen konnten. Sie warnten mich vorsorglich davor, dass es in Leipzig, wie eigentlich auch in allen Großstädten auf der ganzen Welt, leider viel Taschendiebe gab. Man musste wachsam bleiben, nicht mehr als unbedingt notwendig Geld mit sich führen und schön auf die Handtasche aufpassen. Das Übliche halt.

Eines sonnigen Tages im Mai 1997 musste ich leider Gottes feststellen, dass meine Geldbörse fehlte. „Es ging lange gut. Jetzt passierte das auch mir“, dachte ich und versuchte, mich selbst zu beruhigen, „Nicht in Panik geraten“. Ich kehrte in den Hörsaal zurück, wo ich zum Schluss etwas aus der Handtasche herausholen musste. Meine Überlegung war: „Vielleicht bemerkte ich es einfach nicht, wie die Geldbörse aus der Tasche herausfiel?“ Leider war das nicht der Fall.

Ich handelte. Bargeld hatte ich kaum dabei. Das war schon mal gut. Es ging also nur um Papiere. Ich eilte zur Bank und ließ die Bankkarte sperren. Danach war ich bei der Krankenkasse und ließ die Versicherungskarte annullieren. Nachdem ich einen Studentenausweisersatz in der Uni bekam, atmete ich auf: „Gut, dass alle Institutionen in der Stadtmitte dicht bei einander lagen“. Mit dem Gefühl der erfüllten Pflicht machte ich mich auf den Weg in Richtung des Studentenwohnheimes.

Eine halbe Stunde später betrat ich mein Zimmer. An der Garderobe hing auffallend und mich quasi grüßend eine andere Handtasche. Schleichend kamen Zweifel an der Richtigkeit meiner Handlungen. Die Vermutung bestätigte sich schnell genug. Die Geldbörse ruhte friedlich und unangetastet mit dem ganzen als gestohlen gemeldeten Inhalt in dieser Tasche und lachte mich freundlichst an, als ich in die Tasche hineinblickte
 
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John Wein

Mitglied
Wem wäre es nicht einmal ähnlich ergangen?! Panik ist ein schlechter Ratgeber, sie verhindert die vernünftige, durchdachte Analyse.
LG, John
 



 
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